Kapitel 2

Der erste Blick

 

Das Jahr 2012

 

 

 

Hope lag flach und versteckt auf einem kleinen Felsen, während die Brandung ihre Hüften umspülte. Fast automatisch berührte sie ihr kostbarstes Gut, eine wahrhaft magische Muschelkette, die geschmeidig um ihren Hals lag. Sie hatte sie noch nie benutzt, doch gerade war die Versuchung, es zu tun, überirdisch groß. Die Kette bedeutete ihr alles, denn sie gab ihr die Möglichkeit, ihrer Tante irgendwann zu folgen.

Jeder Meeresbewohner besaß nur eine Kette dieser Art und trug sie täglich, wenn auch nicht, um sie tatsächlich zu verwenden. Es war eine Art Bann. Ohne sie fühlte man sich unvollständig und wurde nervös. Meeresbewohner hüteten ihre Ketten wie einen gigantischen Schatz. Sie war unersetzbar. Jedes Meeresbaby, das die Nacht des Meeresbodens erblickte, besaß eine einzigartige Schuppe mit anhaltend magischer Wirkung. Diese außergewöhnliche Schuppe zierte den Bauchnabel der kleinen Neuankömmlinge und wurde kurz nach der Geburt entfernt, um an das oberste Hexenorakel weitergereicht zu werden. Dieser fertigte in den geheimen Labyrinthen jene mystischen Ketten, die den Nixen und Meermännern erlaubten, jederzeit menschliche Gestalt anzunehmen. Dabei funktionierte jede Kette nur bei seinem wahren Träger. Das machte dieses Schmuckstück so einzigartig für die Meeresbewohner.

»Hier steckst du also. Hätte ich mir ja denken können«, rief Mia ihr aus einiger Entfernung zu.

Die Stimme ihrer besten Freundin würde Hope immer und überall erkennen. Sie machte sich nicht die Mühe, sich ihr zuzuwenden, denn Mia tauchte wieder ab, um Sekunden später, neben ihr erneut aufzutauchen.

»Warum tust du dir das an, Hope, fragte Mia sie traurig. »Du wirst nie eine von ihnen sein. Das ist nicht deine Welt. Wann siehst du das endlich ein

»Tante Sidney hat es geschafft. Sie gehört in diese Welt

»Ja, ja. Für mich und jeden anderen in Ocean Mayrin gilt deine Tante als vermisst und du weißt, dass die Mehrheit deines Volkes hinter vorgehaltener Hand sogar von ihrem Tod spricht. Wie kannst du also auch nur in Erwägung ziehen, ein Mensch zu werden? Glaub mir, das ist nichts für dich. Kein Mensch wird dich je lieben, wenn er erfährt, was du bist. Sie würden dich jagen. Ist es das wert

Mia legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Sie zwang sich, Mias wohlwollende Geste über sich ergehen zu lassen, und ihre Hand nicht brüsk abzustreifen. Mia seufzte und zog ihre Hand zurück. Hope deutete in Richtung Ufer.

Mia riskierte einen Blick auf den von aufgekratzten Teenagern überfüllten Strand. Nach einigen Minuten schüttelte sie ablehnend den Kopf. »Was findest du nur an dieser Spezies? Schon allein diese komischen Flossen …«

»Beine, Mia. Es sind Beine

»Was auch immer. Es ist mir ein Rätsel, wie die Menschen damit zurechtkommen

»Das Gleiche würden sie bestimmt auch über deine Flosse denken

Abrupt und wie zum Widerspruch schoss Mias grellpinke Schwanzflosse pfeilschnell in die Höhe und schlug mit einem mächtigen Hieb aufs Wasser. Hinter den beiden stieg eine riesige Wasserfontäne auf, die in sanften Tropfen auf sie niederregnete.

Entsetzt warf Hope einen Blick Richtung Strand, aber niemand schien etwas bemerkt zu haben.

»Was hast du nur gegen meine schöne Flosse, fragte Mia gekünstelt pikiert, drehte sich auf den Rücken, reckte die Flosse erneut aus dem Wasser und musterte sie anscheinend selbstverliebt.

Hope tat es ihrer Freundin gleich und legte sich ebenfalls sichtgeschützt auf den Felsen. Sie betrachteten stumm ihre Flossen. Die Sonne ließ sie in den unglaublichsten Farben schimmern. Ihre Schuppenkleider spiegelten minütlich ihre Stimmungen und auch deren Schwankungen wider. Einige von Mias Schuppen waren aus einem hellen Rosa und zeigten Hope, dass ihre kleine, zickige Freundin gerade ziemlich selbstsicher und zufrieden mit sich war. Hatte Hopes Flosse vor einigen Minuten noch in einem strahlenden Sonnengelb vor Glück geschimmert, waren die Schuppen nun von einem matten, herbstlichen Orange überzogen. Sie war deprimiert.

