Die Stimmen waren leise, beinahe nicht zu verstehen. Dennoch blieb Madox stehen, als er seinen Namen hörte, und lauschte in die darauffolgende Stille.
Er stand in einem der eher weniger frequentierten Flure der Villa der Vargas, von dem nur wenige Zimmer abgingen. Er hatte einen kleinen Spaziergang hierher unternommen, um den ständigen Blicken zu entgehen, die ihm überall sonst auflauerten.
Dass er aber plötzlich Zeuge eines Gesprächs wurde, das man offensichtlich versuchte, geheim zu halten, damit hatte er nicht gerechnet.
»Madox ist ein verfluchter Mistkerl«, zischte eine Männerstimme.
Madox drückte sich mit dem Rücken an die Wand und drehte den Kopf so, dass sein Ohr an der Wand lag. Direkt vor ihm war eine Tür nicht vollständig geschlossen worden, entweder aus Eile oder aus Unachtsamkeit. Und nur deswegen hatte er überhaupt bemerkt, dass er hier nicht allein war. Aber wer unterhielt sich da?
»Ich bin ganz deiner Meinung. Mir gefällt die Art und Weise nicht, wie er sich hier bewegt. Als würde ihm bereits alles gehören.«
Madox runzelte die Stirn. Er hatte diese Stimme schon einmal gehört, konnte sich im Moment aber leider nicht erinnern, wo oder zu wem sie gehörte. Es war auf jeden Fall niemand, den er schon länger kannte.
»Lange kann ich ihm nichts mehr vorspielen. Ich bin mir sowieso schon sicher, dass er Verdacht schöpft.« Das war wieder die erste Stimme.
Und jetzt erkannte Madox sie auch. Das war Antonio.
»Was hast du also vor?«
»Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Einen offenen Kampf werde ich wohl kaum gewinnen können«, meinte Antonio.
Der andere lachte. »Stimmt. Der Typ ist riesig. Ob die ihm wohl irgendwelche Drogen gespritzt haben, als er in Amerika war?«
Einen Moment herrschte Schweigen, aber da Madox auch keine Schritte hörte, verließ er seinen Posten noch nicht.
»Ich weiß nicht, was sie da mit ihm gemacht haben, aber hast du ihm mal in die Augen gesehen? Als wäre er eine seelenlose Maschine.«
Beinahe hätte er laut gelacht. Genau das war der Sinn seiner Ausbildung in den Staaten gewesen. Man hatte ihn zu einer seelenlosen Killermaschine machen wollen. Und anscheinend war er das immer noch, selbst nach all diesen Jahren.
»Was wäre denn, wenn …« Das war wieder Antonio.
»Vergiss es. Ich werde ihn bestimmt nicht herausfordern.«
Endlich fiel Madox wieder ein, woher er die andere Stimme kannte. Sie gehörte zu Paolo, dem capodecina, der ihn im Flur mit einer Waffe bedroht hatte, weil er Madox nicht gekannt hatte. Und der dank der langen Narben so aussah, als hätte jemand versucht, ihm die Haut vom Gesicht abzuziehen, und wäre dabei gescheitert.
Lauro hatte gesagt, dass er und Antonio eng zusammenarbeiteten. Anscheinend entsprach das der Wahrheit. Es sah ganz danach aus, als wäre der junge soldato der Einzige, dem Madox auch nur ansatzweise vertrauen konnte.
»Dann müssen wir noch eine Weile weiter mitspielen. Und ich werde mir etwas überlegen, wie wir ihn loswerden können. Capo dieser famiglia wird er mit Sicherheit nicht. Denn das werde ich sein.«
»Und ich werde dir dabei helfen«, antwortete Paolo.
»Sprich einfach weiter mit jedem Mitglied der famiglia, bei dem es dir irgendwie so vorkommt, als wäre ihm Madox nicht geheuer. Erzähl ihnen alles, was sie dazu bringt, sich nicht Madox anzuschließen und auf unserer Seite zu kämpfen, falls es so weit kommen sollte.«
Danach folgte keine Antwort mehr, dafür aber Schritte. Schnell entfernte sich Madox von seiner Position und versteckte sich im nächstgelegenen Zimmer. Er schloss die Tür nicht vollständig hinter sich und konnte so durch einen dünnen Spalt beobachten, wie Antonio und Paolo den anderen Raum verließen. Beide hatten ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Wie eine fette Katze, die gerade ein Schälchen Sahne ausgeschleckt hatte.
Sie wähnten sich in Sicherheit, hatten nicht bemerkt, dass Madox sie belauscht hatte. Und jetzt wusste er, was hier wirklich vor sich ging.
Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Es hatte etwas nicht mit Antonio und seiner aufgesetzten Freundlichkeit gestimmt.
Der kleine Bastard wollte also selbst capo der Vargas werden. Madox grinste. Sollte er doch kommen und versuchen, ihm seine Position streitig zu machen. Antonio wäre nicht der Erste, der lernte, woher Madox den Beinamen cerbero, Höllenhund, hatte.
Vorerst musste er wachsam bleiben. Jetzt war der falsche Zeitpunkt, um Antonio zu töten. Zuerst musste er sichergehen, dass die Mitglieder der famiglia sich nicht von ihm abwenden würden, wenn er Antonio umbrachte. Aber früher oder später, wenn Madox erst seine Position gefestigt hatte, würde es dazu kommen.
Niemand ging am Ende lebend aus der Geschichte hervor, wenn er versuchte, Madox zu hintergehen.
Später an diesem Tag sah sich Saphira in dem neuen Geheimversteck um, das Emilio ihr eingerichtet hatte. Es war ein Keller, der sich mitten in der Stadt befand, unweit der Kathedrale. Ohne Fenster und nur durch einen versteckten Hintereingang zu erreichen. Es gab zwei Schlafzimmer, eins für Saphira und eins für die Krankenschwester, die sich um sie kümmern würde. Dazu eine Küche, Wohnzimmer und ein kleines Büro, das mit Monitoren für die Übertragung der Sicherheitskameras vollgestopft war.
Sie zeigten die Gasse, über die man den Eingang erreichte, die schmale Treppe, die herunterführte, und die Straße, an der das Haupthaus seinen Eingang hatte. Außerdem wurde das komplette Haus oberhalb dieser Kellerräume überwacht, sodass sich ihnen niemand unbemerkt nähern konnte.
Es war nicht ideal, aber im Moment konnte sie nicht besonders wählerisch sein. Sie hatten einen Ort gebraucht, der sich gut überwachen ließ und bisher noch nicht bekannt war.
Es wäre unmöglich gewesen, dasselbe Versteck zu nutzen wie damals mit Madox. Denn dort würde er sie bestimmt als Erstes suchen. Und er war doch auf der Suche nach ihr, oder? Wer sollte ihr sonst einen Attentäter auf die Krankenstation schicken? Jetzt, da er zurück bei seiner famiglia war, wollte er sie bestimmt endlich loswerden.
Saphira drehte sich zu Emilio um. »Gut gemacht. Das sollte ausreichen.«
Er nickte. »Ich werde jetzt die Krankenschwester holen. Ihr solltet dieses Versteck nicht verlassen. Wenn ihr etwas braucht, benutzt das Telefon.« Er deutete auf das schnurlose Telefon, das auf dem Couchtisch im Wohnzimmer stand. »Es verfügt über eine abhörsichere Leitung.«
»Emilio?«
Er war bereits auf dem Weg zur Tür gewesen, hielt aber noch einmal inne und sah sie an. »Ja?«
»Madox ist jetzt Freiwild. Jeder, der ihn sieht, darf alles tun, was nötig ist, um ihn gefangen zu nehmen, solange ich ihn am Ende noch töten kann. Sieh zu, dass er diese Nachricht erhält.«
Emilio nickte grimmig und verschwand. Saphira sah ihm hinterher, als er ging, bevor sie sich auf die Couch sinken ließ. Es tat gut, endlich das Krankenbett verlassen zu haben. Allerdings war sie von dem Umzug in dieses Versteck völlig erschöpft. Es war geradezu lächerlich, wie schwach sie im Moment war.
Und ihre Wunde schmerzte jetzt auch wieder. Vorsichtig schob sie das Oberteil nach oben und zog den Verband an einer Seite ab, um die Naht zu begutachten. Etwas Blut war in den Mull gesickert, aber ansonsten sah es nicht allzu schlimm aus.
Nachdem sie sich wieder verbunden hatte, lehnte Saphira sich zurück und schloss die Augen. Ihre Instinkte rieten ihr, aufzustehen, weiterzumachen. All den Problemen den Kampf anzusagen. Etwas in ihr drängte sie dazu, wieder ihre Position als capo einzunehmen. Aber dieses Mal musste sie ihre Instinkte ignorieren. Sie musste auf ihren Verstand hören.
Und der sagte ihr, dass sie sich ausruhen musste. Bis sie wieder gesund war. Egal, wie sehr sie es hasste.
Und sie hasste es. Abgrundtief.
