»Ich habe dir vertraut«, flüsterte Saphira mit zittriger Stimme und spürte, wie ihr eine einzelne Träne über die Wange lief.
Plötzlich ertönte ein metallisches Klicken, als der Hahn einer Pistole gespannt wurde.
Madox und sie wirbelten beide herum, und Saphira blickte direkt in den Lauf von Giuseppes Waffe.
Giuseppe lächelte sie an. »Endlich kann ich auch die letzte De Angelis töten.«
Ein Schuss zerschnitt die Stille der Nacht.
Alles schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Sie hörte das Zischen, als die Kugel den Lauf der Pistole verließ, sah, wie Madox nur Sekundenbruchteile vorher nach vorn stürzte. Seine mächtige Schulter krachte in Giuseppes Magen, der Arm mit der Waffe sank nach unten. Schmerz zerriss ihr den Bauch.
Erstarrt beobachtete Saphira, dass Madox wie ein Besessener auf Giuseppe einschlug. Die Pistole glitt ihm aus den Fingern. Er versuchte sich gegen seinen Neffen zu wehren, aber Madox war ein Killer. Und Giuseppe nur ein selbstverliebter Bastard.
Sie spürte warme Flüssigkeit an ihrem Bauch, blickte nach unten und presste eine Hand dagegen. Als sie diese wieder wegnahm, glänzte auf ihrer Haut Blut im Schein einer Straßenlaterne. Giuseppe hatte sie tatsächlich getroffen.
In dieser einsamen Gasse gab es niemanden außer Madox, Giuseppe und ihr. Zwei Straßenlaternen spendeten diffuses Licht. Die Limousine der Vargas stand wie ein verlassenes Schlachtschiff auf der Straße.
Direkt hinter Madox.
Sie blickte wieder zu Madox, der das Gesicht seines Onkels gerade in eine blutige Masse verwandelte. Sie wollte etwas sagen. Oder tun. Sie sollte die beiden erschießen, genau in diesem Moment. Ihre Hand zitterte, als sie die Waffe hob. Die Schmerzen in ihrem Bauchraum wurden mit jeder Sekunde, die verging, schlimmer. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie eine Menge Blut verlor, aber in diesem Moment hätte sie das nicht weniger interessieren können.
Giuseppes Stimme war klar und deutlich in ihrem Kopf zu hören.
Er hat sich in meinem Auftrag in deine famiglia eingeschleust, mit dem Ziel, dich zu töten.
Sie zielte auf Madox’ Rücken. Aber sie konnte verflucht noch mal nicht abdrücken! Jetzt strömten mehr Tränen über ihre Wangen. Wieso war sie nicht stark genug, um den Abzug zu ziehen?
Plötzlich stand Emilio neben ihr und blickte sie mit besorgtem Blick an. Es dauerte nicht lange, bis er ihre Bauchwunde entdeckte.
»Saphira!« Sofort schlang er einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich, nahm ihr die Waffe aus der zitternden Hand.
Genau im richtigen Moment. Denn jetzt sackten ihr die Beine weg.
»Ich bringe dich zu unserem Arzt.« Emilio warf einen Blick auf Madox und Giuseppe, der inzwischen aufgehört hatte, sich zu wehren, aber Madox schlug immer weiter auf ihn ein. Vermutlich würde er ihn umbringen.
»Madox …«, murmelte sie und spürte, wie sie schwächer wurde.
Emilio nickte. »Er wird sich um alles kümmern.«
Natürlich musste er das denken. Schließlich wusste er ja noch nicht, dass Madox nicht zu ihnen gehörte. Wusste nicht, dass der Mann, der ihren Körper und einen Teil ihres Herzens in Besitz genommen hatte, in Wahrheit ein Varga war. Dass er der Feind war.
»Nein, ich …«
Emilio schüttelte den Kopf und hob sie auf die Arme. »Ich bringe dich jetzt zu unserem Arzt.« Er warf einen Blick zu Madox hinüber. »Bring Giuseppe lebend zum Anwesen!« Damit drehte Emilio sich um und hastete mit ihr zu dem wartenden Wagen.
Saphira blickte über seine Schulter. Madox suchte sich genau diesen Moment aus, um seine Schläge zu stoppen und sich umzusehen. Ihre Blicke kreuzten sich, und Saphira fiel in Ohnmacht.