Sie verstand Mias Einwand, doch ihre Freundin hatte das Talent, jedem Meeresbewohner ihre Meinung hemmungs-, und vor allem schonungslos vor die Schuppen zu klatschen. Von Feinfühligkeit hatte Mia noch nie etwas gehört. Und ja, sie hatte recht. Jeder Bewohner von Ocean Mayrin – Hope eingeschlossen – war unglaublich stolz auf seine Schwanzflosse. Dennoch war Hope wohl die Einzige ihrer Spezies, die für ein Paar Beine darauf verzichten würde.

»Du denkst nicht wirklich darüber nach? Deine Mutter würde das niemals zulassen, von deinem Vater ganz zu schweigen. Du weißt, deine Tan…«

»Ja, ja. Aber keiner weiß, was wirklich mit Sidney passiert ist. Ich sage es dir nun zum wiederholten Mal. Sie ist nicht tot

Mia stöhnte laut auf. »Komm nach Hause in dein richtiges Leben, wenn es dir hier zu lahm wird. Ich hau’ ab. Bis später, Süße Kurz darauf spritzte erneut ein Schwall Wasser auf und Mia war verschwunden.

Hope drehte sich wieder zurück auf den Bauch und beobachtete weiter den bunten Trubel am Strand. Mia hatte ihre gute Laune vertrieben. Ihr wurde langweilig und sie beschloss, nach Hause zu schwimmen. Sie hatte sich schon abgewandt, als sie ein undefinierbares Bauchgefühl dazu zwang, noch einmal einen Blick zu riskieren.

Ihr Blick verharrte auf einem gut aussehenden Jungen, der mit einigen anderen Menschen den Strand entlangging. Wieso war er ihr noch nie aufgefallen? Hope wollte weiterhin nach Hause, aber ihre Flosse ließ sich nicht bewegen und sie konnte den Blick von diesem jungen Menschen nicht abwenden. Er war nur mit einer kurzen Hose bekleidet, was hier am Strand nichts Ungewöhnliches war, dennoch stockte ihr bei seinem Anblick kurzfristig der Atem. Wenn nur Mia noch hier wäre. Was sie wohl von diesem männlichen Exemplar halten würde?

Der Junge hatte eine wahnsinnig gute Figur für einen Menschen, war braun gebrannt und verfügte über zwei wunderbar muskulöse Beine. Seine Haare glänzten goldbraun in der Sonne und sein Lächeln löste selbst aus dieser Entfernung ein befremdliches Kribbeln hinter ihrem Bauchnabel aus. In einer Hand trug er ein rundes Etwas. Es war wohl eine Art Spielzeug, denn einige Teenager warfen ein ähnlich aussehendes Ding unentwegt über ein gespanntes Netz, das fast so wie die Netze, mit denen die Menschen Fische aus den Meeren holten, aussah. Ein paar Mal hatte Hope gesehen, dass die Jungen mit ihren Beinen darauf eintraten und versuchten, dieses runde Ding zwischen zwei Felsen zu platzieren. Gelang es, jubelten ihnen immer einige Mädchen zu.

Menschen waren in gewissen Dingen eigentümlich und für Hope schwer einschätzbar. Sie war zwar nicht völlig unwissend, was das Leben der Menschen betraf, aber sie kannte vieles nicht, was für diese Spezies anscheinend völlig normal war.

Ihre Tante Sidney war über mehrere Jahre Landgänger gewesen, ehe sie eines Abends nicht wieder nach Ocean Mayrin zurückkehrte. Als sie noch bei ihrer Familie lebte, teilten sie das Interesse und die Leidenschaft für die Spezies der Menschen und sie hatte ihr einiges über ihre Art und deren Leben beigebracht. Nur leider hatten Sidneys Ausführungen über ihr Leben bei den Menschen Hopes Interesse daran nicht gedämpft, sondern eher gesteigert.

Hope war hypnotisiert und irritiert zugleich. Menschen faszinierten sie schon, seit sie denken konnte, doch nie hatte sie ein einzelnes Individuum so sehr in seinen Bann ziehen können, wie es dieser Junge tat.

