Kapitel 8
Auf wackligen Beinen
»Da mache ich nicht mit! Auf keinen Fall.« Mia saß in Sidneys Grotte auf einem kleinen Stückchen Gesteinsvorsprung, das sie sich freigeräumt hatte, und schüttelte energisch den Kopf.
»Bitte, Mia. Du bist doch meine beste Freundin.«
»Du hast es erfasst. Darum werde ich auch mit Sicherheit nicht zusehen, wie du in dein Verderben schwimmst. Oder von mir aus auch – gehst.«
Sie fand die Aussicht schrecklich, Hope heute Abend dabei zuzusehen, wie sie als vermeintlicher Mensch ihrer Heimat den Rücken kehrte. Sie wusste, dass Hope nicht vorhatte, ihren Ausflug, wie sie es nannte, länger als ein paar Stunden auszukosten, aber ihre Angst galt nicht nur Hope allein. Hopes Vorhaben bereitete ihr allgemein Sorgen. Was, wenn irgendetwas schiefging? Würde sie ihre Tarnung aufgeben und ihrer zukünftigen Königin zu Hilfe eilen müssen? Unter normalen Umständen würde sie sich eine solche Frage niemals stellen müssen, aber an diesem Abend müsste sie dafür ihre Kette benutzen und Hope an Land folgen. Leider war ihr das Menschsein an sich schon immer zuwider gewesen.
Mia wusste genau, dass sie ihre Entscheidung revidieren würde, sobald Hope auch nur der Hauch einer Gefahr drohte. Sie hatte sie noch nie im Stich gelassen, und das würde sie auch dieses Mal nicht. Niemals.
Sie sah Hope weiterhin beim Packen zu. Kurze Zeit später hatte Hope alles beisammen. Mia zählte einige Kleidungsstücke und ein Handtuch – wie Hope es nannte. Außerdem war auch etwas Schmuck, samt der Umverpackungen, in Hopes Tasche gewandert. Selbst als sich Hope mit ihrer Ausbeute ins Wasser gleiten ließ, konnte sie sich nicht dazu durchringen, jetzt schon nachzugeben. Sie spürte, wie Hopes trauriger Blick sie förmlich durchbohrte und wusste sofort, dass sie nicht auf sie warten würde, sollte sie ihr nicht folgen.
*
Hopes Gefühle schwankten zwischen Wut, Traurigkeit, gekränkter Eitelkeit und Verständnis. Sie liebte Mia wie eine Schwester, vertraute auf ihren Rat und stellte ihre Entscheidungen meist nicht infrage, aber in dieser Nacht würde sie ihr Versprechen Gabriel gegenüber auf jeden Fall halten und Mia somit zwangsläufig enttäuschen. Es schmerzte sie, dass sie für ihre Sturheit ihre beste Freundin verletzen musste, aber sie sah einfach keinen anderen Weg. »Mia? Kommst du?«
Doch Mia, die sonst immer mit ihr durch dick und dünn schwamm, schüttelte nur ablehnend den Kopf.
»Es tut mir leid, Mia. Ich muss das tun. Wirklich. Wir … Na ja, bis später.«
Hope sank langsam tiefer. Tränen sammelten sich in ihren Augen und vermischten sich mit dem Salzwasser des Meeres, während Mia immer weiter aus ihrem Blickfeld verschwand. Sie schwamm in Richtung Strand und fühlte sich dabei so miserabel wie lange nicht mehr. Ihre Flossenschläge wurden mit jedem ihrer trübsinnigen Gedanken schwächer, und sie glitt immer langsamer voran. Bis sie sich schließlich gar nicht mehr fortbewegte. Sie schwebte. Zwischen Meeresgrund und Wasseroberfläche, zwischen Ocean Mayrin und Mokuleia Bay, zwischen Mia und Gabriel, Liebe und Verstand. Sie sollte umkehren, aber sie konnte nicht. Sie, ach, sie wusste ja auch nicht.