In diesem Moment kündigte ihr Smartphone eine eingehende Nachricht an. In Erwartung einer neuen Nachricht von Emilio oder Rabia, entsperrte Saphira den Bildschirm. Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus, ihre Haut kribbelte.
Madox: Du wirst mich nicht töten. Aber ich werde dich für diese Aussage bestrafen müssen.
Seine Faust traf das Gesicht des Mannes ein zweites Mal, bevor Emilio wieder einen Schritt zurücktrat.
»Also, versuchen wir das noch einmal. Erzähl mir, was Madox vorhat.«
Der Mann spuckte ihm Blut und Speichel vor die Füße, bevor er sich auf dem Holzstuhl, an den er gefesselt war, zurücklehnte.
Sie befanden sich in einem dunklen, feuchten Keller einer kleinen Bar, die den De Angelis gehörte. Die Wände waren schallisoliert, und die Tür konnte nur von außen geöffnet werden. Es war also der perfekte Ort, um eine Befragung wie diese durchzuführen.
Neonröhren waren in die Decke eingelassen und spendeten kaltes Licht. Der grobe Stein war unbehandelt und ließ die Kälte des Erdbodens herein.
Das alles sorgte für eine nicht sonderlich angenehme Atmosphäre.
»Und warum sollte ich das?«
Emilio zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, weil dir dein gesundheitliches Wohlergehen am Herzen liegt?«
Der Mann grinste. Seine Zähne waren bereits blutverschmiert, und um sein linkes Auge würde sich jeden Moment ein unschönes Veilchen bilden. »Ich weiß von nichts.«
»Na klar. Und du gehörst bestimmt auch nicht zu den Vargas, mhm?«
»Ganz genau.«
So langsam verlor Emilio die Geduld. Er brauchte die Informationen, die dieser Mann für ihn hatte, aber er musste auch zum Anwesen der De Angelis zurückkehren und Rabia im Auge behalten. Denn auch wenn sie zur Familie gehörte und er einige Jahre mit ihr zusammen aufgewachsen war, war er dennoch misstrauisch. Er hatte sie einfach nie als Geschäftsfrau gesehen, sondern eher als verwöhntes Püppchen.
Wieso also wollte sie jetzt plötzlich die Geschäfte der famiglia leiten? Was war seit Leandros Tod passiert?
Emilio plante, das herauszufinden. Es machte ihn misstrauisch, dass Rabia ohne Weiteres ein Treffen mit dem Anführer der Drogengang hatte vereinbaren können. Das erschien ihm irgendwie zu einfach.
Aber darum konnte er sich auch noch später kümmern. Zuerst musste er wissen, was bei den Vargas vorging und wie groß die Bedrohung war, die von Madox ausging.
Bei dem Gedanken an den Verräter wurde seine Wut noch größer. Er hatte ihn unter seine Fittiche genommen, hatte ihn zur guardia ausgebildet.
Und Madox hatte sie alle betrogen.
Kopfschüttelnd kehrte Emilio in die Gegenwart zurück. Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. »Wer führt euch an?«
Der Mann zuckte mit den Schultern, und Emilio schlug ihm ins Gesicht.
»Ist Giuseppe Varga tot?«
Erneutes Schweigen, auf das wiederum ein Schlag folgte. Als der Mann das Bewusstsein zu verlieren drohte, hörte Emilio auf und trat einen Schritt zurück.
Er sah, wie die Lider des Mannes flatterten, bevor sie sich schlossen. Mit Sicherheit würde er gleich wieder wach werden. Und Emilio würde die Zeit nutzen, um sich etwas zu überlegen. Anscheinend kam er mit einfachen Schlägen nicht weiter.
Obwohl er in der Regel gern seine Hände benutzte, musste er jetzt wohl einen Gang höher schalten.
Als der Varga ein paar Minuten später die Augen wieder öffnete, wurde er merklich blasser. Das lag vermutlich daran, dass Emilio jetzt ein langes Messer in den Händen hielt.
»Für jede Frage, die du nicht wahrheitsgemäß beantwortest, wirst du ein Körperteil verlieren«, verkündete er mit leiser Stimme und trat einen Schritt näher.
Ein leichtes Zittern durchlief den Mann. Anscheinend war Emilios Botschaft angekommen.
»Also«, er setzte das Messer am kleinen Finger des Mannes an, »wer ist der capo der Vargas?«
»Fick dich, Arschloch!«
Emilio grinste, umfasste den Messergriff fester, und eine geschmeidige Bewegung später fiel ein kleiner Finger zu Boden.
