Audacia
»Sie kommen!«
Die Äbtissin hatte an einem Fenster des Dormitoriums Ausschau gehalten. Jetzt blickte sie ärgerlich hinunter in den verschneiten Apfelgarten, wo der Slawe Bogdan wieder einmal auf einen Baum gestiegen war, damit er über die Klostermauer sehen konnte. Wie oft hatte sie es ihm verboten! Aber dieser Schelm, den sie einst halb verhungert und mit gebrochenen Gliedern vor den Klostertoren gefunden und aus Mitleid bei sich aufgenommen hatten, hatte seinen eigenen Kopf. Zwar verrichtete er willig die ihm aufgetragenen Arbeiten, kniete auch bei Laudes und Vesper hinten in der Kirche mit fromm gefalteten Händen, aber wenn sie von ihm verlangte, er solle sich bekreuzigen oder die Fastenzeit einhalten, dann tat er, als könne er sie nicht verstehen. Dabei verstand er die deutsche Sprache sehr gut.
Erst jetzt bemerkte sie, was den Slawen zu seinem Ausruf veranlasst hatte: In der Ferne kreisten mehrere Raben über den winterkahlen Baumwipfeln, vermutlich hatte sie etwas aufgeschreckt. Wenn es die Erwarteten waren, würde es wohl noch eine Weile dauern, bis sie vor den Klostertoren standen, denn das Kloster lag inmitten dichter Wälder, und der Weg war auch ohne den tiefen Schnee beschwerlich. »Komm sofort vom Baum herunter, Bogdan!«, rief die Äbtissin und schloss den mit Tierhaut bespannten Fensterflügel, denn es hatte wieder in dünnen, eisigen Flöckchen zu schneien begonnen. Der Winter war eine Prüfung Gottes für alles, was hierzulande lebte. Auch die Bauern in den Dörfern litten unter der bitteren Kälte, die die Strohsäcke, auf denen sie schliefen, am Boden festfrieren ließ. Im Kloster war der Teich mit einer dicken Eisschicht bedeckt, sodass man sich um die Karpfen sorgte, die Gänse hatten im Ziegenstall Zuflucht gesucht. Drei Klosterfrauen waren ins Siechenhaus gebracht worden, wo sie sich am Ofen wärmten und Pflege und Krankenkost erhielten. Zwei von ihnen waren schon alt, eine aber war noch fast ein Kind, die Tochter einer adeligen Familie, die erst im Mai vergangenen Jahres als Novizin eingetreten war. Sie war ein ernstes, kluges Mädchen – die Äbtissin besuchte sie täglich und betete für ihre Genesung.
Sie nahm die Laterne und wandte sich zur Treppe, warf aber vorher noch einen Blick in den dämmrigen Raum, in dem die Nachtlager der Schwestern aufgereiht waren. Die Äbtissin hielt nichts davon, ihre Frauen bei dieser Kälte auf dem blanken Steinboden schlafen zu lassen – es konnte nicht Gottes Wille sein, dass sie alle am Fieber und kranker Lunge sterben mussten. Die Nonnen im Kloster Waldsee schliefen auf Stroh oder sogar auf Ziegenfellen, und in besonders kalten Nächten durften sie mehrere Kupferschalen mit glühenden Kohlen aufstellen. Diese Maßnahme gefiel nicht allen, es gab besonders unter den jüngeren Klosterfrauen solche, die begierig waren, um Christi willen und in der Hoffnung auf die ewige Seligkeit so viele und harte Leiden wie möglich auf sich zu nehmen. Die Äbtissin schätzte solch übertriebene Frömmigkeit wenig, sie liebte es auch nicht, wenn die Nonnen sich mit Ketten und Eisenklammern unter den Gewändern kasteiten oder bis zur Bewusstlosigkeit fasteten, um ihrer Sünden ledig zu werden. Um die fast vierzig Frauen im Kloster ernähren und kleiden zu können, war viel Arbeit nötig, und dazu brauchten sie einen gesunden, kräftigen Leib. Daher bestand sie darauf, dass nicht anders als nach den Regeln des heiligen Benedikt gefastet wurde – von September bis Ostern kein Fleisch und nur eine Mahlzeit am Tag.
