19. KAPITEL

Ein troll für alle Fälle

Ich wollte schon antworten, als ich bemerkte, dass jemand vor mir stand. Ich schaute auf und sah Hässlich mit einem fiesen Grinsen im Gesicht.

Ich versuchte, mich zusammenzureißen.

»Er war nicht gerade begeistert«, sagte ich und kam langsam wieder auf die Füße.

»Wann ist er das schon?« Hässlich lachte und wandte sich zur Treppe. »Komm schon. Wir müssen die Wachen einteilen. Und du siehst aus, als ob du eine Dose Flatschfrucht-Sprudel gebrauchen könntest.«

Nach einem kurzen Halt in der Küche gingen wir weiter ins Esszimmer, wo sich ein Großteil der Wölfe versammelt hatte. Der Tisch war vollgepackt mit Spielkarten, überlaufenden Aschenbechern und einer großen Auswahl an Limo- und Bierdosen. Die Wölfe stritten sich gerade, wer welche Schicht übernehmen sollte. Ich dagegen versuchte herauszufinden, wie man mit einer so langen Schnauze aus einer Dose trinken sollte. Ich hielt sie an die Stelle, wo normalerweise mein Trollmund wäre, und dann goss ich mir Flatschfrucht-Sprudel über den Hals. Als ich mir die Limo endlich in den Mund schüttete, fühlte sich das total unnatürlich an. Als ob ich einen Döner als Strohhalm benutzte.

Die Stimmen im Zimmer wurden lauter. Zwei der Wölfe fauchten und fletschten die Zähne, weil sie die Nachtschicht schieben sollten, und mir ging auf, dass das mein Stichwort sein könnte. »Ich … ich kann die Nachtschicht übernehmen und die Geiseln bewachen. Macht mir gar nix.«

Alles verstummte und starrte mich an. Dann starrten sie einander an. Dann fingen einige an zu lachen.

»Und morgen früh kommen wir rauf und da sitzt du in einem leeren Zimmer voller Schweinefleisch.« Das war der, der Finster Ferräterisch hieß. »Sie nennen mich Ferräterisch, aber nicht mal ich würde dir auch nur einen Hühnerstall zu bewachen geben!« Die anderen lachten wieder, doch ich ließ nicht locker. »Ha, ha. Nee, nee. Ich weiß ja, wie ihr über mich denkt. Aber ihr habt sicher alle gehört, dass der Große Böse eben nicht gerade zufrieden mit mir war.« Jetzt hörten sie mir immerhin zu. »Er sagt, ich müsse mich bewähren.«

Ein besonders schmutzig und räudig aussehender Wolf in der Ecke sagte: »Hört mal. Wenn Dussel die Nachtschicht übernehmen will, dann werd ich mich nicht beklagen.«

Er stieß ein viel zu lautes, röchelndes Lachen aus – als ob noch niemals irgendwer einen so komischen Witz gemacht hätte – und das überzeugte die anderen offenbar. Sie klatschten mich ab und sagten, »wenn du meinst«, es gab lautes Gerülpse und ganz viel Schulterklopfen.

Die meisten Wölfe waren schon schlafen gegangen, als ich um Mitternacht vor Kevins Zimmer Posten bezog. Der Wolf, der vor mir Wache geschoben hatte, reichte mir den Schlüssel und nahm seine Zeitschrift mit, aber neben dem Sessel lag ein Stapel von Mrs. Kleinschweins Märchenboten. Ich nahm mir die oberste Ausgabe und versuchte so auszusehen, als ob ich las, während ich lauschte und darauf wartete, dass das Haus zur Ruhe kam.

Joe nutzte den Augenblick, um mir zu meiner Beruhigung, wie er sagte, einige Witze zu erzählen. Ich musste all meine Kraft zusammennehmen, um nicht »Halt die Klappe!« zu fauchen.

»Also, Spotz. Was geht mit Wein und Kuchen durch den Wald und popelt?«

Und danach wurden die Witze noch blöder.

Gegen ein Uhr hörte ich, dass unten der Fernseher ausgeschaltet wurde, und zwanzig Minuten später herrschte Stille im Haus, abgesehen von einem ziemlich beeindruckenden Schnarchen am Ende des Ganges. Ich zwang mich, noch eine halbe Stunde zu warten, dann legte ich die Zeitschrift weg und drehte mich zur Tür um.

