10

Böses Blut

Im Wohnzimmer standen zwei Polizeibeamte. Sie waren nicht allein gekommen. Eine ganze Reihe von Männern und Frauen mit Metallkisten, Kameras und anderen Gerätschaften marschierte durchs Haus. Einige von ihnen trugen die weißen Schutzanzüge, die man aus dem Fernsehen kennt. Im Garten waren noch mehr von ihnen. Vor der Snuggery zappelte bereits ein Flatterband, das den Tatort absperren sollte.

»Sie sind Mr Hawthorne? Was für eine Freude, Sie kennenzulernen, und was für ein glücklicher Zufall, dass Sie gerade hier waren!«

Ich hatte Hawthorne bei zwei Ermittlungen begleitet, und man kann sagen, dass die Polizei in beiden Fällen nicht gerade freundlich auf ihn reagiert hat. Sie brauchten seinen Sachverstand, aber sie ärgerten sich darüber, dass er sich einmischte. Diesmal wurde ich angenehm überrascht. Der Mann, der Hawthorne so freundlich begrüßte, war hochgewachsen, wirkte aber etwas zerknittert. Sein Gesicht war pockennarbig, und sein blondes Haar hing in Strähnen herunter. Er trug Zivil – einen Blazer und eine breite Krawatte. Aber das Auffälligste an ihm war sein Lächeln. Seine blauen Augen hatten sofort zu strahlen begonnen, als er Hawthorne sah.

»Ich bin Deputy Chief Jonathan Torode«, sagte er. »Das ist Special Constable Jane Whitlock.«

Whitlock stand hinter ihm und drehte vor Verlegenheit ihren Hut in den Händen. Sie war ein gutes Stück kleiner als ihr Kollege und deutlich älter. Sie trug eine dunkelblaue Uniform mit knielangem Rock und schwarzen Strümpfen, die sie nicht glamouröser machten. Ihr dunkelbraunes Haar umrahmte eine quadratische Stirn und missmutige Augen. Ein bisschen erinnerten die beiden an einen Neffen und seine Tante, die einen Tagesausflug auf die Insel machten und sich von der stürmischen Überfahrt noch nicht ganz erholt hatten.

»Hässliche Sache. Sehr hässlich. Wir waren gerade in diesem Pavillon unten im Garten. Was war das früher? Eine Artilleriestellung? Ich muss sagen, so eine wüste Geschichte hab ich noch nie gesehen«, fuhr Torode fort. »Wissen Sie, auf Alderney hat es noch nie einen Mord gegeben. Und in Guernsey haben wir auch nicht viel Erfahrung mit so etwas. Ich bin jetzt fast sechsundzwanzig Jahre dabei, und der einzige Tote, den ich im Dienst gesehen habe, war ein Typ, der von der Leiter gefallen ist und sich das Genick gebrochen hat. Aber das hier ist ein ganz anderes Kaliber. John le Mesurier. War das sein Name?«

»Ich glaube, er hieß Charles.«

»Ah, richtig. Ich verwechsle ihn mit dem Schauspieler. Soviel ich weiß, war er ziemlich reich.«

»Das habe ich auch gehört.«

Torode sah Hawthorne ein wenig verblüfft an. Dann lachte er. »Ich verstehe! Sie wollen Ihre Karten nicht auf den Tisch legen. Hören Sie, warum gehen wir nicht in die Küche und reden ein bisschen?« Jetzt erst nahm er auch mich zur Kenntnis. »Und wer sind Sie?«

»Ich arbeite mit ihm zusammen«, erklärte ich.

»Gut. Gut. Whitlock, würde es Ihnen etwas ausmachen, uns einen Tee zu kochen? Vielleicht können Sie ja auch einen Blick in den Kühlschrank werfen. Ich bin zu früh aufgestanden, um etwas zu essen, und im Flugzeug gab’s auch nichts.«

Ich war verblüfft, dass er seine Stellvertreterin so herumschickte, aber Whitlock schien es nicht anders gewohnt. Sie verzog das Gesicht, war dann aber schon vor uns in der Küche und machte sich an die Arbeit. Wir folgten ihr und setzten uns an den Tisch.

»Sehen Sie, ich will es gleich auf den Punkt bringen«, sagte Torode. »Ich brauche jede mögliche Hilfe bei diesem Fall. Ich habe mir den Tatort angesehen, und ich muss zugeben, der Anblick hat mir überhaupt nicht gefallen. Mit Klebeband an einen Stuhl gefesselt und nur eine Hand frei. Was zum Teufel soll das bedeuten?«

Hawthorne gab keine Antwort.