Unten im Refektorium war ein weiterer Ofen angeheizt, um den sich mehrere ältere Klosterfrauen scharten, die mit Flickarbeiten beschäftigt waren oder Wolle spannen. Sie hatten Talglichter aufgestellt, die heftig rauchten – Kerzen waren dem Altar vorbehalten, für die tägliche Arbeit waren sie zu teuer. Alle grüßten die Äbtissin demütig, wie es üblich war, zwei standen auf und küssten ihr die Hände. Sie liebte diese Geste nicht, zumal die Frauen gut doppelt so alt waren wie sie selbst. Erst Anfang des vergangenen Jahres, als die ehrwürdige Mutter Afranasia in Gottes Reich eingegangen war, war sie von den Klosternonnen mit großer Mehrheit zur neuen Äbtissin gewählt und auch vom Bruderkloster bestätigt worden. Sie hatte die Last dieses Amts auf sich genommen, obwohl sie damals gefürchtet hatte, das Vertrauen der Mitschwestern nicht erfüllen zu können. Sie war gerade erst vierzig Jahre alt und für eine solche Aufgabe viel zu jung. Aber Gott hatte ihr Kraft gegeben und sie dazu mit einem wachen Geist beschenkt, sodass ihr das Amt nicht zur schweren Bürde, sondern vielmehr zu einer Freude geworden war.
Nun schickte sie eine der Schwestern hinüber in die Küche, um die Besucher anzukündigen. Auch wenn die Nonnen selbst nur einmal am Tag, nach der Vesper, eine Mahlzeit zu sich nahmen, musste man die Begleitung der jungen Adeligen, die heute ins Kloster eintreten würde, mit Nahrung und einem heißen Trank bewirten. Vermutlich wäre ihr Bruder Nikolaus mit einigen seiner Ritter an ihrer Seite, vielleicht auch nur der Burgsasse oder ein anderer Hofbeamter. Man würde den Rittern ein Nachtlager bereiten müssen, das gebot die Gastfreundschaft und auch die Liebe Christi, denn sie konnten bei diesem Schneetreiben auf keinen Fall heute noch zurückreiten.
Die junge Adelige trug den Namen Regula. Sie war die Jüngste der gräflichen Kinder und der Augenstern ihres Vaters, des Grafen Gunzelin, der sie zur Heirat mit einem Herrn von Rostock bestimmt hatte. Der Beichtvater des Klosters, der Zugang zum Hof in Schwerin hatte, hatte erzählt, dass sich Regula den Zorn ihrer Eltern zugezogen hatte, als sie sich der Ehe verweigerte. Sie wollte als Christi Braut in ein Kloster eintreten und ihr Leben Gott weihen. Als der Vater sie zur Heirat zwingen wollte, hatte sich das Mädchen durch Nahrungsentzug an den Rand des Todes gebracht. Da hatte der alte Graf endlich den inständigen Bitten des Beichtvaters und seines Sohnes Nikolaus nachgegeben und seiner widerspenstigen Tochter den Eintritt in das Kloster Waldsee gestattet. Sehr unwillig hatte er das getan, denn wenn er Regula schon nicht verheiraten konnte, so hätte er sein Lieblingskind gern an seinem Hof behalten.
So oder ähnlich waren die Gerüchte um die junge Frau, die sich in diesem Moment mit ihrer Begleitung den Klostertoren näherte. Sonderlich ungewöhnlich war das nicht, solche Dinge kamen alle Tage vor, wenn auch nicht unbedingt in einem gräflichen Haus. Viele Menschen, vor allem viele Frauen, wollten ein gottgefälliges Leben führen, was in der Ehe nicht möglich war, denn eine Ehe schloss die Sünde mit ein. Die Klöster wussten kaum noch, wo sie die vielen Neuzugänge unterbringen sollten; es gab zahlreiche Neugründungen, aber auch klösterliche Gemeinschaften, die keinem Orden unterstanden und nach eigenen – wie es hieß, oft zweifelhaften – Regeln lebten. Auch hier im Kloster Waldsee wurde es langsam zu eng, und wäre diese junge Frau nicht eine Adelige gewesen, die dem Kloster mehrere Dörfer und Ländereien einbrachte – die Äbtissin hätte sie wohl abgewiesen und nach Dobbertin geschickt.