Er wünschte sich, dass er seine mit Klingen besetzten Schlagringe anhätte. Dann hätte er noch mehr Schaden in Giuseppes Gesicht anrichten können. Aber er wusste es auch durchaus zu schätzen, dass er seinen Onkel nun mit bloßen Händen töten konnte.
Alles verschlingender Zorn hatte sich wie ein roter Schleier über sein Sichtfeld gelegt, als Giuseppe auf Saphira gezielt hatte. Seine Gedanken hatten sich auf einen einzigen Befehl beschränkt: Töte Giuseppe.
Immer wieder krachten seine Fäuste ins Gesicht seines Onkels. Unter seinen Fingern brachen Knochen, Blut bedeckte seine Haut. Er grinste, als der Rausch eines nahenden Todes ihn überkam.
Aber dann drangen Stimmen an sein Ohr, und die Schläge wurden langsamer. Schritte entfernten sich, und Madox hielt inne. Sein Blutrausch senkte sich gerade so weit, dass er aufstehen und sich umdrehen konnte.
Saphira wurde von Emilio weggetragen. Ihre Blicke kreuzten sich, und der Schmerz in ihren Augen ließ seinen Zorn wie eine Seifenblase zerplatzen. Ihre Lider flatterten, und ihr Kopf sackte an Emilios Schulter.
Madox’ Blick fiel auf den Punkt, an dem sie gerade noch gestanden hatte. Das Licht einer Straßenlaterne fiel auf den Asphalt und spiegelte sich in einer Blutlache. Saphiras Blut.
Sein Kopf schnellte wieder hoch, aber Emilio war bereits mit ihr verschwunden.
Er war nicht schnell genug gewesen. Er hatte Giuseppe nicht aufhalten können. Sein Onkel hatte Saphira angeschossen, und nun rang sie vermutlich mit dem Tod.
Seine Wut kehrte mit voller Kraft zurück, und er drehte sich langsam zu seinem Onkel um. Er ließ die Fingerknöchel knacken. Giuseppe würde lernen, was es bedeutete, wenn man cerbero hinterging.
Allerdings musste Madox ihn zuerst hier wegschaffen. Damit er seine Rache vollends ausleben konnte, war Zeit vonnöten, und die offene Straße war sicher nicht der richtige Platz dafür. Aber Madox konnte nicht zum Anwesen der De Angelis zurückkehren. Saphira wusste nun, wer er war, und betrachtete ihn als Verräter. Sobald sie wieder bei Bewusstsein war, würde sie es allen erzählen und ihn damit zum Feind Nummer 1 machen. Jeder De Angelis würde ihn jagen und zu töten versuchen. Dass Saphira nicht mehr aufwachen könnte, daran wollte er nicht einmal denken. Zu groß war der Schmerz bei dem Gedanken daran.
Das bedeutete aber auch, dass er zum Anwesen der Vargas fahren musste, und das war ein Problem. Denn außer Giuseppe und Damiano wusste nur noch Giuseppes rechte Hand von Madox’ Auftrag bei den De Angelis. Und den hatte Madox nie getroffen. Für alle anderen Mitglieder der Vargas war er ein Mitglied der De Angelis und damit der Feind. Sie würden ihn wahrscheinlich nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Wenn er dann auch noch mit dem bewusstlosen und offensichtlich verwundeten capo über die Türschwelle trat, konnte er erst recht nicht mit Verständnis rechnen.
Also musste er sich seine Position bei den Vargas wahrscheinlich erkämpfen. Doch welche Position wäre das, und wollte er das überhaupt? Die Position als capo? Diese Verantwortung und die damit verbundenen Machtspielchen hatte er nie gewollt. Er war zum Killer ausgebildet worden. Seine Methoden waren rau und gewalttätig. Er war kein Anführer. Er war ein Mörder.
Und so gefiel es ihm. Er hatte nie etwas anderes gewollt.
Bis zu diesem Zeitpunkt.
Bis zu dem Moment, in dem er in das blutverschmierte Gesicht seines Onkels geschaut hatte, der Madox hintergangen hatte. Sein Onkel war der capo der Vargas gewesen. Er hatte das Erbe von Salvatore Varga, Madox’ Vater, in den Dreck gezogen. Er hatte seine Macht ausgenutzt. Und das hatte dazu geführt, dass Madox die einzige Frau, die sein Herz berührt hatte, nicht hatte beschützen können.