Der Varga starrte ihn erst fassungslos an, blickte dann auf seine rechte Hand und dann auf den abgetrennten Finger am Boden. Dann begann er zu schreien.
Emilio trat einen Schritt zurück und wartete, bis die Schreie zu einem schmerzhaften Wimmern verklungen waren. Erst als der Mann seinen Blick wieder erwiderte, stellte er seine Frage erneut.
»Wer ist euer capo?«
»Meinst du, dass du so Antworten von mir bekommst?«
Emilio grinste. »Das war die falsche Antwort.«
Ein zweiter Finger fiel neben dem ersten zu Boden. Dieses Mal riss der Mann sich zusammen und unterdrückte seine Schmerzensschreie, indem er sich auf die Lippe biss.
Emilio wischte das Messer am Hemd seines Gefangenen ab und machte einen Schritt zurück. »Okay, kommen wir noch mal zu einer einfacheren Frage. Ist Giuseppe Varga tot?«
Der Mann musste inzwischen ziemlich starke Schmerzen haben. Schließlich hatte er ihm gerade zwei Finger amputiert. Die offenen Wunden mussten in der kalten und feuchten Luft höllisch brennen. Und Emilio würde dafür sorgen, dass es dem Mann noch viel schlimmer ging, wenn er nicht endlich seine Antworten bekam.
Der Varga schien einen inneren Kampf auszufechten, und sein Blick huschte von Emilio zu seiner verstümmelten Hand und wieder zurück. Schließlich schluckte er so hart, dass sein Adamsapfel geradezu hüpfte.
»Giuseppe ist tot.«
Das war eine gute Nachricht. Jedenfalls auf den ersten Blick. Wenn Saphira davon erfuhr, würde sie wahrscheinlich schrecklich wütend werden. Sie hatte Giuseppe umbringen wollen, und sie hätte auch das Recht dazu gehabt. Schließlich hatte der Bastard ihre Eltern und ihren kleinen Bruder umgebracht und hatte auch versucht, sie umzubringen. Aber daran konnten sie jetzt nichts mehr ändern.
»Wer hat ihn umgebracht?«
Der Mann zögerte, und Emilio trat drohend einen Schritt auf ihn zu.
»Madox. Es war Madox«, rief der Mann, und seine Stimme überschlug sich beinahe.
Das hatte er bereits geahnt, aber es war besser, wenn sie es genau wussten. »Und jetzt …« Er trat wieder einen Schritt näher. »Wer führt euch im Moment an?«
Der Mann presste die Lippen aufeinander.
Emilio setzte das Messer zwischen den Beinen des Mannes an, drückte die Klinge gegen seinen Schwanz. »Du hast noch drei Sekunden für deine Antwort.« Er erhöhte den Druck. »Drei … zwei …«
Der Mann biss die Zähne aufeinander.
»Eins.«
»Ich weiß es nicht!«, rief der Mann zeitgleich aus, und Emilio hielt inne.
»Du weißt es nicht?«, hakte er nach.
»Es ist nicht eindeutig«, presste der Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er war ganz eindeutig nicht glücklich mit dieser Situation. Aber das war in Ordnung. Emilio würde das hier bald beenden.
»Was soll das heißen?«
Als der Mann schwieg, drückte Emilio das Messer wieder stärker gegen sein Gemächt, ritzte den Stoff der Hose an.
Dem Varga liefen die Schweißperlen an den Schläfen hinab. Auf seinen Wangen hatten sich rote Flecken gebildet, während er sonst recht käsig aussah.
»Eigentlich soll Madox jetzt der capo sein. Aber da gibt es gewisse … Schwierigkeiten.«
Langsam verlor Emilio die Geduld. In einer schnellen Bewegung hob er die Hand und rammte die Klinge durch den Handrücken seines Gefangenen bis in das Holz der Armlehne.
Der Mann schrie gequält und überrascht auf. Als Emilio das Messer wieder herauszog, stöhnte er vor Schmerzen.
»Wenn ich dir weiter jedes Detail aus der Nase ziehen muss, wird das hier noch sehr unangenehm für dich werden.«
Knurrend knickte der Mann ein. »Na schön! Es gibt einen internen Machtkampf. Madox will die Position des capo übernehmen. Aber Antonio auch. Noch hält Antonio sich zurück, aber es gibt Gerüchte, dass er sich bald offen gegen Madox stellen wird. Er versucht, möglichst viele Anhänger zu sammeln, und erzählt hinter Madox’ Rücken, dass er nur ein hirnloser Killer ist.«
Von diesen Neuigkeiten doch etwas überrascht, trat Emilio zurück und überlegte, was das für sie bedeuten konnte. War es zu ihrem Vorteil? Oder würden Antonio und Madox versuchen, sich gegenseitig zu übertrumpfen und die geschwächten De Angelis dabei zu ihrem Spielball machen?