»Na schön. Es ist offensichtlich, dass wir eine Vereinbarung brauchen, Sie und ich. Sie arbeiten von jetzt an als Berater. Ist das die richtige Bezeichnung für Ihre Tätigkeit?«

»Ja«, sagte Hawthorne. »Das wird genügen.«

»Ich kenne Ihren Ruf. Ich habe ein bisschen herumtelefoniert, ehe ich abgeflogen bin, und ich denke, dass es sehr gut wäre, Sie mit an Bord zu haben. Ich gebe gern zu, dass Sie weit bessere Chancen haben, den Fall aufzuklären als ich. Aber darum geht es gar nicht. Das Wichtigste ist, dass wir den Mistkerl erwischen und hinter Gitter bringen.«

»Es gibt jede Menge kleine Steak&Kidney-Pasteten, Sir«, rief Whitlock vom Kühlschrank herüber. »Ein paar Würstchen am Spieß sind auch noch da.«

»Schmeißen Sie das Zeug in die Mikrowelle! Und was macht der Tee?«

»Schon unterwegs …«

Torode faltete die Hände und stemmte die Ellbogen auf den Tisch. »Also. Hier ist mein Vorschlag: Ich leite die polizeiliche Untersuchung. Streng nach Vorschrift: Zeugenvernehmung, Fingerabdrücke, Überwachungskameras und so weiter. Daneben können Sie eine zweite Ermittlung durchführen, parallel. Sie können reden, mit wem Sie wollen, und alles tun, was Sie für richtig halten. Ich gebe Ihnen komplett freie Hand. Sie kommen ja in nächster Zeit ohnehin nicht hier weg. Wir können niemandem erlauben, Alderney zu verlassen, bis die Sache nicht aufgeklärt ist. Aber Sie vergeuden wenigstens nicht Ihre Zeit.«

»Erhalte ich eine Bezahlung?«

»Ich will ehrlich sein, Hawthorne. Da könnte es Probleme geben. Ich werde mich beim Committee for Home Affairs sehr dafür einsetzen, aber ich weiß jetzt schon, dass denen das nicht gefallen wird, und die kontrollieren nun mal unsere Ausgaben. Ein Honorar widerspricht den Regeln. Oder besser gesagt: Es gibt überhaupt keine Regeln für den Einsatz von Freiberuflern, soviel ich weiß. Ich bin aber relativ zuversichtlich, dass wir eine Regelung finden werden … einen Beratervertrag oder so etwas. Wie klingt das?«

Hawthorne zuckte die Achseln. Er hatte keine große Wahl.

»Was macht unser Tee, Jane?«

»Eine Minute noch, Sir.« Whitlock suchte in den verschiedenen Schränken und Schubladen. Dass sie bisher noch nicht mal einen Teebeutel gefunden hatte, sprach nicht unbedingt für ihre Eignung als Detektivin.

»Also, wenn Sie einverstanden sind, bitte ich Jane, den Kontakt mit Ihnen zu halten und Ihnen alles weiterzugeben, was wir herausfinden. Wo sind Sie untergebracht?«

»Im Braye Beach.«

»Schönes Hotel. Ich habe im Netz nachgesehen, aber der Laden ist komplett ausgebucht. Wir wohnen ein Stück weiter die Straße hinauf. Das ist vielleicht auch besser so, denn es wäre nicht gut, wenn man uns zusammen sieht. Die offizielle und die inoffizielle Ermittlung sollten sich nicht überschneiden. Was meinen Sie?«

»Ist mir ganz recht.«

»Gut. Gut. Gut. Brauchen Sie jetzt sofort irgendwas?« Torode zog einen Kugelschreiber und ein Notizbuch mit Lederhülle heraus.

»Alles, was Sie über Le Mesurier haben, wäre sehr nützlich. Ein komplettes Dossier über sein Leben und seine geschäftlichen Aktivitäten. Natürlich auch ein etwaiges Strafregister und eine Liste all seiner Auftritte in Dad’s Army.«

Torode hatte alles mitgeschrieben, aber jetzt hielt er inne. Der Kugelschreiber blieb in der Luft stehen. Dann lachte er. »Sehr lustig!«

»Es wäre auch gut zu wissen, was aus seinem Geld wird, jetzt wo er tot ist«, fuhr Hawthorne fort.

