Nach der letzten Stunde lief Kevin erwartungsvoll zu seiner Verabredung mit dem Vertretungslehrer. Den Bildungsdrang dieses kleinen Irren konnte ich nur bewundern.
Ich war jedoch nicht ganz bei der Sache, als Joe und ich zu unserem Baumhaus gingen; immer wieder musste ich an den Vertretungskerl denken. An seinen Übereifer. Seinen komischen, unförmigen Körper – so pummelig und plump, als ob er unter seinem Mantel eine Ladung Ellbogen zu schmuggeln versuchte. Joe wollte einen neuen Witz an mir testen. Zu meinem Leidwesen benutzt er mich oft als Testpublikum.
»Okay, hör zu. Wie bringst du ein Taschentuch zum Tanzen?« Ich schauderte und fragte mich, wie blöd die Pointe wohl sein würde.
Ich stöhnte und kicherte höflich..
Über Miss Flett wollten wir wohl beide nicht sprechen. Joe quasselte fast die ganze Zeit von einem Zwerg in seinem Englischkurs, dessen Eltern ihm ein Tattoo erlaubt hatten.
»Was für Eltern erlauben denn so was?«, rief Joe. »Mein Dad würde mich umbringen – oder mir zumindest meine Fips-Asmussen-Videos wegnehmen.«
Wir näherten uns dem Wunschbaum, und ich gab mir alle Mühe, dem Gespräch zu folgen.
»Ach, irgend so ein Adler, der einen großen hässlichen Wolf in den Krallen hält oder so. Aber das Teil ist riesig. Es ist fast dreißig Zentimeter lang. Dreißig Zentimeter! Der Zwerg selbst ist höchstens sechzig Zentimeter groß. Der Wolf hat ja kaum Platz!«
Joe hielt inne, als er mein Gesicht sah. Mir war plötzlich am ganzen Leib eiskalt geworden. Etwas an diesem Wolfstattoo hatte in meinem Gehirn einen Schalter umgelegt.
Der Wolf hat kaum Platz …
Große Zähne …
Riecht wie Gramps …
Miss Flett verschwunden …
Wir standen schweigend vor dem Wunschbaum, als die Puzzleteile sich in meinem Gehirn zu einem Bild zusammenfügten.
Der Wunschbaum legte mit Wünschen los, aber ich hörte nicht hin.
»Wir müssen zu Kevin!« Ich klang vermutlich wie ein Roboter.
»Wir müssen sofort zu ihm.«
Dann löste ich mich endlich aus meiner Erstarrung und rannte los. Joe zögerte keinen Moment und rannte gleich darauf neben mir.
»Wo ist das Problem?«, brüllte er, als wir uns den kürzesten Weg durch irgendein Gebüsch suchten und auf die Zweige um uns herum einhieben.
Weil mir das Herz bis in den Hals schlug und wir ja schließlich rannten wie die Verrückten, fiel es mir schwer, dabei auch noch herumzubrüllen.
Aber ich brachte es dann doch heraus.
»Ich wusste, dass mit diesem Schaf etwas nicht stimmt! Denk doch mal nach«, keuchte ich. »Die Zähne! Der Geruch! Und dass seine Kleider ihm nicht richtig passen! Das ist kein Schaf, Joe! Mr. Wollenschweif ist ein Wolf und jetzt ist er allein mit einem kleinen Schweinchen.«
Joe machte große Augen.
Er zog den Kopf ein und rannte noch schneller.
Ich hinterher.
Als wir über den Parkplatz unserer Schule jagten, stand Goldie vor ihrem Golfmobil und wienerte emsig die Windschutzscheibe. Verdutzt schaute sie auf, während Joe und ich losschrien wie angestochen:
»»Trommel alle zusammen! Kevin ist in Gefahr! WOLF!«
Und dann waren wir an ihr vorbei. Die Eingangstür schlug krachend auf, was in den leeren Gängen wie ein Kanonenschuss widerhallte, als wir zum Treppenhaus stürzten. Wir nahmen vier Stufen auf einmal hinab und schlitterten am Fuß der Treppe gegen die mit Postern zugeklebte Wand. Ich sah, dass die Tür zu Miss Fletts Klassenraum geschlossen war. Mein Herz, das irgendwo hinten in meinem Hals gesessen hatte, rutschte mir in die Füße. Joe war um Haaresbreite vor mir an der Tür und riss sie auf. In einer Wolke aus Schweiß und Fell und Panik taumelten wir ins Zimmer … und wir stanken sicher auch, das muss ich zugeben. Wir stanken sogar ganz schön heftig.