Emilio konnte in diesem Moment nicht sagen, was der Wahrheit entsprach, aber mehr Informationen würde er von dem Mann auch nicht bekommen.
Wie aufs Stichwort sah der Varga ihn flehend an. »Bitte, das ist alles, was ich weiß!«
»Ich glaube dir«, antwortete Emilio.
»Dann lässt du mich jetzt gehen? Wie du es versprochen hast?«
Emilio starrte auf die Messerklinge, auf der noch das frische Blut im Schein der Neonröhren glänzte. »Das hatte ich versprochen, oder?«, murmelte er mehr zu sich selbst. Dann trat er hinter den Mann. »Zu dumm, dass ich mich in deinem Fall nicht daran halten werde.« Damit schnitt er dem Mann die Kehle durch und sah unbeeindruckt zu, wie dieser an seinem eigenen Blut erstickte.
Anna, die Krankenschwester, die mit ihr in dem Versteck lebte, hatte gerade Saphiras Verbände gewechselt, als das Telefon klingelte.
Saphira stand von der Couch auf und nahm das Gespräch entgegen. »Ja?«
»Saphira«, sagte Emilio am anderen Ende der Leitung. Und sein Tonfall ließ vermuten, dass er Neuigkeiten für sie hatte.
»Was gibt es?«, fragte sie.
»Giuseppe ist tatsächlich tot.«
Sie sollte jetzt vermutlich Erleichterung empfinden. Stattdessen war da nur Wut. Sie hätte diejenige sein sollen, die ihm dabei zusah, wie er seinen letzten Atemzug tat. Ihr Gesicht hätte das Letzte sein sollen, das er sah, bevor sich die Hölle vor ihm auftat.
»Madox hat ihn umgebracht«, sagte sie mit monotoner Stimme.
»Aber da ist noch mehr.«
»Und das wäre?«
Emilio schilderte ihr, was er während seiner Befragung herausgefunden hatte. Sie musste die Neuigkeiten erst einmal verarbeiten, bevor sie etwas dazu sagte. Im Hintergrund war die Krankenschwester in der Küche dabei, ihnen beiden ein kleines Essen zuzubereiten. Sie war still und fleißig, und Saphira fand ihre Gegenwart erträglich.
Sie war nie gern in der Gesellschaft anderer Menschen gewesen. Schon gar nicht, wenn sie diese kaum kannte. Aber sie befand sich in einer besonderen Lage, weswegen sie sich mit Anna arrangieren musste.
»Das gefällt mir nicht«, sagte sie mit einem leisen Seufzen. »Wir könnten zwischen die Fronten der beiden geraten.«
»Das habe ich auch schon gedacht. Allerdings könnte es vielleicht auch zu unserem Vorteil sein.«
»Wie das?«, fragte sie.
»Vielleicht werden die beiden Krieg gegeneinander führen. Und egal, wer am Ende gewinnt, die Vargas werden dadurch geschwächt.«
Vielleicht ließ sich die Situation ja doch noch zu ihren Gunsten drehen. Saphira konnte sich vielleicht kaum bewegen, ohne Schmerzen zu haben, aber ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, während sie Pläne schmiedete.
Sie war über dieses abendliche Treffen nicht glücklich, aber manchmal gab es Momente, in denen selbst sie einem Mann nichts abschlagen konnte.
Und Jacob hatte sie unbedingt bei diesem Treffen dabeihaben wollen. Ihr war keine Ausrede mehr eingefallen, wieso sie nicht konnte. Jedenfalls nicht, ohne Jacobs Unmut auf sich zu ziehen.
Außerdem hatte er ihr den Attentäter besorgt, der Saphira im Krankenhaus angegriffen hatte. Rabia hatte etwas gebraucht, um direkt von Anfang an wieder Vertrauen zwischen Saphira und sich zu etablieren. Und was sagte mehr »Ich stehe auf deiner Seite«, als ihr das Leben zu retten? Dass die ganze Situation von Rabia selbst initiiert worden war, würde Saphira schließlich nie erfahren.
Natürlich hatte sie den Attentäter auch nicht am Leben lassen können. Am Ende hätte Emilio sich noch seiner angenommen und dann herausgefunden, dass Rabia hinter der Sache steckte. Dieses Risiko hätte sie niemals eingehen können. Deswegen hatte der Mann sterben müssen. In einem Krieg gab es immer Opfer.