»Das erfahren wir wohl erst am Montag, aber sobald ich die Information habe, werde ich dafür sorgen, dass Whitlock sie Ihnen bringt. Sonst noch etwas?«

»Das reicht für den Augenblick.«

Man hörte ein Ping! von der Mikrowelle, und Whitlock klappte die Tür auf. Der Duft von einem halben Dutzend Steak&Kidney-Pies drang heraus.

Torode klappte sein Notizbuch zu. »Ein paar Dinge möchte ich noch erwähnen, ehe Sie sich auf den Weg machen. Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich Sie darauf hinweise.«

»Nur zu!«

»Danke.« Der Beamte steckte das Buch weg. »Erstens: Man hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Charles le Mesurier einen Finanzberater namens Derek Abbott hat.« Er machte eine Pause. »Ist das derselbe Derek Abbott, den Sie eine Treppe hinuntergestoßen haben?«

Hawthorne verzog keine Miene. »Ich habe ihn nicht gestoßen. Er ist gestolpert.«

»Nun, soviel ich weiß, gab es jedenfalls einiges böses Blut zwischen Ihnen.« Jonathan Torode schien mehr zu wissen, als ich gedacht hätte. Er wirkte jetzt härter und auch gefährlicher. »Ich glaube, es ist besser, wenn Sie sich von ihm fernhalten. Wir wollen ja keine weiteren Missverständnisse, nicht wahr?«

»Ich dachte, ich hätte komplett freie Hand.«

»Abbott überlassen Sie besser mir. Ich sorge dafür, dass Sie ein detailliertes Protokoll der Befragung erhalten.«

»Und das andere?«

»Na ja, ich denke, das versteht sich von selbst. Wenn Sie den Fall gelöst haben, und ich hoffe sehr, dass Ihnen das rasch gelingt, dann gehe ich davon aus, dass ich der Erste bin, der das erfährt. Ich würde nicht im Traum daran denken, Ihre Verdienste zu schmälern, aber wir müssen natürlich das Ansehen der States of Guernsey Police im Auge behalten. Das verstehen Sie sicher.«

»Vollkommen.«

»Ausgezeichnet. In diesem Falle – ah, vielen Dank, Whitlock! Da kommt ja endlich mein Tee. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag!«

Es war eine Verabschiedung, vorgetragen mit einem freundlichen Lächeln, aber gleichwohl eine Verabschiedung.

Zu zweit trotteten wir aus dem Haus, wo Terry, der junge Taxifahrer, immer noch auf uns wartete. Hawthorne wechselte ein paar Worte mit ihm, dann stiegen wir ein. Ich dachte, dass wir zum Hotel zurückfahren würden, aber als wir zur Hauptstraße kamen, fuhr Terry nur noch ein kurzes Stück weiter, dann bremste er und fuhr auf den Randstreifen.

»Von hier aus können Sie den Fußweg benutzen«, sagte er.

»In zwanzig Minuten sind wir wieder da«, sagte Hawthorne.

»Darf ich mitkommen?«

»Nein. Warten Sie bitte hier.« Wir stiegen aus und gingen zum Meer hinunter. »Ich hab ihn gebucht«, sagte Hawthorne. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass er den Fahrer meinte. »Er wird uns ständig zur Verfügung stehen, solange wir auf der Insel sind.«

»Gute Idee.«

»Ich hab ihm gesagt, dass Sie ihn bezahlen.«

»Oh.«

Wir erreichten einen halbmondförmigen Strand, der im Wesentlichen aus Kies bestand, und ich fragte mich, was Hawthorne hier wollte. Erst, als wir ein Stück weit nach Norden gegangen waren, begriff ich, dass wir unterhalb der Snuggery sein mussten. Ich blickte nach oben und sah den Beton des Bunkers über den Klippen aufragen. Ein sorgfältig ausgehauener Fußpfad mit vielen Stufen führte im Zickzack die zehn bis fünfzehn Meter hohe Felswand hinauf. Dass die Deutschen diese Treppe gebaut hatten, schien mir recht unwahrscheinlich. Warum sollten sie es den Alliierten erleichtern, zu ihren Befestigungen hinaufzusteigen? Wahrscheinlich hatte sie Le Mesurier angelegt, damit er ein erfrischendes Bad im Meer nehmen konnte, wenn er mit seinen wie auch immer gearteten Verrichtungen in der Snuggery fertig war.