Er warf dieses runde Ding in die Höhe, balancierte es kurze Zeit auf einem Finger und warf es anschließend einem seiner Begleiter zu. Er ließ sich auf etwas Buntem nieder, das er zuvor auf dem Sandboden ausgebreitet hatte. Die Beine angewinkelt, mit den Armen umschlungen, saß er da und starrte gebannt aufs Meer hinaus. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Es schien, als suchte er etwas. Sein Blick wanderte am Horizont entlang und blieb an ihrem Felsen hängen. Ertappt zog sie ihren Kopf ruckartig zurück. Hatte er sie etwa bemerkt? Sie überzeugte sich davon, dass ihre gesamte Flosse unter Wasser versteckt war. Nein, er konnte sie nicht gesehen haben. Auf keinen Fall.

Einige Minuten hielt sie sich noch hinter dem Felsen versteckt und lauschte ihrem beschleunigten Herzschlag. Je länger sie sich im Verborgenen hielt, desto nervöser wurde sie. Ihre Hände fingen von den Fingerspitzen her an zu kribbeln und ihre Atmung ging immer noch viel zu stockend und unheimlich schnell. Zum allerersten Mal steckte irgendwo tief in ihr ein kleiner Hauch von Angst. Dabei musste sie sich vor nichts fürchten. Sie war eine Nixe, ein starkes Meermädchen und selbst, wenn er sie entdeckt hätte, würde er seinen Augen keinen Glauben schenken.

Als sie erneut hinter ihrem Versteck auftauchte und Richtung Strand lugte, unterhielt sich der Junge mit einem anderen, den Hope ebenfalls noch nie hier gesehen hatte, zumindest war er ihr noch nie zuvor aufgefallen. Er hatte sie also nicht entdeckt. Ihre Haltung wurde entspannter, ihr Herzschlag innerhalb kürzester Zeit ruhiger. Sogar mehr als das: Neugier breitete sich in ihr aus und verdrängte letztlich jegliches Gefühl von Scheu und Angst. Sie wollte mehr von diesem unglaublich gut aussehenden Jungen sehen, wollte seine Stimme hören. Hope schwamm unvorsichtigerweise näher an den Strand heran. Der letzte Felsen, der ihr eine einigermaßen gute Deckung bot, war noch etwa zehn Meter von den beiden Jungen entfernt. Es war riskant, aber das war ihr augenblicklich egal. Mia wäre in Ohnmacht gefallen, wenn sie sehen könnte, was sie gerade trieb. Ihr Handeln war falsch und gefährlich, doch sie konnte diese Aktion nicht einfach abbrechen und sich in Sicherheit bringen. Die Menschen, allen voran dieser Junge, faszinierten sie zu sehr.

Vorsichtig tauchte Hope hinter ihrem neuen, felsigen Versteck auf. Sie musste darauf achten, dass keiner dieser jungen Leute weit genug herausschwamm, um sie entdecken zu können. Aber die Luft war rein, und so konzentrierte sie sich auf das Objekt ihrer derzeitigen Begierde.

»Wo hast du denn eigentlich Amber gelassen, erkundigte sich der rothaarige Typ, der neben ihm auf diesem bunten Teppich, oder was auch immer, Platz genommen hatte.

Hope lauschte auf die Antwort. Amber. Bei diesem Namen musste es sich um ein Mädchen handeln. War sie seine Freundin?

»Wie, zum Teufel, kommst du ausgerechnet jetzt auf Amber? Du weißt doch, dass wir kein Paar mehr sind

Heiliger Poseidon! Diese Stimme war genauso göttlich wie der Rest des Jungen. Hopes Herz verfiel erneut in einen schnelleren Rhythmus und ein erwartungsvolles Kribbeln zog sich durch ihren gesamten Körper.

Was tat dieser Mensch nur mit ihr? Nie zuvor hatte sie derart auf ein fremdes Wesen reagiert. Dabei beobachtete sie die Menschen schon ihr Leben lang. Sie musste dringend nach Hause, um diese Erfahrung mit Mia zu teilen, aber sie konnte sich einfach nicht von dem Anblick dieses Jungen losreißen. Noch nicht.

»Sorry Gabriel«, sagte der Junge neben ihm gelassen, »aber vor Kurzem wolltest du Amber noch zurückerobern, oder irre ich mich da

Gabriel hieß der Junge also. Gabriel. Gabriel. Welch klangvoller Name. Gabriel.

»Das ist doch Wochen her! Ich bin drüber weg – glaub mir«, antwortete Gabriel.

»Klar doch Der Rothaarige nickte bedeutungsschwer.