Das waren die Gründe, warum sie jetzt über eine Straße schlenderte und dabei Jacobs Arm in einer besitzergreifenden Art und Weise über ihrer Schulter duldete. Seine Hand streichelte hin und wieder ihren Oberarm, aber sobald sie auch nur einen Schritt zu weit von ihm wegging, wurde das Streicheln zu einem schmerzhaft festen Griff.
Wenigstens befanden sie sich außerhalb von Palermo, und es war mitten in der Nacht. Hier gab es nichts, was Saphiras Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte, weswegen hier auch kein Mitglied der De Angelis auftauchen und sie entdecken sollte.
Dennoch konnte sie das ungute Gefühl nicht gänzlich verdrängen. Schließlich ging sie gerade ein großes Risiko ein, indem sie sich mit Jacob auf offener Straße zeigte. Wehe, dieser Mistkerl ruinierte ihren Plan. Dann würde sie ihm zeigen, dass nichts gefährlicher war als die Rache einer Frau.
Als ein Kribbeln an ihrer Wirbelsäule nach oben kroch, drehte Rabia unauffällig den Kopf, um sich nach dem Grund für dieses Gefühl umzusehen. Auf der anderen Straßenseite stand eine dunkle Limousine, und ein Mann hatte eine Hand auf das Dach des Wagens gelegt. Er sah sie direkt an.
Verdammt.
Schnell schob Rabia Jacobs Arm von ihrer Schulter und versuchte, ein wenig Abstand zwischen sich zu bringen. Sie kannte den Mann auf der anderen Straßenseite zwar nicht, aber alles an ihm schrie geradezu Cosa Nostra. Der schwarze Wagen mit den abgedunkelten Scheiben; der Mann, der neben ihm stand und gefährlich aussah, der teure italienische Anzug, den er trug.
In der Cosa Nostra aufgewachsen hatte Rabia ein ziemlich gutes Gespür dafür, wer ein Mitglied der Mafia war und wer nicht. Und dieser Mann gehörte dazu.
Dass er nicht zu den De Angelis gehörte, spielte dabei keine Rolle. Er hätte sie trotzdem nicht sehen dürfen.
In diesem Moment beugte sich Jacob ganz nah an ihr Ohr, sodass sie seinen warmen Atem spüren konnte.
»Du sollst dich mir nicht widersetzen. Sonst werde ich dafür sorgen, dass du heute Nacht sehr laut schreien wirst, und das nicht vor Vergnügen.«
Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus, und Rabia blieb stehen. Jacob warf ihr nur ein ungerührtes Grinsen zu und ging weiter. Da sie keine Wahl hatte, beeilte sie sich, ihn wieder einzuholen, bevor sie hinter der nächsten Straßenecke verschwanden.
»Da war jemand«, zischte sie leise.
Gelangweilt sah Jacob sie an. »Na und?« Ihm war es egal, ob sie gesehen wurden oder nicht. Er hielt sich für so viel schlauer und stärker als alle anderen, dass er eine offene Konfrontation nicht scheute. Dabei ließ er allerdings außer Acht, wie viel befriedigender es war, wenn man alle um sich herum hinters Licht führte und bewies, dass man tatsächlich viel klüger war.
»Man sollte uns noch nicht zusammen sehen.«
Jacob schnaubte nur. »War es jemand von den De Angelis?«
»Nein«, antwortete sie kopfschüttelnd.
»Dann ist es auch kein Problem. Und jetzt komm.« Er griff nach ihrer Hand und zog sie wieder an seine Seite. »Wir werden erwartet.«
Rabia warf einen abfälligen Blick auf das heruntergekommene Haus vor ihnen. Mussten sich eigentlich sämtliche Drogendealer in irgendwelchen einsturzgefährdeten Hütten treffen? Was sprach gegen ein nettes Hotel? Oder zumindest eine dunkle Seitengasse?
Sie bekam ja bereits Ausschlag, wenn sie nur daran dachte, den Hausflur zu betreten. Dennoch tat sie es und ließ sich von Jacob zu einem der leeren Zimmer führen. Die Beleuchtung war bestenfalls dezent, da sämtliche Fenster zugenagelt waren und nur eine Stehlampe brannte. Auf dem niedrigen Holztisch waren fein säuberlich zehn weiße Linien präpariert worden. Alkoholflaschen lagen auf dem Boden, und bewaffnete Männer standen an den Wänden, bereit, jeden Moment ein kleines Blutbad anzurichten.