»Ist jemand auf diesem Weg nach oben gekommen und hat ihn umgebracht?«, fragte ich; denn ich vermutete, dass wir deswegen hier waren.

»Das ist eine Möglichkeit. Allerdings war die Tür von innen verriegelt … zumindest, als ich sie heute Morgen geprüft habe.« Hawthorne blickte nach rechts und links, und ich fühlte mich an unsere Reise nach Kent erinnert, als wir schon einmal zu einer Ermittlung am Meer waren. »Wenn jemand von hier unten hinaufgeklettert ist, dann muss ihm jemand, der auf der Party war, von innen die Tür aufgemacht haben, um ihn hineinzulassen.«

»Wann genau ist Le Mesurier denn gestorben?«, fragte ich.

»Das werden wir von der Polizei erfahren. Aber ich denke, dass er zwischen neun Uhr zehn und zehn Uhr zum Pavillon gegangen ist. Um neun Uhr zehn hat er seiner Frau gute Nacht gesagt, und um zehn hat Bellamy festgestellt, dass er nicht mehr auf der Party war.«

Während dieser Überlegungen hatten Hawthornes Augen beharrlich den Strand abgesucht. Jetzt hielt er inne und zeigte auf einen Sandfleck am unteren Ende der Treppe, die an der Felswand hinaufführte. Er hatte einen Fußabdruck entdeckt. Ich war mir nicht sicher, aber die Größe und Form passten durchaus zu der blutigen Fußspur, die wir in der Nähe der Leiche gesehen hatten.

»Sie haben recht, Hawthorne!«, rief ich. »Wie machen Sie das bloß immer? Die Sache ist vollkommen klar.« Ich sah noch einmal an der Wand hinauf, die vor uns aufragte. »Jemand hat oben die Tür aufgemacht. Dann kletterte jemand anderes hinauf. Zu zweit schlugen sie Le Mesurier bewusstlos und fesselten ihn an den Stuhl. Nachdem sie ihn getötet hatten, trennten sie sich, und jeder ging seiner Wege.«

»Ja, so könnte es gewesen sein.« Warum klang Hawthornes Bestätigung so unsicher? Ich fand, dass es vollkommen klar war. »Aber es gibt ein Problem.«

»Was für ein Problem?«

»Nun ja, damit das Ganze so ablaufen kann, wie Sie es gerade beschrieben haben, mussten die Täter – einer drinnen und einer draußen – genau wissen, was Le Mesurier vorhatte. Sie mussten wissen, dass er die Snuggery aufsuchen würde, und auch die genaue Zeit kennen.«

»Sie konnten vom Haus aus telefonieren oder eine SMS schicken.«

Hawthorne zog sein Handy heraus und tippte darauf herum. »Kein Netz«, sagte er.

Ich versuchte es ebenfalls und musste ihm recht geben. »Ich auch nicht«, sagte ich seufzend.

»Ihre Beschreibung des Tathergangs funktioniert nur, wenn der Komplize bereits oben im Pavillon ist und dort wartet, ehe Le Mesurier eintrifft. Er könnte sich hinter dem Vorhang versteckt haben. Le Mesurier kommt mit dem zweiten Täter herein, und das ist der Moment, in dem sie ihn bewusstlos schlagen. Sie fesseln ihn an den Stuhl – wir wissen immer noch nicht, warum – und dann töten sie ihn.«

»Und was ist, wenn sie die Tür schon zuvor aufgemacht haben? Es hätte jemand hinaufklettern und den ganzen Abend oben hinter dem Vorhang warten können.«

»Auch in diesem Fall hätten sie sicher sein müssen, dass Le Mesurier in den Pavillon kommt. Und zwar allein …«

Hawthorne hielt sein Handy immer noch in der Hand und machte ein Foto des Fußabdrucks, den er entdeckt hatte.

»Werden Sie Torode das alles erzählen?«, fragte ich.

