20. KAPITEL

Spätes Betthupferl

Wir mussten auf der Treppe ein paar Mal stehen bleiben, weil einige der Stufen leise und Kevin ziemlich laut gequietscht hatten. Als wir unten ankamen, prüfte ich den Weg zur Hintertür. Der Wächter dort blätterte in einem »Rapunzels Secret«-Katalog – und war überaus wach. Was bedeutete, dass wir durch die Küche nach vorn gehen und dort auf einen verpennteren Wachtposten hoffen mussten.

Im Gänsemarsch schlüpften wir ungesehen um die Ecke in den Vorraum. Als wir uns dort versammelt hatten, führte ich alle in die dunkle Küche. Wir tasteten uns gerade am Tresen entlang, als plötzlich die Kühlschranktür auf der anderen Seite des Raumes aufgerissen wurde und uns in grelles Licht tauchte.

Wir ließen uns hinter dem Tresen auf alle viere fallen, aber irgendwer fiel zu heftig und das war gut zu hören. Ich fuhr zusammen und hielt den Atem an.

»Wer ist da?«

Diese tiefe, knurrige Stimme kannte ich leider gut. Mein Herz setzte zu einem scharfen Galopp an.

Ich hatte keine andere Wahl, und so tauchte ich hinter dem Tresen auf, als ob ich gestolpert wäre. »Huch, ha-ha! Ich bin aber auch ein Tollpatsch.«

Vor dem Kühlschrank zeichnete sich die Silhouette des Großen Bösen ab, der einen weiten flauschigen Bademantel trug und einen Teller voll Truthahnschenkel und Salami in der Hand hielt.

Seltsamerweise war mein erster Gedanke, dass er den Bademantel mitgebracht haben musste, denn Mr. Kleinschweins Schlafrock hätte doch höchstens einen seiner Arme bedecken können.

Dann hörte ich Goldie in meinem Ohr schreien: »Alarmstufe Rot! Macht euch bereit!«

Der Große Böse knipste die Küchenlampe an, und einer meiner Freunde streifte mein Bein, als die anderen sich dichter an den Tresen pressten.

»Das olle Sandmännchen kam einfach nicht …« Ich plapperte wieder drauflos – doch auf einmal juckten meine Ohren wie bescheuert.

Der Große Böse starrte mich angewidert an. Endlich verdrehte er die Augen und trat auf die andere Seite des Küchentresens. Mit der Hinterpfote zog er sich einen Hocker heran und nahm mir gegenüber Platz. Er beugte sich über den Teller, schnappte sich mit einer Hand einen Truthahnschenkel und mit der anderen ein Stück Salami und machte sich darüber her.

Ich war wie erstarrt, glotzte auf seine Zähne, die das Fleisch zerfetzten, und dann merkte ich, wie meine Ohren herabsackten.

Ich berührte meinen Kopf und wusste sofort, was hier passierte: Meine Wolfsohren waren wieder zu Trollohren geworden!

Der Große Böse sah mich mit vollem Mund an. »Willscht du nur da rumschtehn und … Wasch ischt mit deinen Ohren?«

Mir brach der Schweiß aus, während meine Kopfhaut anfing zu prickeln und zu jucken. »Das ist … eine Krankheit.«

Der Große Böse grunzte und wandte sich wieder seinem Fleischteller zu.

Über meinen Stöpsel hörte ich, wie Joe weitergab: »Die Ohren hängen runter, Leute. Die Ohren hängen runter!«

Ich überlegte verzweifelt, was ich jetzt machen sollte, wie ich die Schweine und Miss Flett aus dem Raum schaffen konnte – aber schon sprossen oben auf meinem Kopf büschelweise Haare hervor. Orangefarbene Haarbüschel, wie ich mir sehr leicht denken konnte.

Das hätte doch viel länger dauern müssen! Bestimmt hatte Rebb den Zauber falsch angewandt.

Ich versuchte unbeholfen, meinen Kopf mit den Pfoten zu bedecken, als der Große Böse aufschaute – und diesmal sah er richtig genervt aus.