Er ballte eine Hand zur Faust, einen Fluch auf den Lippen. Er hatte lange genug im Schatten gelebt. Hatte lange genug Befehle empfangen.
»Madox? Ich komme jetzt raus. Nicht schießen.«
Beim Klang der unbekannten Stimme zuckte er zusammen und zog sofort wieder die Waffe, richtete sie auf die offene Autotür. Er hörte Stoff, der über lederne Sitze glitt, und dann trat ein Mann nach draußen.
Madox schätzte ihn ein. Trainierter Körperbau, durchschnittliche Größe. Vermutlich relativ stark, aber seine Haltung zeigte schlechte Balance. Er belastete ein Bein stärker als das andere, verlagerte das gesamte Gewicht nur auf einen Fuß. Madox hätte ihn mit einem Tritt aus dem Gleichgewicht und zu Boden bringen können. Der Anzug war maßgeschneidert. Das Haar gestylt, der Gesichtsausdruck konnte nur als hochnäsig bezeichnet werden. Wer auch immer dieser Mann war, er machte sich selten selbst die Hände dreckig. Und wenn er es tat, dann wollte er nicht, dass es jemand bemerkte. Er besaß dunkle Augen, das Haar reichte bis auf den Hemdkragen, die Farbe ein dunkles Braun.
Kein Schwächling, aber auch kein Gegner.
Madox ließ die Waffe wieder sinken. »Wer bist du?«
»Antonio Scuderi. Giuseppes rechte Hand.«
»Und du versteckst dich im Inneren wie ein elender Feigling, während dein capo in Gefahr ist?«
Abwehrend hob Antonio die Hände. »Giuseppe wollte, dass ich im Wagen warte. Ich wusste ja nicht, was hier draußen passiert.« Er warf einen Blick auf den am Boden liegenden capo. »Und ich habe zu lange gezögert, einzugreifen.«
»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Madox.
»Nun …« Antonio trat von einem Bein auf das andere. »Ich nehme an, dass du dich nicht dazu überreden lässt, Giuseppe zu verschonen?«
»Nein.«
»Das habe ich mir gedacht«, murmelte Antonio wie zu sich selbst und sah sich einmal in der verlassenen Straße um.
Vermutlich dachte er gerade darüber nach, ob er Madox besiegen und Giuseppe retten konnte. Aber das war unmöglich. Madox war der bessere Kämpfer. Und er würde nichts und niemanden zwischen sich und seine Rache kommen lassen.
Madox machte einen Schritt auf Antonio zu. »Also … Was hast du vor?«
Antonio schien noch einen Moment lang seine Möglichkeiten abzuwägen, dann schob er die Hände in die Hosentaschen und gab sich gelassen. »Niemand mag Giuseppe. Er ist ein schlechter capo. Er verdient es nicht, die famiglia anzuführen.«
Beinahe hätte Madox gelacht. »Natürlich. Und wen hältst du für einen guten capo? Dich selbst?«
»Nun, so weit würde ich vielleicht nicht gehen. Aber du, du bist Salvatores Sohn, nicht wahr?«
Madox betrachtete sein Gegenüber misstrauisch, nickte aber.
»Sohn eines wahren capo«, sagte Antonio mit schmeichelndem Ton. »Du solltest die Vargas anführen, und ich bin bereit, dir zu helfen.«
Misstrauisch beäugte Madox ihn. Als er das letzte Mal jemandem vertraut hatte, hatte es Menschenleben gekostet. Und diesem Fremden traute er mit Sicherheit nicht. Das alles roch geradezu nach einer Falle. Wahrscheinlich hatte Antonio nur das gesagt, was ihm gerade in diesem Moment das Leben rettete.
Aber wenn er wirklich Giuseppes rechte Hand war, dann war dieser Antonio seine Eintrittskarte zu den Vargas. Die Unterstützung der rechten Hand seines Onkels würde ihm einen besseren Stand verschaffen. Und sollte sich Antonio im Laufe der Zeit noch als Bedrohung herausstellen, dann könnte Madox ihn immer noch töten.
»Was schlägst du vor?«
Antonio warf einen Blick auf den noch bewusstlosen Giuseppe. »Bist du schon fertig mit ihm?«
»Nein.«
»Dann besorge ich uns einen fahrbaren Untersatz, und wir kehren zurück nach Hause.«
Das geklaute Auto hielt vor dem Anwesen der Vargas. Seinen Beifahrer immer im Blick stieg Madox aus und ging zum Kofferraum. Er hatte Giuseppe dort hineinverfrachtet, und der Stille nach zu urteilen, war der capo noch immer ohnmächtig.