»Na? Da bist du ja nicht weit gekommen. Sag bloß, du machst schon Pause?«
Hope schnellte zu der bekannten Stimme hinter sich herum. »Mia!«
Einen Flossenschlag später hatte Hope ihre Arme freudestrahlend um Mias Hals geschlungen.
Mia erwiderte ihre Umarmung.
»Du bist mir gefolgt.« Hope lachte und war erleichtert, ihre Freundin an ihrer Seite zu haben.
»Sag mir einfach, was ich tun soll. Und lass mich los, ich krieg keine Luft mehr.« Mia schob sie ein wenig auf Abstand.
Hope nahm sie bei der Hand und schwamm mit ihr zu einer kleinen, feinen Bucht, die ganz in der Nähe des Mokuleia Bay lag. Momentan war dieser Strandabschnitt menschenleer, wie Hope es gehofft hatte. Doch statt der Freude, die sie noch vor ein paar Sekunden verspürt hatte, machte sich nun Unbehagen in ihrem Innersten breit. Zweifel keimten in ihr auf. Handelte sie richtig? Konnte sie wahrhaftig ihre gesamte Existenz für einen Menschen aufs Spiel setzen? »Mia?« Hope stöhnte.
»Keine Sorge, ich hab alles verstanden. Sobald du weg bist, schwimme ich zum Strand. Ich werde dich, und vor allem die Menschen um dich herum, im Auge behalten. Versprochen.«
Hope nickte. Das flaue Gefühl in ihrem Magen war zwar immer noch da, aber wenn sie es jetzt nicht wagte, wann dann? Außerdem konnte sie sich auf Mia verlassen. Sie würde auf sie aufpassen. Ihr konnte nichts passieren.
Sie holte aus und ihre Tasche landete zielsicher auf dem sandigen Untergrund. Ein letzter Blick zu Mia, bevor sie sich aus dem Wasser stemmte. Ihre Arme zitterten, als sie sich Zentimeter für Zentimeter weiter auf den trockenen und schroffen Untergrund zog. Ihr Schwanz zuckte unkontrolliert über die ungewohnte Oberfläche, als hätte ihre Flosse ein Eigenleben entwickelt und Angst, für immer von ihrer Trägerin getrennt zu werden.
Hope hievte sich weit genug vom Wasser entfernt auf den trockenen Strand und griff mit einer Hand an ihre Muschelkette. Sie sah, dass Mia gebannt den Atem anhielt und ihr ermutigend zunickte. Hope erinnerte sich an die Verwandlungen ihrer Tante und daran, was Sidney dabei immer getan und gesagt hatte. Sie schluckte. Ein dicker Kugelfisch schien sich auf ihre Stimmbänder gelegt zu haben. Ihr Hals fühlte sich mit einem Schlag rau und kratzig an. Sicherlich würde sie keine einzige Silbe über ihre sowieso schon ausgetrockneten Lippen bringen.
»Nun mach schon, Hope. Ich kann erst losschwimmen, wenn du dich verwandelt hast.«
Hope holte ein letztes Mal tief Luft. »Bei … bei meiner Seele gebiete ich dir, mach mich zum Menschen, denn ich will weg von hier.«
Gleißende Helligkeit erfüllte die im Dämmerlicht liegende Lagune. Sie blinzelte dagegen an, denn da sie nicht die geringste Veränderung ihres Körpers spürte, wollte sie wenigstens mit eigenen Augen sehen, wie sie sich veränderte. Doch ihr Licht war viel heller, als sie es jemals bei ihrer Tante erlebt hatte, und sie hob die Hand schützend vor ihre Augen. Neugierig lugte sie zwischen ihren leicht gespreizten Fingern hindurch.