Auf einem Sessel gegenüber des niedrigen Tisches saß ein Mann, der in seiner eleganten Kleidung völlig fehl am Platz schien. Das dunkle Haar war nach hinten gegelt, und obwohl es im Raum dunkel war, trug er eine Sonnenbrille. Als er sie mit einem Lächeln begrüßte, konnte Rabia zwei Goldzähne entdecken, die seine Schneidezähne ersetzten.
Heute Abend trafen sie sich mit Bruno, einem von Jacobs wichtigsten Drogenlieferanten. Und der hatte Rabia unbedingt kennenlernen wollen.
»Ah, wenn das nicht die berüchtigte Rabia ist.« Bruno stand auf und gab ihr einen Handkuss.
Sie versuchte, sich ihren Ekel nicht anmerken zu lassen. Der Typ war einfach viel zu schmierig.
»Ich habe schon viel von dir gehört.«
Als würde sie einen Schalter umlegen, wechselte Rabia in ihren Verführungsmodus und schenkte Bruno ein geheimnisvolles Lächeln. »Nur Gutes, wie ich hoffe.«
Er warf Jacob einen Blick zu, der ihr ganz genau mitteilte, worüber sich die Männer unterhalten hatten. Und ihr Verstand war es mit Sicherheit nicht.
»Nur das Beste.«
Jacob, der allerdings gar nicht gern teilte, zog sie an seine Seite und ließ sich mit ihr auf dem Schoß auf der Couch nieder. Dafür war sie ihm tatsächlich einmal dankbar, da sie so den Kontakt mit dem siffigen Leder weitestgehend vermeiden konnte.
»Du wolltest sie sehen, jetzt hast du sie gesehen«, meinte Jacob mit grimmigem Unterton. »Wo ist meine Ware?«
»Befindet sich in diesem Moment auf dem Weg zu uns.« Bruno ließ sich wieder im Sessel nieder. »Wenn du eine Kostprobe der Qualität nehmen möchtest.« Er deutete auf die weißen Linien auf dem Tisch und sah wieder Rabia an. Bei seinem anzüglichen Lächeln konnte einem nur schlecht werden. »Du natürlich auch, Rabia.«
»Nein, danke.«
Jacob allerdings lehnte das Angebot nicht ab und beugte sich über ihre Beine nach vorn. Einen tiefen Atemzug später war das Koks verschwunden. Rabia fluchte innerlich. Sie hasste Jacob, wenn er high war. Denn dann war er unberechenbar, und sie musste sich etwas überlegen, wie sie ihn schnellstmöglich loswurde. Sollte er seine Stimmungsschwankungen doch an seinen Leuten auslassen.
»Fühlt sich gut an«, murmelte er in diesem Moment und legte eine Hand auf Rabias Brust, drückte zu.
»Darauf wette ich«, gab Bruno zurück, der dies ungeniert beobachtete.
»Gentlemen«, meinte Rabia mit sanfter Stimme, »ich würde ja wirklich gerne noch eine Weile mit euch plaudern, aber Jacob und ich haben noch Pläne.«
Verwirrt sah er sie mit riesigen Pupillen an. Um ihm klarzumachen, wovon sie sprach, ließ sie eine Hand über seinen Schritt gleiten und umfasste seinen Schwanz durch den Stoff der Hose.
Sofort grinste er und stand auf, hielt sie ganz nah bei sich, während seine Hand sich langsam, aber sicher einen Weg unter ihr Oberteil suchte.
Auch Bruno stand auf und kam zu ihnen herüber. Er ließ sich von Jacobs besitzergreifendem Verhalten nicht aufhalten und gab ihr erneut einen Handkuss.
»Es war mir eine Freude, Rabia. Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«
»Die Freude war ganz meinerseits«, versicherte sie. »Du bist uns wirklich eine große Hilfe.«
Am nächsten Abend lag Rabia in der Badewanne, genoss den angenehmen Duft nach Lavendel und das warme Wasser, das ihren Körper umspielte.
Am Tag zuvor war sie Jacob schlussendlich doch noch losgeworden, bevor das Kokain seinen Verstand endgültig außer Kraft gesetzt hatte. Sie hatte ihm einfach erzählt, dass Saphira nach ihr hatte schicken lassen und sie im Moment keinen Verdacht erregen durfte. Das hatte er ihr abgekauft. Wenn auch widerwillig. Aber sie war sich sicher, dass er irgendeine Nutte gefunden hatte, die seine Bedürfnisse noch gestillt hatte.