»Ich bin sicher, er wird das allein herausfinden, aber wenn es Sie glücklich macht, schick’ ich ihm das Foto.«

Er schob das Handy zurück in die Tasche und wollte zurück zum Taxi gehen, aber ich stoppte ihn. »Hawthorne«, sagte ich. »Sie müssen mir etwas erklären.«

»Was denn, Sportsfreund?«

»Warum sind Sie hier? Warum haben Sie sich bereiterklärt, mit mir nach Alderney zu kommen? Sagen Sie bitte nicht, es hätte was mit unserem Buch zu tun! Ihnen geht es um Derek Abbott, nicht wahr? Ich weiß, Sie wollen nicht darüber reden, aber Sie müssen mir das einfach sagen. Als wir vor sechs Wochen im Verlag waren, habe ich gleich gemerkt, dass Sie etwas vorhatten. Ich will nicht mit Ihnen streiten, aber ich muss schon Bescheid wissen, wenn ich darüber schreiben soll. Also, was läuft da?«

Hawthorne ließ sich Zeit, ehe er antwortete. Wir standen ganz oben am Strand, hinter uns nur die Felswand. Weit und breit sah man keine Menschenseele. Es war immer noch früh am Morgen, und der Sand und die Steine, die sich vor uns erstreckten, sahen sehr abweisend und wild aus. Der Wind zerrte am Strandhafer, und die stahlgrauen Wellen, die unablässig hereinrollten, sahen nicht sehr einladend aus. Liegestühle und Tretboote waren hier fehl am Platz. Eine große Möwe flatterte über unseren Köpfen. Die Sonne war hinter den Wolken verschwunden.

»Ich werde Ihnen sagen, was mit Abbott los war«, erklärte er. »Aber nur, wenn Sie versprechen, ihn nie mehr zu erwähnen. Okay? Mir wird schlecht, wenn ich bloß seinen Namen höre.«

»Er war ein Pädophiler.«

Hawthorne nickte langsam. In seinen Augen stand eine schreckliche Leere. »Er war noch weit mehr als das«, sagte er. »Der verdammte Derek Abbott. Er war kein schmuddeliger Straßenverkäufer, der auf seiner Schubkarre geklaute DVDs feilbot. Und er war auch kein bärtiger Sonderling, der Sachen aus dem Netz runterlud und mit seinen Freunden teilte. Er war ein ehrenwerter Geschäftsmann.« Man hörte seiner Stimme an, dass er das Gegenteil meinte.

»Angefangen hat er als Lehrer, und als ihm das nicht mehr genügte, ging er ins Kleinanzeigengeschäft. Mit Ende zwanzig war er Anzeigenleiter einer Gruppe, die Lifestylemagazine verlegte: Segeln, Reiten, Freikörperkultur. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt zur Selbständigkeit. Er gründete seine eigene Firma, sie nannte sich Free for All. Der erste große Erfolg war ein Anzeigenblatt, das kostenlos an U-Bahn-Stationen verteilt wurde. Er war seiner Zeit voraus. Das muss man ihm lassen.

Das Anzeigenblatt brachte nicht genug ein, also wandte er sich Lifestyle und Klatschblättern zu, und von dort war es nur noch ein kleiner Schritt zur Pornografie. Wir reden hier über die frühen Neunzigerjahre. Da konnte man sich diese Dinge noch nicht mit ein paar Klicks auf den Bildschirm holen. Abbotts Girlies waren noch in der Mitte gefaltet und hatten Heftklammern im Bauch oder Busen. Aber es war alles legal. Scharfe Hausfrauen. Stunden der Lust. Geheime Träume. Solches Zeug stand damals in jedem Zeitungskiosk.

Aber Abbott ging mit der Zeit. Zur Jahrtausendwende hatte er schon seinen eigenen Fernsehsender: The Adult Channel. Seine Magazine waren jetzt alle online. Und versteckt in diesem Dickicht von Schmutz hatte er eine ganz exklusive Webseite, die nur für einen kleinen Kreis von Abonnenten zugänglich war. Der Titel war unauffällig genug: Asia Minor, aber er beschrieb sehr genau, was da zum Verkauf stand.«

»Kinderpornografie.«

»Vor allem kleine Mädchen und Jungen aus Thailand, Vietnam und den Philippinen. Das war eine ganz andere Liga. Hardcore-Sex, Sadismus, Quälerei. Zwanzig Jahre ins Gefängnis hätte er für diese Schweinereien gehört. Da fragt man sich natürlich, warum macht der Kerl so was? Er verdiente ja Millionen mit seiner legalen Pornografie. Warum riskiert er sein ganzes Unternehmen für eine Webseite, die nur Verluste macht? Als sie schließlich abgeschaltet wurde, hatte sie bloß ein paar hundert Abonnenten. Schmutzige alte Männer, die monatlich gerade mal zwanzig Pfund zahlten. Warum hat er das gemacht? Das haben sich auch die Ermittler gefragt, die ihn vor Gericht bringen wollten, und am Ende sind sie dahintergekommen: Derek Abbott, der Vorstandsvorsitzende von Free for All, hatte Zugang zu den Kindern, die in den Filmen mitspielen mussten. Das war der Kick, den er sich verschaffte. Manche von den Kindern waren elf oder zwölf Jahre alt, und Asia Minor verschaffte ihm ständig Nachschub.«

Hawthorne zog eine Zigarette heraus und entzündete sie im Schutz seiner Hände.