Ich hatte mir überlegt, wie ich hineingelangen könnte, ohne dass Kevin und die anderen (okay, vor allem Kevin) sofort Zeter und Mordio quiekten. Denn damit würden sie jeden Wolf im Haus aufwecken.

Ich hockte mich auf den Boden und legte meine Schnauze an den Türspalt. Dann flüsterte ich, so laut ich es wagte:

Ich horchte eine Minute, aber es kam keine Antwort.

»Kevin!« Ich legte mein Ohr gegen den Spalt und vernahm dahinter ein Rascheln. »Wenn mich jemand hört: Ich bin’s, Spotz. Holt Kevin.«

Noch mehr Geraschel und Flüstern erklang. Dann wurde im Zimmer Licht gemacht, und ich merkte, dass auf der anderen Seite der Tür jemand war.

»Kevin?«

»He, Kevin. Ich bin’s. Ich hol euch da raus.«

Es blieb lange still. »Du klingst gar nicht wie Spotz.«

Ich seufzte. »Ja, das ist es ja gerade. Ich sehe auch nicht so aus. Aber ich war das vorhin bei euch im Zimmer.«

Ich erklärte ihm das mit dem Gestaltentausch. Wir redeten eine Weile hin und her, weil mein bester Freund und alter Schwarzseher mir so gar nicht vertrauen mochte.

Die Zeit lief uns davon und ich hatte langsam genug. Außerdem taten mir meine Wolfsknie weh.

Kevin flüsterte wieder unter der Tür durch. »Na gut. Erzähl mir was, das nur du und ich wissen.«

Hört zu.

Ich stand hier wirklich total unter Druck, okay? Ich tat das nicht gern, aber mir blieb nichts anderes übrig.

»DU HAST DIR BEIM DRACHENTURNIER IN DER ZWEITEN KLASSE IN DIE HOSE GEKACKT UND ICH BIN NACH HAUSE GERANNT, UM DIR EINE SAUBERE ZU HOLEN – ALLES KLAR?«

Die Stille hinter der Tür dehnte sich zu einer Ewigkeit.

Ich weiß, ich hatte in dieser Angelegenheit ewiges Schweigen gelobt – aber was half’s. In verzweifelten Situationen neigt man eben zu Verzweiflungstaten, wie gesagt.

Als Kevin schließlich sprach, klang seine Stimme eisig.

»Komm rein.«

Ich sah mich um.

Der Gang war leer.

Leise schloss ich auf und ging hinein.

Alle hatten sich vor der Tür versammelt, wichen bei meinem Anblick aber sofort zurück – einfach sicherheitshalber.

Einen Moment lang starrten sie nur.

Mrs. Kleinschwein trat als Erste einen Schritt vor. Dann noch einen. Sie streckte die Hand aus und berührte zaghaft meine Wolfsschnauze.

Ich lachte. Mrs. Kleinschwein war die Einzige neben meiner Mom, die mich noch immer so nannte.

»Hallo, Mrs. Kleinschwein. Ja, ich bin's.«

Kevin versuchte ebenfalls, rüberzukommen und mir zu danken, aber ich sah, dass ein Teil seines Gehirns weiterhin stur behauptete, dass da ein Wolf vor ihm stand. Endlich gab er sich einen Ruck und umarmte mich ganz schnell – und fiel anschließend sofort in Ohnmacht.

Als er wieder zu sich gekommen war, wechselte ich schnell mit allen ein paar Worte, um mich davon zu überzeugen, dass sie unversehrt waren. Miss Flett sagte, sie habe einige blaue Flecke, weil sie am Hust- und Pusttag vom Fest weggeschleift worden war, aber sie versicherte mir, sie habe dem Wolf, der sie entführt hatte, auch ein paar schöne Tritte und Schläge verpasst.

Ich erklärte ihnen meinen Fluchtplan und versicherte ihnen, dass wir so schnell keine bessere Gelegenheit finden würden.

Zwei Minuten darauf schlichen wir, so leise wir konnten, über den Gang zur Hintertreppe.