Auf ihr Handzeichen eilte eine der fleißigen Spinnerinnen nach draußen, um die Glocke zu läuten, die zur Sext rief. Sofort belebte sich der stille, verschneite Hof, aus den Werkstätten, den Ställen, aus dem Siechenhaus, dem Pförtnerhaus und der Küche kamen die Nonnen herbei, legten im Refektorium die Arbeitskittel ab, die sie über das Habit gezogen hatten, und gingen ruhigen Schrittes eine nach der anderen hinüber in die Klosterkirche. Auch die Äbtissin schloss sich ihnen an, im Hof zurück blieb nur Bogdan, dem sie die Anweisung erteilte, den Rittern die Tore zu öffnen, falls sie ankamen, während die Nonnen die Sext sangen.
Die Gebetsstunden waren der Äbtissin Erquickung und Ermutigung zugleich, eine Zeit, die nur dem Gedanken an Gott geweiht war. Die vertrauten Worte der Psalmen, die Melodik der einstimmigen Gesänge, das stille, warme Licht der Kerzen vor dem Altarbild waren für sie wie ein ferner Blick auf den Garten des Paradieses. Heute wurde ihre Kontemplation leider durch das Getrappel der Pferdehufe auf dem gepflasterten Hof gestört, dazu waren helle, schneidende Stimmen zu vernehmen – junge Herren, die ihren Knappen Befehle erteilten. Sie waren also angekommen, saßen im Hof ab. Sie hatte Bogdan aufgetragen, sich um ihre Pferde kümmern. Da es noch schneite, würden sie ohne Zweifel im Refektorium Schutz vor der Witterung suchen, zumal es in der Nähe des Ofens angenehm warm war.
Doch sie täuschte sich. Ein Luftzug ließ die Kerzenflammen auf dem Altar flackern und bewegte das aufgeschlagene Blatt im Psalter der Schwester Vorsängerin – Bogdan hatte den Gästen die Kirchentüren geöffnet. Eiserne Sporen erzeugten ein klingendes Geräusch auf dem steinernen Fußboden, lederne Plattenpanzer knirschten, einer der Herren nieste laut, ein anderer stieß versehentlich mit dem Schwert gegen eine steinerne Säule. Was er zornig zwischen den zusammengepressten Lippen hervorstieß, war ganz sicher nicht für einen Kirchenraum bestimmt.
Die Äbtissin hob den Kopf und überblickte die Schar ihrer Nonnen, mahnte sie wortlos, die Gäste nicht zu beachten, sondern unbeirrt die Psalmen abzusingen. Die meisten gehorchten, nur wenige schauten dennoch verstohlen über die Brüstung des abgetrennten Chors hinunter zu den jungen Herren, von denen die meisten inzwischen niedergekniet waren. Weiter hinten im dämmrigen Kirchenraum knieten zwei Frauen in weiten Mänteln, eine war klein und schmächtig, die andere von kräftigem Leibesumfang.
Es war schade, dass die Gäste die Gebetsstunde störten, aber die Äbtissin hielt ihnen zugute, dass sie die Gesänge der Nonnen hören wollten, die weithin für ihre gesungenen Psalmen berühmt waren. Die Äbtissin selbst war keine begabte Musikerin, sie überließ die Komposition der Gesänge Bertolda, einer älteren Mitschwester, die fleißig mit den Nonnen übte und an ihren Stimmen feilte, um sie den Chören der Engel nahe zu bringen.
