13. KAPITEL

Die Bombe platzt

Alle starrten Sierra an wie betäubt. Schulleiter Haggard war das Kinn so tief heruntergefallen, dass er damit noch ganz andere Dinge als Fliegen hätte fangen können.

»Wa…? Ich … ? Sierra, bitte, ich …« Er war dermaßen verwirrt, dass er keinen Satz zu Ende bringen konnte. »Ich weiß nicht so ganz, was du da …«

»Ist schon gut. Mr. Haggard. Das weiß niemand. Meine Mutter hat sich alle Mühe gegeben, um dafür zu sorgen.«

Mein Gehirn verband hektisch die einzelnen Punkte: Sierra Scarlet

Der Korbrucksack.

Könnte das ursprünglich der Korb ihrer Mutter gewesen sein? Der berühmte?

Die Fliegenfalle des Schulleiters war abermals in Bereitschaft.

Die in der Turnhalle Versammelten sahen allesamt aus, als ob sie mit einem Erstarrungszauber belegt worden wären – ich auch.

Sierra sprach mit so ruhiger Stimme weiter, dass es geradezu unheimlich war. »Die Frau, die ihr als meine Mom kennt, ist meine Tante – die Schwester meiner Mutter. Meine richtige Mom musste … musste gehen. Die Wölfe waren hinter ihr her, sie musste aus dem Königreich fliehen.« Sierra unterbrach sich und schluckte energisch. »Ich habe das Geheimnis für mich behalten, so wie meine Mom es mir aufgetragen hat … aber ich werde doch nicht weiter schweigen, wenn ich damit unschuldige Menschen in Gefahr bringe – oder Schweine!«

Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge der Schüler bis zur Mitte der Turnhalle.

Drei Sekunden lang bewegte sich niemand.

Ich konnte meine Stimme »Nein! Nein! Nein!« sagen hören. Ich weiß noch immer nicht, ob das in Gedanken war oder ob ich es laut rief.

Dann explodierte die Turnhalle.

Manche Leute schrien »NEEEIIIN!«, andere brüllten »AUSLIEFERN! « und noch allerlei andere nicht druckbare Dinge, alles gleichzeitig.

Ich war, wie die Menge auch, bestürzt, wütend, besorgt, verwirrt (und vielleicht auch ein bisschen hungrig) – alles auf einmal. Es war zu viel, und ich hatte das Gefühl, dass mein Gehirn kurz vorm Platzen stand.

Die Turnhalle drehte komplett durch. Alle brüllten gleichzeitig und ich sah mindestens zwei Elfen in Ohnmacht fallen (nach guter Elfensitte). Schulleiter Haggard stürzte zu Sierra und legte beschützerisch einen Arm um sie. Er schob sie zum Ausgang und schrie dabei die ganze Zeit ins Mikrofon: »Alles klar, Leute. Wir werden das klären – ha, ha! Die Versammlung ist beendet! Weitermachen! Zurück zum Unterricht! Hier gibt's nichts mehr zu sehen.«

Er ließ das Mikrofon fallen und winkte uns und Señor del Torro, ihm zu folgen.

In der Turnhalle sah es aus wie bei einem Krawall, als wir hinausliefen. Aus Gründen, die ich nicht ganz begreifen konnte, warfen die Leute mit Papierknäueln und Stiften und Trinkpäckchenverpackungen um sich. Ich weiß noch, dass ich einen kleinen Zwerg erblickte, der am Ende einer Bank baumelte, während ich einem Grunzbeeren-Müsliriegel auswich.

Wenig später folgten wir Sierra und Direktor Haggard in sein Büro. Sierra sagte irgendwas davon, dass ihre Mom nicht gewollt hatte, dass sie ihr Leben auf der Flucht teilte. Der Schulleiter schien in den vergangenen Minuten um zwanzig Jahre gealtert zu sein.

Was mir aber am meisten zu schaffen machte, war ein kurzer Blick durch das Büro: Von Kevin keine Spur.

»Wo ist er?«, schrie ich, während ich wie verrückt hinter den Türen und unter den Schränken nachsah. (Mir ist schon klar, dass Kevin unter keine Lampe gepasst hätte, aber in der Verzweiflung neigt man eben zu Verzweiflungstaten.)

Schulleiter Haggard konnte seine Aufmerksamkeit nur mit Mühe von Sierra losreißen.

»Das … was? Der ist da drüben …« Er drehte sich um und wies auf die Couch – und seine Kinnlade fiel weiter hinunter als je zuvor. »Eben war er noch da! Mit einem Eisbeutel! Er war in Ohnmacht gefallen und ich …«

Plötzlich war ich zornig. All meine Selbstbeherrschung, die ich trainiert hatte, um meine Trollwut zu kontrollieren, löste sich in Rauch auf.