Dennoch taten die Stellen, an denen er sie beim letzten Mal zu hart angefasst hatte, immer noch weh. Aber dafür hatte sie bekommen, was sie wollte. Eine Leiche, die Saphira davon überzeugte, dass sie die Gang noch eine Weile in Ruhe lassen mussten.
Wie sie erwartet hatte, war Saphiras Besorgnis ein wirkungsvolles Mittel, um dafür zu sorgen, dass sie nichts unternehmen würde und Jacob freie Bahn hatte. Aber das würde Saphira nicht ewig überzeugen. Früher oder später würde sie verlangen, dass Rabia sich darum kümmerte, die Drogengeschäfte zu beenden. Aber das konnte sie nicht, denn dass er Drogen unbehelligt verkaufen durfte, war Teil des Deals mit Jacob. Und sie brauchte seine Hilfe.
Schließlich sollten die Drogenverkäufe von ihren wahren Plänen ablenken. Nur deswegen hatte sie Jacob gestattet, dass er und seine Leute die Drogen hier verkaufen durften. Und alleine hätte sie niemals so viele Drogen beschaffen können. Dass sie das Geld an Jacob abtreten musste, war ein kleines Übel, das sie eingehen musste.
Er sollte für sie einige Menschen töten. Angefangen bei Madox. Und enden würde es mit Saphira. Wenn diese alles verloren hatte.
Da das Wasser langsam kalt wurde, stieg Rabia aus der Badewanne und wickelte sich in ein flauschiges Handtuch. Ihre Haare wickelte sie ebenfalls in ein Handtuch. Sie wollte sich gerade eincremen, als ihr Handy im Nebenzimmer klingelte.
Schon jetzt von dem Anrufer genervt, weil er sie bei ihrer abendlichen Routine unterbrach, stand sie auf und ging durch die Verbindungstür ins Schlafzimmer. Wie alle engen Vertrauten von Saphira hatte Rabia, früher noch zusammen mit Leandro, eine Art eigene kleine Wohnung innerhalb des Hauses besessen.
Es gab ein geräumiges Wohnzimmer mit einer kleinen Küchenzeile, falls sie sich einmal selbst Essen zubereiten wollte, durch eine Tür kam man dann in das Schlafzimmer mit Balkon, der aufs Meer hinaus zeigte. Und von dort aus gelangte man in das Badezimmer, aus dem sie gerade herauskam.
Ihr Handy lag auf dem Nachttisch mit den geschwungenen Beinen. Eine unbekannte Nummer blinkte auf dem Display. Wer rief sie da an?
Skeptisch nahm Rabia das Gespräch entgegen. »Hallo?«
»Rabia Ferrera?«
»Wer will das wissen?«
»Antonio Scuderi. Und ich glaube, dass wir ein paar sehr interessante Dinge zu besprechen haben.«
Dieses Gespräch wurde mit jeder Sekunde verwirrender. »Was zum Teufel ist hier los? Wer bist du?«
»Ich bin ein Mitglied der Vargas.«
Jetzt wurde es doch tatsächlich interessant. Natürlich konnte es auch sein, dass sie gerade mit einem Aufschneider sprach, aber wenn nicht? Wie konnte sie einen solchen Kontakt zu ihrem Vorteil nutzen?
»Woher hast du meine Nummer?«
Der Mann lachte leise. »Es gibt immer Mittel und Wege, wenn man entschlossen ist, etwas herauszufinden.«
»Na gut, nehmen wir mal an, dass ich dir glaube, was hast du mir denn so Wichtiges zu erzählen?«
»Das werde ich bestimmt nicht am Telefon machen. Aber ich habe ein sehr interessantes Angebot für dich.«
»Und wieso sollte ich dir das glauben?«, fragte sie mit skeptischem Unterton und ließ sich auf die Bettkante sinken.
»Ich bin der zukünftige capo der Vargas. Und wir haben einen gemeinsamen Feind«, knurrte Antonio ins Telefon.
Sie konnte ihm nicht vertrauen. Aber es interessierte sie, was dieser Mann ihr anzubieten hatte.
Außerdem gab es ein altes Gesetz in der Welt der Mafia: Halte deine Freunde nah bei dir, deine Feinde noch näher. Das Ideal: Alle stehen auf deiner Gehaltsliste.
Vielleicht konnte sie Antonio, falls er sich als hilfreich herausstellte, ebenfalls dieser Liste hinzufügen.
Auf jeden Fall war er aber ihr Feind, und sie musste herausfinden, wie er an ihre Nummer gekommen war, deswegen sollte sie ihn nicht einfach so vor den Kopf stoßen.
»Na gut«, antwortete sie. »Wir sollten uns treffen.«