Nach Beendigung der Hore gingen die Frauen wieder ihrer Arbeit nach. Drüben in der gemauerten Scheune wurde den männlichen Gästen ein Nachtlager bereitet, während die Äbtissin sich ins Refektorium begab, um die junge Regula und ihre Begleiter zu begrüßen. Es waren im Ganzen acht Personen, zwei Frauen und sechs Männer. Wie sie schon vermutet hatte, wurde Regula von ihrem Bruder Nikolaus, einem schlanken, dunkelhaarigen jungen Mann mit feurigen Augen und lebhaften Gesten, ins Kloster geleitet, in seiner Begleitung befand sich ein hochgewachsener blonder Junker, Baldur von Danneberg, ein Freund und Gefährte des Nikolaus von Schwerin. Dazu drei einfache Kämpfer und ein schmaler, blassgesichtiger Knappe. Alle verneigten sich ehrerbietig vor der Äbtissin und küssten ihren Siegelring, zuerst Nikolaus und Baldur, danach die drei Kämpfer und zuletzt der kleine Knappe, der so ängstlich war, dass er stolperte und vor ihr auf die Knie plumpste. Worauf er von den Rittern unbarmherzig ausgelacht wurde. Mitleid war unter den Männern ein unbekanntes Wort, dabei hatte jeder von ihnen einmal als einfacher Knappe angefangen und Prügel, Kälte und harten Drill über sich ergehen lassen.
Die Äbtissin schenkte dem Jungen ein liebevolles, aufmunterndes Lächeln, das ihm die Röte in die Wangen trieb, dann wandte sie sich den beiden Frauen zu.
»Regula von Schwerin?«
»Sie ist hier, ehrwürdige Mutter«, antwortete die stämmige Frau. »Ich bin Oda, die Amme der jungen Fürstin. Ich habe Regula genährt und aufgezogen, sie ist mir so lieb wie ein eigenes Kind, ja noch viel lieber, weil sie doch die Tochter meines gnädigen Herrn ist.«
»Kann sie nicht selbst antworten?«, fragte die Äbtissin ungeduldig.
Regula hatte sich ein Tuch über das Haar gelegt, das auch ihr Gesicht zum Teil verhüllte. Jetzt zog sie es zur Seite und lächelte die Äbtissin an.
»Gewiss kann ich das, ehrwürdige Mutter. Vergebt bitte meiner Amme, die mich so lange umsorgt hat und sich daher nur schwer von mir trennen kann.«
Ihre Stimme war weich, und die Sätze, die sie sprach, klangen wie eine zarte Melodie. Dazu der verzückte Ausdruck des lieblichen Mädchengesichts – die Äbtissin brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Sie hatte mit einer aufmüpfigen Fürstentochter gerechnet, einem jener Mädchen, die aufgrund ihrer Herkunft sogleich eine gewisse Stellung beanspruchten. Sie hatte sich gewappnet, um der jungen Novizin von Anfang an zu zeigen, dass hier im Kloster keine Unterschiede gemacht wurden. Nun stand sie verblüfft und beinahe hilflos vor diesem zarten Mädchen, das sie mit sanften, hellen Augen freundlich anblickte. Augen, die grau gefiedert waren wie die Schwingen eines Vogels.
»Du weißt sicher«, sagte sie und musste sich räuspern. »Du weißt sicher, dass du mit dem Eintritt in das Kloster alles zurücklässt, was du an weltlichen Dingen besessen hast. Eine Nonne besitzt nicht einmal das Habit, das sie trägt, nicht die Schuhe an ihren Füßen, weder Ring noch Kette ist ihr Eigen, auch der Schmuck ihres Hauptes, das lange Haar, wird ihr geschoren. Bist du dazu bereit, Regula von Schwerin?«
Das Mädchen kniete vor der Äbtissin nieder und flüsterte: »Es gibt nichts auf Erden, was ich mehr begehre, ehrwürdige Mutter!«
Sie sah dabei zu Boden, und das Tuch glitt von ihrem langen dunkelbraunen Haar, das wie ein glänzender Schleier um ihr Haupt lag. Die Äbtissin konnte sich nicht gleich von dem schönen Bild lösen, als sie jedoch den begehrlichen Blick des blonden Ritters Baldur bemerkte, bückte sie sich und hob die junge Frau auf.