Der Schulleiter war jetzt wirklich in Schweiß gebadet. »Ich musste doch zu der Versammlung! Er lag da … bewusstlos, und … versteh das nicht falsch, aber ich habe ihn hier eingeschlossen! Zu seinem eigenen Besten! Damit er nicht nach Hause laufen und eine Dummheit begeh…« Er erstarrte. Wir folgten seinem Blick zu dem offenen Fenster über dem Sofa. Auf der Scheibe waren schwitzige kleine Hufabdrücke zu sehen.

Sierra, Joe und ich sahen uns an. Nach einem kurzen Ausweichmanöver fegten wir an Schulleiter Haggard und Señor del Torro vorbei und aus dem Büro, zur Eingangstür hinaus und im Affenzahn über die Wiese vor der Schule.

Mr. Haggard und Señor del Torro versuchten, uns einzuholen, aber Mr. Haggard war nicht gerade gut in Form, und es war allgemein bekannt, dass Señor del Torro von einem lange zurückliegenden minotaurischen Turnier einen kranken Huf hatte.

Als wir über die Carousel Street Bridge jagten, die über mein Haus führt (ja, ja, Trolle wohnen immer unter Brücken, vergessen wir das mal für einen Moment), schaffte ich es, eine kurze Frage zu japsen: »Also … heißt du denn überhaupt … Sierra?«

Sie brauchte eine Sekunde, um so viel Atem zu schöpfen, dass sie antworten konnte, aber dann sah sie mich von der Seite an – mit so einem »Ernsthaft? Ist das jetzt wichtig?«-Ausdruck.

»Sierra stimmt.«

Ich warf Joe einen Blick zu, der ebenfalls keuchte und schnaufte wie ein Röchelbusch – aber kein bisschen langsamer wurde.

Wir nahmen die Abkürzung zur Villa Kleinschwein durch den Wald und mussten unser Tempo dabei ein bisschen drosseln. Als wir den Hügel hinaufkamen, sahen wir sie: die Lastwagen und Anhänger des Ritterdienstes und – noch besorgniserregender – die Zelte des SQUAT-Teams, die auf der Kuppe des Hügels aufgereiht waren.

Das sollte ich wohl erklären. Das SQUAT-Team ist eine Elitetruppe aus freiwilligen, hoch qualifizierten Schützen, die in besonderen Fällen zur Kriminalitätsbekämpfung eingesetzt werden. Die Abkürzung steht für Super-Qualifiziertes Uniformiertes Armbrust-Team. (Ich hab nie kapiert, warum sie unbedingt das »Uniformiert« im Namen haben müssen. Ich meine, wer Augen hat, kann doch sehen, dass sie Uniformen tragen – aber egal. Wahrscheinlich brauchen sie das U, weil sie sonst SQAT-Team heißen würden, und dann würde niemand so richtig wissen, wie das ausgesprochen wird.)

Der Anblick der SQUAT-Zelte machte mich nervös. Ich hatte das SQUAT-Team bisher nur ein einziges Mal gesehen, wenn ich mich richtig erinnerte – als ein Dampfdrache mit einer Magenverstimmung im Frischwasserspeicher der Stadt hatte baden wollen –, und ich wusste, dass es nur bei echten Notlagen zum Einsatz kam. Wir hatten die Zelte fast erreicht, als aus einer Lautsprecheranlage ein gewaltiges Quietschen und ein ohrenbetäubendes Knistern ertönte.

»STOP!« Ein großgewachsener SQUATist (das soll kein Witz sein, die wollen wirklich so genannt werden!) mit einem Megafon vor dem Gesicht trat aus einem der Zelte.

Die Stimme klang finster und war so tief und dröhnend, dass wir auf der Stelle erstarrten. »WO WOLLT IHR DENN BITTE SCHÖN …? MOMENT.«

Die Gestalt ließ das Megafon sinken und machte sich am Tonregler zu schaffen – und wir erkannten Mrs. Locke. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie zum SQUAT-Team gehörte, aber inzwischen wunderte mich nichts mehr bei Goldie.

Sie warf das Megafon zurück ins Zelt. »Dieses Stück Schrott macht schon den ganzen Morgen Probleme. Man klingt wie Darth Vader am Schalter von einem Drive-in-Imbiss.«

Sie winkte uns, ihr den Hügel hinauf zu folgen. »Ihr seid wegen Kevin gekommen.«

Ich nickte, noch immer um Atem ringend. »Bitte sag mir, dass du ihn erwischt hast, ehe er eine Dummheit machen konnte!«

Wir kamen oben an und hatten nun einen freien Blick auf das Tal unter uns und die Villa Kleinschwein.