Madox hob den Blick und sah sich die alte Villa an, in der er die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Sie befand sich nah am Stadtzentrum und war damit deutlich näher an Palermo als das Anwesen der De Angelis. Dadurch war sie aber auch kleiner. Die Villa lag nicht direkt am Meer, die einzige Erfrischung bot ein Pool hinter dem Haus.
Er war sich nicht sicher, was ihn drinnen erwarten würde. Nur um sicherzugehen, ließ er die Hand in eine Hosentasche gleiten und betastete die vertrauten Konturen seines Lieblingsmessers. Er war auf alles vorbereitet.
Madox öffnete den Kofferraum und betrachtete den ohnmächtigen Mann, der darin lag. Es gab Menschen, die seinen Onkel fürchteten, als wäre er ein Dämon. Aber im Moment sah er nicht besonders angsteinflößend aus, mit seinem Gesicht, das bereits deutliche Spuren der Schläge zeigte. Und Madox empfand nur Verachtung für ihn. Wenn es eine Person gab, die er fürchten würde, dann war es Saphira De Angelis. Denn sie war nicht nur skrupellos und tödlich, sie war auch extrem schlau. Das machte sie zu einem weitaus schlimmeren Gegner, als sein Onkel jemals sein könnte.
Madox hievte sich den bewusstlosen Körper über die Schulter und beobachtete dann, wie Antonio aus dem Auto stieg und ihn ansah. Ein Schauer überlief sein Gegenüber, aber Antonio versuchte nicht besonders erfolgreich, ihn zu unterdrücken.
Diese Art von Reaktion kannte Madox bereits. Entweder hatten die Leute Gerüchte über ihn gehört oder ihn schon selbst in Aktion erlebt. Und das Ergebnis war immer das gleiche: Sie hatten Angst.
Antonio ging es nicht anders. Madox wusste nicht, ob Giuseppe geplaudert hatte oder ob Antonio aus einer anderen Quelle etwas über ihn gehört hatte, aber es hatte eindeutig Wirkung gezeigt.
In diesem Moment setzte Antonio ein Lächeln auf. »Gehen wir rein.« Er lief voraus, und Madox betrachtete ihn ganz genau, merkte sich die Art, wie er ging, um eventuelle Schwachpunkte ausfindig zu machen oder sich in einem zukünftigen Kampf besser auf die Bewegungen einstellen zu können. Denn sein Instinkt sagte ihm, dass es früher oder später zu einem Kampf zwischen ihm und Antonio kommen würde. Es war nur eine Frage der Zeit.
Als er das Haus betrat, tauchte sofort ein junger Mann auf und sah Antonio an. Der soldato zuckte zusammen, und man konnte ihm deutlich ansehen, dass er sich in Antonios Gegenwart nicht wohlfühlte. Als er Madox entdeckte, erblasste er.
»Was ist hier los?«, fragte der soldato.
Antonio deutete hinter sich. »Das ist Madox Varga. Sohn von Salvatore Varga, Neffe von Giuseppe Varga. Giuseppe hat sich einiger schwerer Verbrechen schuldig gemacht, und Madox ist jetzt hier, um ihn zu bestrafen.«
»Aber … Signor Varga ist doch der capo?«, stammelte er.
»Jetzt nicht mehr«, verkündete Antonio mit endgültigem Ton in der Stimme.
Der soldato stellte Antonios Worte nicht infrage. Madox vermutete, dass das sowieso nicht besonders häufig vorkam. Schließlich war Antonio die rechte Hand des capo.
»Begleite Madox in den Keller. Danach sorgst du dafür, dass jemand unser Auto abholt und den Tatort säubert. Dann versammle alle capodecine in Giuseppes Büro. Verbreite die Neuigkeit, dass Madox da ist.«
Der soldato wirkte, als könnte er jeden Moment in Ohnmacht fallen, bedeutete Madox aber, ihm zu folgen.