An ihrer Schwanzspitze ließ das Licht als Erstes nach. Statt der Flosse sah sie nun kleine menschliche Zehen. Sie versuchte, jeden einzelnen davon zu bewegen, und plötzlich tanzten alle Zehen wild durcheinander. Das Licht zog sich langsam zurück und gab Hope den Blick auf ein Paar dazugehörende Füße frei. Je weiter das in sich schwächer werdende Licht entschwand, desto mehr konnte sie von ihren neuen, menschlichen Beinen entdecken. Sie waren lang und schlank und warteten nur darauf, benutzt zu werden. Hope wackelte probeweise erneut mit ihren neuen Zehen und betrachtete sie. Ihre Nägel glitzerten golden im letzten, schon verglimmenden Sonnenlicht. Ihr Blick glitt weiter an sich herauf und sie berührte ihre Beine, die sich ganz anders als die schuppige Flosse anfühlten. Sie waren glatt, seidig weich und warm. Obendrein war ihr Unterkörper in einen kurzen, gelben Rock gehüllt. Über ihrem Oberkörper trug sie ein dünnes, ebenfalls gelbes Top und eine Art langärmlige weiße Strickweste, wenn sie den Bezeichnungen aus Sidneys Aufzeichnungen Glauben schenken konnte.
Alles an ihr fühlte sich seltsam und unwirklich an. Ihre neuen Beine ebenso wie die Kleidung. Ihr fragender Blick huschte zu Mia, die immer noch regungslos staunend im Meer verharrte.
»Nun steh schon auf«, rief Mia ihr zu. »Lass mich deine Beine sehen. Sind sie schön? Nun mach schon!«
Noch einmal wackelte Hope mit ihren Zehen, zog die Beine an ihren Oberkörper und drehte sich um, sodass sie sich auf ihren Knien befand und sich mit ihren Händen im Sand abstützte. Unsicher krabbelte sie auf einen kleinen Felsen zu und zog sich daran empor. Das Ganze fiel ihr gar nicht so leicht, wie sie es sich erhofft hatte. Ihre Beine fühlten sich an, als ob sie noch nicht wirklich zu ihrem Körper gehörten. Sie waren so weich und nachgiebig wie Seetang. Hope spürte, wie unsicher und wacklig sie auf diesen menschlichen Gliedmaßen stand. Instinktiv streckte sie ihre Arme seitlich aus und versuchte verzweifelt, eine Balance zwischen dem starren Untergrund und ihren schlaksigen Beinen herzustellen. Ein paar beruhigende Atemzüge später hatte sie sich ein wenig an das neuartige und schwankende Gefühl gewöhnt. Ihr Stand wurde fester. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und drehte sich zu Mia um.
»Mein Gott, Hope. Du bist einfach wunderschön.«
Ein Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht. Mia hatte recht. Sie war wirklich wunderschön, zumindest für einen Menschen. Langsam hob sie ein Bein und setzte es wieder ab. Dann hob sie das andere Bein und grub auch dieses wieder in den Sand. Immer schneller wiederholte sie diese Trockenübung des Gehens, bis sie schließlich hüpfend vor Mia umhertollte. Ihr Rock wippte im Takt ihrer Sprünge um ihre zarten Schenkel und ihre Haare wirbelten wild um ihr Gesicht. Dieses einzigartige Gefühl von Freiheit ließ Hope alles um sich herum vergessen.
»Wow, du bist wohl ein Naturtalent.«
»Ich weiß nicht, aber es fühlt sich wahnsinnig gut an, Mia.«
»Es wird Zeit, Hope. Gabriel wartet sicherlich schon auf dich«, sagte Mia und erinnerte sie damit an ihr eigentliches Vorhaben.
Hope nickte. Schnell schnappte sie sich das mitgebrachte Handtuch und das Paar Flipflops aus ihrer Tasche. Zum Schluss legte sie noch ein schillerndes Armband an und befestigte zwei Clip-Ohrringe so an ihren Ohren, wie Sidney es auf einem beigefügten Zettel vermerkt hatte. Die restlichen Dinge würde sie an diesem Abend wohl nicht benötigen.
»Nun geh schon«, sagte Mia.
Hope winkte ihr zum Abschied ein letztes Mal zu, bevor sie sich auf ihren nicht mehr ganz so wackligen Beinen davonmachte.