»Er war völlig entspannt, als er schließlich in London verhaftet wurde. Ich weiß noch genau, wie er dasaß: Er machte ein Gesicht wie ein Großherzog, der versehentlich in die Dienstbotenunterkünfte geraten ist. Die Polizei konnte ihm gar nichts anhaben. Nie und nimmer. Er wusste, dass er sein Geschäft so aufgestellt hatte, dass er unangreifbar war. Außerdem hatte er eine ganze Armee von Rechtsanwälten in seinem Gefolge, denen es völlig egal war, was für ein Scheusal er war und was er getan hatte, solange ihre Rechnungen von ihm bezahlt wurden. Er würde sein Geld benutzen, um sich rauszukaufen – ganz egal, was es ihn kosten würde. Niemand konnte ihm nachweisen, dass er etwas mit Asia Minor zu tun hatte. Seine Angestellten waren bestochen oder eingeschüchtert worden. Keins der missbrauchten Opfer war bereit, gegen ihn auszusagen. Er hat uns von Anfang an hinters Licht geführt, und er hat recht behalten.«

»Aber er ist doch im Gefängnis gewesen.«

»Ja, das stimmt. Er hat einen Fehler gemacht, so ähnlich wie Al Capone bei seiner Steuererklärung. Man hätte darüber lachen können, aber leider war es nicht komisch: Er hat sich Andenken aufgehoben! Er hatte seinen eigenen Kanal abonniert, und auf einem seiner Computer hatte er fünfhundert Bilder gespeichert. Als die Ermittler den Rechner geknackt hatten, wurde er noch mal verhaftet. Er sollte erneut befragt werden, und bei der Gelegenheit hatte er dann diesen Unfall. Es war tatsächlich ein Unfall.« Er stieß mit dem Zeigefinger in meine Richtung. »Sagen Sie nie etwas anderes, Tony!«

»Wie lange war er denn hinter Gittern?«, fragte ich.

Hawthorne sah mich verbittert an. »Nicht mal ein Jahr«, sagte er. »Wenn sie ihn wegen Herstellung und Vertrieb von Kinderpornografie drangekriegt hätten, wäre er zu zwanzig Jahren verknackt worden. Und das hätte er auch verdient. Aber der bloße Besitz wird viel milder bestraft. Dafür gibt es höchstens zwei Jahre.« Er schüttelte den Kopf. »Wegen der Verletzungen, die er sich bei seinem Sturz zugezogen hatte, und der Beschwerde seiner Rechtsanwälte über seine Behandlung kam ihm der Richter noch weiter entgegen. Er wurde nur zu sechs Monaten verurteilt. Das genügte, um sein Unternehmen zu ruinieren, aber das war längst nicht genug.« Hawthorne drehte seine Zigarette zwischen den Fingern. »Bei weitem nicht.«

Ich dachte einen Augenblick nach, ehe ich etwas dazu sagte.

»Das tut mir leid«, sagte ich. »Ich verstehe Ihre Frustration. Aber ich weiß immer noch nicht, was Sie erreichen wollten, indem Sie hierherkamen.«

»Wenn wir nicht eingeladen worden wären«, sagte Hawthorne, »wäre ich bestimmt nicht auf die Idee gekommen. Aber ja, es stimmt schon … es hat mich interessiert, was aus ihm geworden ist.«

»Warum gerade in seinem Fall?«, fragte ich. »Sie müssen bei Ihrer Arbeit doch auf viele unangenehme Männer gestoßen sein, die genauso schlimme Dinge getan hatten. Was war an ihm so besonders?«

Aber Hawthorne hatte genug gesagt. Er hielt seine Zigarette hoch und erlaubte dem Wind, sie ihm aus den Fingern zu reißen. Dann drehte er sich um und stiefelte einfach davon. Ich folgte ihm, und ohne ein weiteres Wort stiegen wir in den wartenden Wagen.