Kevin schaute auf. Er saß an seinem Tisch und machte sich in aller Ruhe Notizen. Er sah ein wenig verwirrt aus.
»Hallo, Leute.«
Ich war dermaßen außer Atem, dass ich kaum ein Wort herausbringen konnte.
»Mr. Wollenschweif« lehnte lässig an Miss Fletts Pult.
»Habt ihr Jungs eingesehen, dass ihr auch ein bisschen Hilfe bei der Büffelei braucht?« Er richtete sich auf und trat hinter das Pult. »Ich hab meinem Kumpel hier schon ein paar Tipps gegeben und er hat mir ein bisschen mehr über eure Klassenkameraden erzählt. «
»Kevin«, sagte ich so ruhig, wie mein hektisch klopfendes Herz das erlaubte. »Stell dich bitte sofort neben Joe.«
Wollenschweif zuckte zusammen, als ich einige Schritte auf ihn zutrat. Doch Kevin blieb einfach sitzen.
»Ihr habt keine Ahnung, was Mr. Wollenschweif für eine große Hilfe ist. Er ist …«
Da sprang ich auf einen Stuhl, packte Wollenschweif oben am Kopf und riss an dem Fell. Eine Kapuze rutschte zurück – und enthüllte einen schäbig aussehenden Wolf, der uns überrascht anblickte.
Kevin schrie schriller los, als ich das je für möglich gehalten hätte.
Aber Kevins Schrei blieb ihm im Halse stecken, als er sah, wie der verdutzte Gesichtsausdruck des Wolfs sich im Nu in einen wütenden verwandelte.
»HÄNDE WEG, Troll!« Er riss sich aus meinem Griff los. »Ich fetz dir deine räudige Gurgel aus dem Hals, ehe du auch nur die Pfoten heben kannst!«
Und nun, da ich zum ersten Mal in meinem Leben einem Wolf von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, glaubte ich ihm das sofort.
Als er weiterredete, fiel mir auf, dass die hohe Stimme nicht zu seiner Verkleidung gehört hatte. »Haste’s also durchschaut«, näselte er. »Na, was für ’ne supertolle Leistung, BRAVO, Scheiße noch mal!« Dann schrie er über seine Schulter hinweg in Richtung Fenster:
Joe und ich fielen darauf herein und schauten hinaus – doch draußen war niemand zu sehen. Das aber war alles, was der Wolf an Zeit brauchte. In einer schändlich eleganten Bewegung schnappte er sich Kevin, klemmte ihn sich unter den Arm und war aus dem Raum.
Joe und ich sprinteten auf den Gang. Kevin quiekte so laut, dass ich hoffte, die anderen Lehrer oder Direktor Haggard würden angelaufen kommen, aber die Schule schien so gut wie leer zu sein. Wir verfolgten die beiden die Treppe hoch und dann durch den Hauptgang. Bevor er den Eingang erreichte, mussten wir den Wolf unbedingt aufhalten. Wir holten auch schon auf, als wir an den überfüllten Mülltonnen vor der Mensa vorbeikamen – und Joe auf einen halb vollen Porridgekarton trat.
Er rutschte glatt vier Meter weit – eine Leistung, die unter anderen Umständen eine Runde Applaus verdient hätte –, und knallte gegen einen der Schränke, in denen die Pokale ausgestellt waren. Der Schrank brach über ihm zusammen und Pokale für Tjostsiege und Bogenschießen schepperten durcheinander.
Ich wirbelte herum, um zu sehen, ob Joe verletzt war, während der Wolf und Kevin durch den Haupteingang verschwanden.
Joe war unter dem schweren Schrank gefangen. Er war total außer Atem und sein Knöchel schien etwas abbekommen zu haben, aber er winkte mir fieberhaft weiterzurennen.