Ich rutschte über den Boden zu Kevin, der sich zu einer kleinen Kugel zusammengerollt hatte und aussah, als ob er jeden Moment den Verstand verlieren könnte.
»Alles okay, Kevin? Bist du verletzt?«
Als ich spürte, dass er anfing zu zittern, packte ich seine Schultern. »Es ist alles in Ordnung, hörst du? Alles ist wieder gut.« Mit einem schnellen Blick auf das Kuchenchaos um uns herum fügte ich hinzu: »Ich meine … so im Prinzip.«
Kevin sah zu mir hoch, und da merkte ich, dass er gar nicht richtig da war. Sein Gehirn lief vermutlich gerade auf zehn Prozent.
»… aber ich bin ziemlich sicher, das war ein Wolf«, flüsterte er. Da musste ich einfach lachen. »Ach, meinst du wirklich?«
Kevin beugte sich ein wenig vor, um an mir vorbeizusehen und den bewusstlosen Wolf zu betrachten.
»Ich …« Es war herzzerreißend mitzuerleben, wie Kevin sich seinem schlimmsten Albtraum stellte. »Ich bin ziemlich sicher, dass ich gleich das Bewusstsein verlieren werde.«
Und das tat er dann auch.
Einige Minuten später fanden sich Goldie, der Edelritter und ein hinkender Joe in der Bäckerei ein. Inzwischen war Kevin wieder zu sich gekommen und den noch immer bewusstlos am Boden liegenden Wolf hatte ich dick mit einer ganzen Rolle Bäckerzwirn umwickelt.
Mr. Schmidt stand in der Ecke und beklagte lauthals den Verlust seines Tortenkunstwerks.
Goldie kam hereingestürzt und riss erst Kevin an sich und dann mich, während ich eine Entschuldigungssalve losließ.
Sie lächelte und legte ihren Wurstfinger auf meine Puderzuckerlippen. »Spotzspotzspotz. Klapp deine Kuchenluke zu. Das Fressmobil wird schon wieder fahren.«
George klopfte mir herzhaft auf den Rücken. »Du warst großartig, Spotz. Du warst einfach großartig.« Er hockte sich zwischen Kevin und mich auf den Boden.
Und das taten Kevin und Joe und ich. Wir brauchten eine Weile, und Mr. Schmidt brachte uns Eiswasser und eine Platte, auf der riesige Kuchenstücke in Burgform gestapelt waren, ehe er sich daranmachte, das kolossale Chaos zu beseitigen, das wir verursacht hatten. Irgendwann kam der Wolf wieder zu sich und fing an, Forderungen zu stellen.
George ging zu ihm, stopfte ihm lässig eine zusammengeknüllte Schürze ins Maul und sagte, wir sollten weiterreden.
Die Sonne ging schon unter, als wir mit unserem Bericht fertig waren. George hatte einen grimmigen Ausdruck im Gesicht.
»Vielleicht irre ich mich, aber ich stelle mir vor, dieser Wolf weiß, wo wir Miss Flett finden können.« Er drehte sich um und starrte wütend den Wolf an und der starrte wütend zurück. »Ich finde, es ist Zeit für ein paar Antworten.«
Joe stieß ein unflätiges Geräusch aus.
Ein seltsames Lächeln huschte daraufhin über das Gesicht des Edelritters. »Oh, es gibt Dinge, mit denen wir einen Wolf zur Kooperation bewegen können.«
Drei Minuten später lag der Wolf auf einem abgenutzten Hackbrett unter einer grellen Küchenlampe.
George drehte sich zu uns um. »Also. Das wird jetzt vielleicht nicht schön, aber wir werden Antworten erhalten.«
Wir nickten ernst.
George streckte die Hand aus und riss dem Wolf die Schürze aus dem Maul.
Sofort fing der Wolf an zu knurren und zu fluchen.
»Wage es!« Er schleuderte George seinen Hass entgegen. »Wenn du mich kitzelst, büßt du mindestens einen Finger ein! Vielleicht die ganze Hand! Meine Beißkraft ist so stark wie die von vierzehn Schnupfwieseln …«
Aber in diesem Moment trat George vor und legte seine Fingerspitzen auf die Fußsohlen des gefesselten Wolfs – genau dahin, wo das empfindliche Fell zwischen den Laufpolstern hervorlugt. Das brachte den Wolf zum Verstummen.
»Erste Regel«, sagte George. »Wenn du einen von uns auch nur kneifst, dann kitzle ich fester. Kapiert? Also, fangen wir mit deinem Namen an.«
Die Blicke des Wolfs huschten zwischen seinen Füßen und dem Ritter hin und her. »NIEMALS!«
George zauste das Fell an der Hinterpfote des Wolfs. »Kitzel, kitzel, kitzel …«
Sofort brach der Wolf in lautes, gequältes Gelächter aus. »HAAHAA- HAAAA! Na gut, na gut! Ha-ha! AUFHÖREN! Ich werde der Doofe Dusselige Wolf genannt.«
Der Ritter hörte auf und grinste seinerseits. »Fehlt noch was zum Großen Bösen, hm?«
Der Wolf versuchte, seine Haltung zurückzugewinnen. »Hör mal, Ritterchen.« Er musste eine Pause machen, weil er von seinem Lachanfall außer Atem war. »In alle Ewigkeit wird es nur einen einzigen Großen Bösen Wolf geben. Wie kannst du es auch nur wagen, Seinen Namen in den Mund zu nehmen?«
George fig wieder an zu kitzeln.