Er hatte keine Freundin. Diese banale Erkenntnis vergrößerte unglaublicherweise die Bewunderung, die Hope für ihn empfand. Was war nur los mit ihr? Wenn Sidney doch bei ihr wäre. Sie wüsste, wie Hope mehr über diesen Jungen namens Gabriel erfahren könnte.

Hope vermisste ihre Tante wirklich.

Mehrere aufgekratzte Stimmen kamen auf sie zu. Surfer. Sie kamen schneller näher, als ihr lieb war, und so musste sie sich gezwungenermaßen zurückziehen. Hope beschloss, am nächsten Tag und genau zur gleichen Tageszeit wieder zurückzukommen. Sie musste ihn einfach wiedersehen. Das musste sie!

 

*

 

Mia platzte fast vor Neugier. »Und? Wie war dein Nachmittag bei den Menschen Nach dem Abendmahl traf sie Hope in ihrer kleinen, geheimen Lagune. Hope hatte ihr während des Essens zu verstehen gegeben, dass sie wichtige Neuigkeiten für sie hatte.

»Ich habe einen Menschenjungen beobachtet, er heißt Gabriel und er sieht verboten gut aus. Zumindest für einen Menschen. Mein Magen macht Saltos, wenn ich an ihn denke, kannst du das verstehen? Ach Mia, ich muss ihn unbedingt wiedersehen

Mia traute ihren Ohren nicht. »Du kennst sogar seinen Namen? Wie das? Sag mir nicht, dass du dich mit ihm unterhalten hast

»Natürlich nicht. Ich bin doch nicht so dumm, mich einem Menschen zu zeigen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Wer weiß …«

»Das ist nicht dein Ernst, fragte Mia, nachdem Hope ihre Ausführungen beendet hatte. »Hast du noch alle Fische im Teich? Ich meine, wie stellst du dir das vor? Du hast Flossen – er hat Beine, du hast Schuppen – er wahrscheinlich überall makellose Haut, du kannst unter Wasser atmen – er ertrinkt. Kann man noch unterschiedlicher sein

Mia war Kummer gewohnt. Hope zog Schwierigkeiten an wie ein Angelhaken Fische, dennoch tat ihr ihre Freundin leid. Sie sah enttäuscht und verletzt aus. Zu gern hätte sie sie getröstet, aber diesmal ging Hope zu weit. Wenn ihre Eltern von ihren Ausflügen Wind bekämen, und erfahren würden, dass Mia nichts dagegen unternommen hatte, wäre sie ihren Job ein für alle Mal los. Wieso verstand Hope einfach nicht, dass von den Menschen viel zu viele Gefahren ausgingen?

»Mia Hope seufzte und blickte auf. »Wenn nicht einmal du mich verstehst, wer soll es denn verstehen

Mia schüttelte abwehrend ihre schwarzen Locken. »Süße, ich verstehe dich doch, aber als deine beste Freundin muss ich dich vor diesem Fehler beschützen. Hope, sieh es ein. Die Welt der Menschen ist nichts für uns! Wir sind Meeresbewohner. Wir sind nicht wie sie und sie nicht wie wir. Sie können uns nicht lieben, denn sie jagen alles, was sie nicht kennen oder verstehen. Zum Poseidon! Hope, du warst im Unterricht immer die Beste in Menschenkunde. Hast du etwa alles vergessen, was wir in der Schule gelernt haben

»Natürlich nicht Hope schüttelte den Kopf und Mia krümmte sich unter ihrem erbosten Blick. »Aber denk mal nach Mia. Das sind bestimmt alles nur Schauermärchen, um uns von den Menschen fernzuhalten. Du glaubst doch nicht im Ernst alles, was sie uns da eingebläut haben? Ich dachte, du wüsstest es besser, schließlich hast du die Erzählungen meiner Tante oft genug gehört

Mia seufzte, wie so oft, wenn sie ihrer Freundin nichts entgegenzusetzten hatte. »Ich weiß, dass ich dich nicht umstimmen kann, aber bitte versprich mir, dass du nichts überstürzt. Bitte Sie schwamm auf Hope zu und schloss sie fest in ihre Arme.

Hope erwiderte ihre Umarmung, gab ihr aber nur widerwillig das Versprechen, nichts zu tun, ehe sie nicht Bescheid wusste.

»Lass uns nach Hause schwimmen«, bat Mia. Sie knuffte Hope mit den Worten »Du bist in die Schulter und schoss pfeilschnell Richtung Ocean Mayrin davon.