Madox lief dem jungen und offensichtlich verängstigten soldato durch die Eingangshalle in den Keller hinterher. Giuseppe noch immer über der Schulter. Der Mann trug eine schlecht sitzende Hose und ein Hemd, das ihm viel zu groß war. Er war schlaksig, aber das war nichts, was ein paar Stunden hartes Training in der Woche nicht korrigieren konnten. Seine hellbraunen Haare trug er kurz geschnitten, ein eher lächerlicher Versuch, härter zu wirken. Die Schuhe waren abgewetzt, und Madox vermutete, dass der Junge nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden war.
Viel wahrscheinlicher war, dass er sich auf der Straße herumgeschlagen hatte, bis ihn irgendein verworrener Weg zur Cosa Nostra geführt hatte. Und jetzt war er auf dem niedrigsten Rang und musste für jeden die Drecksarbeit erledigen. Allerdings hatte er jetzt auch immer ein Dach über dem Kopf. Denn kein Mitglied der famiglia würde ihn abweisen. Er würde immer etwas zu essen haben und konnte sich nach oben arbeiten. Er konnte dieses Leben zwar nie wieder verlassen, aber jetzt war er immer noch besser dran als vorher.
Auf dem Weg in den Keller begegnete Madox mehr Protz als Klasse. Eine reine Zurschaustellung von Geld. Auf Marmorsäulen standen Skulpturen, goldgerahmte Gemälde hingen an den Wänden und gläserne Vitrinen beherbergten wertvoll aussehenden Plunder. Hier gab es nicht den Hauch einer anheimelnden Atmosphäre, wie es bei den De Angelis der Fall war.
Saphira.
Madox hielt einen Moment inne. Sie war verletzt, und er war nicht bei ihr. Das versetzte ihm einen schmerzhaften Stich. All seine Instinkte drängten ihn dazu, zu ihr zu eilen. Aber das ging nicht. Denn jetzt wusste sie, dass er der Feind war. Wahrscheinlich jagte ihn inzwischen jedes Mitglied ihrer famiglia. Sie würden seinen Tod wollen – und im Gegensatz zu den Vargas kannten sie sein Gesicht. Es war unmöglich, auch nur in Saphiras Nähe vorzudringen.
Er hatte sich dafür entschieden, als er aus den Schatten zu Saphira und Giuseppe getreten war. Er hatte gewusst, dass sein Onkel ihn entlarven würde. Und er hatte den Schmerz und die Enttäuschung in ihren Augen gesehen. Sie würde ihm niemals verzeihen. Egal, was er sagen oder tun würde. Und da gab es nichts. Er hatte getan, was er für richtig hielt, als er noch geglaubt hatte, sie hätte den Tod seines Vaters verschuldet. Und er hatte dementsprechend gehandelt.
Sie hatten niemals die Chance auf eine Beziehung gehabt. Nicht die geringste. Und jetzt war es endgültig aus.
Also tat er besser daran, sich auf sein aktuelles Problem zu konzentrieren.
Vor ihm hielt der soldato vor einer schweren eisernen Tür am Ende eines nur spärlich beleuchteten Gangs. Der Mann war jung, vermutlich noch nicht lange dabei. Und mit der aktuellen Situation vollkommen überfordert.
Außerdem konnte er Antonio nicht leiden. Das hatte Madox ihm im ersten Moment ansehen können. Aber das war nicht Madox’ Problem. Jedenfalls solange ihm der Kleine deswegen nicht irgendwann Probleme bereitete.
Er betrat den Kellerraum und sah den soldato an, der wie angewurzelt neben der Tür stehen geblieben war. »Hilfst du mir mal?«
Die Decke bestand aus kahlem Beton, in den ein Fleischerhaken an einer Kette eingelassen war. Und genau an diesem Fleischerhaken hingen Handschellen.
»Äh …«
Genervt atmete Madox aus. »Wie heißt du?«
Verwirrt blickte ihn der soldato an. »Lauro.«
»Also, Lauro, dieser Mann hier war einmal dein capo. Jetzt ist er nur noch ein Stück Fleisch. Also beweg deinen Arsch hier rüber und hilf mir.«
Lauro sah Madox noch einen Moment unsicher an, bevor er tief durchatmete und an Madox’ Seite huschte. Er umfasste Giuseppes Handgelenke und fesselte sie mit den Handschellen, die von der Decke hingen.
Als Madox den Körper von der Schulter gleiten ließ, gab Giuseppe ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich.
Madox grinste. Anscheinend wurde sein Onkel genau zur richtigen Zeit wach.