»Wenn es so ist, Regula, dann sei uns hier im Kloster willkommen. Du wirst zunächst einer unserer Schwestern anvertraut, sie wird dich einweisen, dich mit den klösterlichen Gewändern der Novizin bekleiden und zu jeder Zeit in deiner Nähe bleiben. Auch in der Nacht wird ihr Lager neben deinem sein.«
Sie zögerte, denn sie hatte vorsorglich die Priorin Clara für diese Aufgabe bestimmt, eine strenge Frau, die wenig Güte besaß. Für eine widerspenstige Fürstentochter schien ihr Clara die beste Wahl zu sein. Nun aber dachte die Äbtissin, dass Regula eine andere Vertraute brauchte, eine Person, die sanft und eher mütterlich war. Aber da Schwester Clara bereits neben dem Ofen auf ihren Einsatz wartete, fand die Äbtissin es unpassend, sie zu enttäuschen, und gab ihr daher das Zeichen herbeizutreten.
»Schwester Clara wird dich unter ihre Fittiche nehmen, sie wird dir Lehrerin und Mutter sein!«
Sie sagte das mehr zu der Priorin als zu Regula und begleitete ihre Worte mit einem eindringlichen Blick. Clara war hässlich wie die Nacht, das Gesicht von Geschwüren verunstaltet, die Gestalt hager und ein wenig nach vorn gebeugt, die Hände dürr und lang wie die Krallen eines Raubvogels. Doch wer sie kannte, der wusste, welch scharfer Geist in dieser Frau wohnte.
Der Abschied von ihrem Bruder Nikolaus schien der jungen Regula nicht leichtzufallen. Die Geschwister umarmten einander, und Regula dankte ihrem Bruder für seine Unterstützung, ohne die sie ihr Ziel wohl nicht hätte erreichen können. Beide wünschten einander den Segen des Herrn, und Regula fügte hinzu, sie sei sicher, dereinst im Paradies wieder mit Nikolaus vereint zu sein. Eine reichlich mutige Überzeugung, die schon an Hoffart grenzte, fand die Äbtissin.
Der Abschied der armen Amme von ihrem Zögling war laut und herzzerreißend, Tränen flossen auf beiden Seiten, und schließlich war es die Priorin Clara, die mit der ihr eigenen Schroffheit zwischen die beiden trat und Regula fortführte. Die Amme blieb mit ausgestreckten Armen schluchzend zurück, bis sich zwei der älteren Klosterfrauen auf Anweisung der Äbtissin um sie kümmerten. Sie nahmen sie mit in die Klosterküche, wo sie verköstigt wurde und sich nützlich machen konnte.
Das Wesentliche dieses Besuchs war nun erledigt – was blieb, war die Pflicht der Gastgeberin, den Herren eine gute Mahlzeit anzubieten. Zwischen die Säulen des Refektoriums wurden große Tücher gespannt, sodass der hintere Teil für die Gäste genutzt werden konnte, während der vordere, größere Teil den Nonnen vorbehalten blieb.
Die Herren konnten mit der gebotenen Mahlzeit zufrieden sein, man hatte eine Gans geschlachtet, dazu gab es Kohlgemüse und gebackene Hirsefladen, süßen Brei mit Honig und gebackene Äpfel. Die Äbtissin hatte sich zurückziehen wollen, um – wie sie sagte – wichtige Pflichten zu erledigen, doch der junge Nikolaus von Schwerin hielt sie zurück.
»Ich bitte Euch inständig, ehrwürdige Mutter. Bleibt und leistet uns Gesellschaft. Nicht nur, weil ich und meine Begleiter dies als hohe Ehre ansehen würden, sondern auch, weil ich Euren Rat in einer wichtigen Angelegenheit benötige.«
Sie hätte ablehnen können, schließlich war es nicht üblich, dass eine Klosterfrau mit sechs jungen Herren am Tisch saß. Aber dieser junge Mann, der sich so liebevoll um seine Schwester kümmerte, gefiel ihr, und sie war neugierig, in welcher Sache er sie um Rat ersuchen würde. So saß sie zunächst schweigend neben ihm an der Tafel, schob den Herren die Platten und Schüsseln mit den Speisen zu und ermunterte sie zuzugreifen, während sie selbst keinen einzigen Bissen zum Mund führte. Auch trank sie weder von dem Apfelmost noch vom selbst gebrauten Bier, das die Herren für ganz ausgezeichnet befanden. Die drei Kämpfer unterhielten sich miteinander über ihre Erfahrungen bei den Feldzügen gegen die Slawen, sie rühmten ihre Siege, prahlten mit der Beute und hätten wohl auch gern über Frauen geredet, doch mit Rücksicht auf die Äbtissin ließen sie es bleiben. Nikolaus sprach eine Weile mit seinem Freund Baldur, dann berichtete er der Äbtissin, dass Baldur und er schon als Knappen am Tecklenburger Hof gute Freunde gewesen und im vergangenen Sommer gemeinsam zum Ritter geschlagen worden seien.