»Also echt. Hau endlich …« Er legte den Kopf schräg. »Was machst du da?«

Mein Schwanz und meine Schnauze fingen an zu zittern und zu jucken und ich wusste, dass ich hier wegmusste. Aber der Große Böse holte schnell wie eine Schlange aus und packte meinen Arm. Er riss mir die Pfoten vom Kopf und starrte meine Haare an, als mein Schwanz mit einem lauten FLUMMPP-Geräusch verschwand.

Der Große Böse machte ein verwirrtes Gesicht. Er ließ sich zurück auf seinen Hocker sinken, doch da schrumpfte meine Schnauze in einer kleinen Rauchwolke wieder zu einer Trollnase zusammen.

Der Große Böse wich zur Anrichte zurück und stieß etliche Gläser voll benutztem Silberbesteck um. Mitten im Klirren verzog sich seine verdutzte Miene zu einem Fauchen.

Er hatte es kapiert.

Mit einem Satz schnellte er vor und beugte sich über den Tresen. Knurrend packte er mich an den Schultern meiner Jacke. Dabei erblickte er Miss Flett und die Kleinschweins, die auf dem Boden kauerten. Er riss die Augen auf und stieß ein wildes Zorngebrüll aus.

Der Große Böse warf mich quer durch die Küche, als wäre ich eine Packung Porridgepulver. Ich schlidderte über den Küchentisch und landete in der Ecke in einem Durcheinander von Stühlen und Tellern. Dabei hörte ich immer wieder Sierra rufen:

Ich schaute unter dem Tisch hindurch und sah, dass der Wolf meinen Freunden den Weg in den vorderen Teil des Hauses versperrte. Ich stützte mich auf einen Arm und schrie, so laut ich konnte: »LOOOOOS!«

Kevin und die anderen kamen auf die Beine und rannten zur Hintertreppe.

Der Große Böse umrundete den Tresen und schlug nach Mr. Kleinschwein, verpasste ihn aber um einige Millimeter. Ich hörte, wie Schlafzimmertüren geöffnet wurden und riesige Pfoten die Vordertreppe hinunterdröhnten, als die anderen Wölfe angestürzt kamen. Ich schüttelte einen Stuhl ab – mein Trollblut jagte jetzt wie Feuer durch meine Adern –, kletterte über den Tisch und lief hinter ihnen her.

Ich hatte die halbe Waschküche schon hinter mich gebracht, als der Große Böse mich einholte. Er streckte den Arm aus und packte mich mit seiner Riesenfaust an den Haaren. Ich will euch nicht anlügen – das tat weh. Und wie.

Der Wolf erreichte in wildem Tempo den Treppenabsatz und zog mich hinter sich her wie eine Lumpenpuppe – ich knallte gegen das Geländer und meine Nase stieß auf dem Weg nach oben gegen jeden einzelnen Gitterstab.

Wir erreichten das obere Stockwerk in dem Moment, als die Tür zu Kevins Zimmer zugeknallt wurde, wo Miss Flett und die Kleinschweins sich in Sicherheit zu bringen versuchten. Am anderen Ende des Ganges tauchten zwei Wölfe auf. Der Große Böse wartete ungeduldig, während einer der beiden die Tür für ihn aufstieß. Er riss mir die Lederjacke vom Leib und schleuderte mich in das Zimmer, dann baute er sich in der Tür auf – und seine Brust hob und senkte sich wie kurz vor einer Explosion. Ich lag auf dem Rücken und sah vor mir eine auf den Kopf gestellte Horrorvision.

Der Große Böse stieß ein Geheul voll Zorn und Abscheu aus, welches das ganze Haus zum Beben brachte. Dann drehte er sich um und versetzte einem der Wölfe hinter ihm einen Rückhandschlag – worauf dieser aufjaulte und sich in Sicherheit brachte.

»Wie konnte das passieren? Häh? Drei von euch Trotteln werden dieses Zimmer hier bewachen. Ist das klar?« Damit knallte der Große Böse die Tür zu, und wir lauschten seinen Schritten, als er sich durch den Gang entfernte und dabei die Bilder von der Wand fegte.

Niemand sagte etwas, alle mussten erst einmal wieder zu Atem kommen (und Kevin versuchte, mit Hyperventilieren aufzuhören). Ich lauschte dem Geräusch des Schlüssels, als die Tür von außen abgeschlossen wurde, ehe ich etwas sagte.