Dann pisste der Wolf ein bisschen, weil er so lachen musste, und darüber war Mr. Schmidt gar nicht glücklich.
Ich will euch den Rest des Verhörs ersparen. Vor dem Schaufenster hatte sich eine Menschenmenge versammelt, wenn ihr also unappetitliche Einzelheiten wollt, dann gibt es bestimmt Klatschbasen genug, die euch alles erzählen werden.
Irgendwann schien der Wolf sich jedenfalls an die Kitzelei gewöhnt zu haben. Das konnte George, der das offenbar nicht zum ersten Mal machte, jedoch nicht entmutigen.
»Mr. Schmidt?«, sagte er. »Ich weiß, Sie backen hier auch herzhafte Pasteten. Sie haben nicht zufällig ein Stück … SCHIMMELKÄSE?« Die Reaktion des Wolfs war unvorstellbar.
Mr. Schmidt ging zum Kühlschrank und kehrte mit einem großen Behälter mit der Aufschrift SCHIMMELKÄSE – BESONDERS GERUCHSREICH zurück.
»Wenig bekannte Tatsache Nummer 2: Schimmelkäse macht jeden Wolf zur Schnecke. Es ist gewissermaßen ihr Kryptonit.«
Der Wolf flippte aus, als George den Deckel von der Käsedose nahm. »Komm ja nicht – würg! – mit diesem Kram – KOTZ! – in meine Nähe!!«
George brauchte dem Wolf nur noch einen Löffel voll Käse unter die Nase zu halten, und schon erzählte der Wolf uns alles, was wir wissen wollten.
»Um den Vertretungsjob zu kriegen!« Der Wolf erbrach sich lauthals. »Um an die Schüler ranzukommen.«
Joe mischte sich ein. »Um dir Kevin zu holen? Rache an den kleinen Schweinchen? Warum hast du dich nicht einfach aufs Fest geschlichen und dir Kevin da geschnappt?«
Der Wolf verdrehte die Augen und sah Joe an, als ob er einen Idioten vor sich hätte. »Es geht doch nicht um die blöden Schweine, du Volltrottel! Der hier hat sich mir einfach nur auf einem Silbertablett angeboten. Er hat mir alles über seine – würg! – Klassenkameraden erzählt. Und klar – ein Schweinchen zu entführen wäre ein saftiger kleiner Bonus geworden. Aber vor allem wollten wir uns das blöde Balg von Rotkäppchen krallen.«
Das brachte uns zum Verstummen.
»Wie war das?«, fragte George, packte das Kinn des Wolfs und drohte, ihm Schimmelkäse auf die Oberlippe zu schmieren. »Rotkäppchen hatte nie ein Kind, und wenn sie eins hätte, wieso sollte es dann hier sein? Das Letzte, das ich von Käppi gehört habe, war, dass sie das Land verlassen hat … und ich glaube nicht, dass sie je einen Fuß nach Scherwutz gesetzt hat.«
Der Wolf versuchte angestrengt, sein Kinn wegzudrehen. »Als ob ihr das nicht alle wüsstet. Als ob das nicht das bestgehütete Geheimnis im ganzen Königreich wäre.«
Wir sahen einander einen langen Moment einfach nur verwirrt an.
Der Wolf schaute belustigt in die Runde. »Moment. Ihr wisst ehrlich nichts davon? Das ist doch SAUKOMISCH!«
George fing wieder an zu kitzeln und der Wolf fing wieder an zu reden.
»Aufhören, aufhören. Also, es ist so: Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass Rotkäppchen junior hier in Scherwutz lebt. Und auf die Schule hier geht. Und dass wir uns dafür rächen werden, was Käppi dem Großen Bösen angetan hat. Wisst ihr noch, dass ich gesagt habe, dass ein Sturm kommt? Das ist ein Wolfssturm, klar? Großer fieser Sturm von Wölfen, der euch bevorsteht. Ist nicht mehr zu stoppen – und ihr kriegt auch eure kostbare Miss Flett nicht zurück – solange ihr Rotkäppchens Erben nicht ausliefert.«
Niemals werde ich Georges Gesichtsausdruck vergessen, als er sich nun eine Handvoll Käse schnappte und sich über den Wolf beugte. Es war ein Blick, der Glas zum Schmelzen hätte bringen können.
»Und jetzt verrätst du mir, wo ihr Miss Flett gefangen haltet – oder du wirst bis ans Ende deiner Tage nach Schimmelkäse stinken.« »Mir doch egal.« Der Wolf lächelte nur und wandte den Kopf ab. Aber wenige Sekunden später hättet ihr sein von Käse ersticktes Geschrei noch drei Straßen weiter hören können.