»Wie sehr habe ich es bedauert, dass ich nicht mit Kaiser Friedrich nach Ägypten ziehen durfte!«, rief Nikolaus. »Damals war ich noch ein Knappe, und niemand wollte mich mit ins Heilige Land nehmen. Aber jetzt ist es anders, ehrwürdige Mutter. Jetzt will ich mich aufmachen, um für den Glauben und die Sache der Christen im Heiligen Land zu kämpfen.«
Das hatte sie sich schon gedacht. Dieser Feuerkopf war ein Eiferer für den Glauben, genau wie seine schöne Schwester. Jetzt redete er von dem Kreuzzug, für den der französische König Ludwig rüstete und für den überall Kämpfer geworben wurden.
»Baldur und ich sind fest entschlossen – wir wollen uns dem König anschließen«, teilte er ihr euphorisch mit, während sein Begleiter nur stumm dazu nickte. Dieser Baldur schien der Äbtissin eher simplen Gemüts zu sein; falls er überhaupt jemals zu einem Kreuzzug aufbrach, würde er vermutlich schon nach wenigen Wochen wieder umkehren. Bei Nikolaus war das eine andere Sache. Er würde sich im festen Glauben auf den Sieg des Christentums in den Kampf werfen und in dem glücklichen Bewusstsein sterben, ohne Sünde in Gottes Reich aufgenommen zu werden.
»Und welchen Rat erwartet Ihr von mir?«, fragte sie.
Er lehnte sich zurück, drehte seinen Becher in den Händen und richtete den Blick schließlich auf die Äbtissin. Es schien ihm schwerzufallen, seine Frage zu stellen.
»Glaubt Ihr an Weissagungen, ehrwürdige Mutter?«
Das war keine einfache Frage. Weissagungen konnten von Gott kommen, aber ebenso gut auch teuflische Einflüsterungen sein. Auf jeden Fall war Vorsicht geboten, eine Klosterfrau konnte schnell in den Verdacht der Ketzerei geraten.
»Ich glaube an Gottes Vorsehung, die uns verborgen ist«, antwortete sie daher mit Bedacht. »Weissagungen und Magie sind nur selten göttlichen Ursprungs.«
Er nickte stumm, wechselte einen Blick mit seinem Freund und schien erleichtert.
»Ich danke Euch, ehrwürdige Mutter. Ich danke Euch von ganzem Herzen, denn Ihr habt eine große Last von mir genommen. Nun freue ich mich doppelt, dass meine liebe Schwester bei Euch in solch klugen und sicheren Händen ist.«
Weiter wollte er sich trotz ihrer Fragen nicht zu der Sache äußern, also beließ sie es dabei. Sie nahm die Gelegenheit wahr, die Herren nun allein zu lassen, da die Zeit der Non gekommen war und die Nonnen sich wieder in der Kirche versammelten. Nikolaus und seine Begleiter verließen das Kloster Waldsee früh am folgenden Morgen nach einem guten Frühstück. Wie die Priorin ihr berichtete, hatte es ein kurzes Gespräch zwischen den Geschwistern vor dem Siechenhaus gegeben, wo Clara die Novizin zur Arbeit eingesetzt hatte. Die Priorin hatte diese unerlaubte Begegnung jedoch rasch unterbunden.
Die Äbtissin bemühte sich in den folgenden Wochen, Regula zu beobachten, auch ließ sie sich regelmäßig jeden Abend nach der Vesper von Schwester Clara Bericht erstatten.
»Sie ist merkwürdig«, sagte die Priorin.
»In welcher Weise?«
Schwester Clara schüttelte unzufrieden den Kopf. »Ich weiß es selbst nicht genau. Sie ist gehorsam und fleißig, allerdings hat sie einen schwachen Körper, der für harte Arbeit nicht geeignet ist. Sie hustet und hat Fieber.«
»Dann solltest du sie besser Gewänder schneidern oder Kerzen ziehen lassen.«
»Ich habe es versucht, aber sie besteht darauf, gerade jene Arbeiten zu tun, die ihr Körper nicht lange aushalten kann.«
Natürlich wollte sie das. Genau wie ihr Bruder sehnte sie sich danach, für das Heil ihrer Seele zu leiden und zu sterben. Die Äbtissin ärgerte sich darüber. Sie mochte das Mädchen gern und wollte es nicht verlieren.
»Es ist deine Sache, ihr eine Arbeit zuzuweisen, Clara«, sagte sie. »Ich wünsche nicht, dass Regula krank wird.«
»Das wolle Gott der Herr verhüten, ehrwürdige Mutter.«
Zu ihrem Erstaunen stellte die Äbtissin fest, dass die junge Regula das Herz der Priorin gewonnen hatte, denn Clara bemühte sich nach Kräften, der Novizin leichte Arbeiten zu geben, die sie in der Nähe eines warmen Ofens erledigen konnte. Trotzdem war Regula oft krank, man sah es ihr an, dass sie fieberte und nur unter Aufbietung ihres ganzen Willens den klösterlichen Tagesablauf absolvierte. Allein bei den Gebetsstunden und bei der Messe am Sonntag, die der Prior des Bruderklosters hielt, erschien sie lebhaft und war voller Glückseligkeit.
Es war schon März, der Schnee war geschmolzen, und in den Wäldern blühten die weißen Kissen der Buschwindröschen, die das Licht nutzten, solange die Bäume noch ohne Laub waren. Am Morgen, gleich nachdem die Nonnen die Laudes gesungen hatten, klopfte die Priorin an die Zellentür der Äbtissin.
»Ich brauche Euren Rat«, sagte Clara.
»Komm herein.«
Die beiden Frauen standen sich in dem engen Raum gegenüber, und die Äbtissin verspürte eine unbestimmte Sorge. Clara hatte niemals einen Rat von ihr benötigt.
»Sie ist krank. Liegt auf dem Lager, starr wie eine Tote.«
»Gehen wir!«, sagte die Äbtissin entschlossen und wollte die Tür öffnen, aber Clara hielt sie am Ärmel zurück.
»Sie ist nicht wirklich krank, ehrwürdige Mutter«, sagte sie leise und zögerte. Die Angst der Äbtissin wuchs.
»Was dann?«
»Sie ist besessen.«
Schweigen. Die beiden starrten einander an. Der Teufel war allgegenwärtig. Er konnte auch die Gestalt einer schönen jungen Novizin annehmen.
»Wie kommst du darauf?«
»Sie hat Gesichte«, sagte Clara. »Heute sah sie ein Schiff, das im Sturm zerschellte. Darauf war ihr Bruder mit anderen Kreuzfahrern. Sie sah sie mit den Wellen kämpfen und ertrinken.«
»Das ist ein Traum, Clara«, wehrte die Äbtissin den Verdacht der Priorin unwillig ab. »Ein böser Fiebertraum, weiter nichts.«
»Nein, ehrwürdige Mutter. Sie hat kein Fieber. Sie sah es mit offenen Augen, während ich an ihrem Lager saß.«
Wieder war es einen Moment lang still in der Klosterzelle. Dann fasste die Äbtissin Clara beim Arm. »Es darf niemand davon erfahren«, sagte sie streng. »Keine der Nonnen und vor allem nicht der Prior des Bruderklosters.«
»Beten wir für sie«, gab die Priorin leise zurück. »Beten wir für sie, Mutter Audacia. Sie ist eine Auserwählte.«
»Oder eine Hexe.«