Unerwartet

Irgendwo in Paris, 1688

Das Feuer im Kamin war beinahe heruntergebrannt. Einige Funken stoben aus der Glut auf und verglühten auf ihrem Flug. Der Hund gähnte auf seinem Platz neben dem Kamin. Nur der Mann am Fenster verspürte keine Müdigkeit. Kühle Nachtluft drückte durch die Mauerritzen und wanderte ihm den Rücken hinauf wie eine böse Vorahnung. Seit dem unerwarteten Besuch des Comte Dubois war er von innerer Unruhe ergriffen. Er hatte nicht mit Problemen gerechnet. Tatsächlich gab es nicht oft Probleme, mit denen er sich direkt auseinandersetzen musste. Doch diesmal …

Er stieß sich vom Fenstersims ab und trat ans Feuer. Er goss sich ein Glas von dem dunkelroten Wein ein, der auf dem Kaminsims stand, mied jedoch die Zinnbecher, die er für spezielle Gäste bereithielt. Für Gäste, wie den Comte Dubois. Für Gäste, die weder seinen Namen kannten noch ihn. Die ihn später auf der Straße nicht erkennen sollten. Dass der Comte Dubois ihn gefunden hatte, war dennoch bemerkenswert, wo er sich doch größte Mühe gab, nie lange an ein und demselben Ort zu verweilen. Andererseits wollte er gefunden werden. Gelegentlich. Dubois musste die ganze Stadt auf den Kopf gestellt haben, um ihn aufzuspüren.

Er nippte am Wein und ging neben dem Hund in die Hocke. Der hob den Kopf und ließ sich den Hals kraulen.

»Wir haben ein Problem, alter Freund«, berichtete er dem Vierbeiner, der die Augen genussvoll geschlossen hatte, von Dubois’ Besuch. »Wie es aussieht, werden wir die Goldene Libelle von Lyon nicht so schnell in Händen halten wie geplant.« Er rollte mit den Augen. »Offenbar ist Elian Dubois verschwunden. Soll ich das etwa glauben?«

Der Hund blinzelte und schleckte die Hand seines Herrchens, als wollte er ihn trösten.

»Und damit kann das Haus Dubois seine Schuld nicht begleichen.« Er kniff die Lippen zusammen. »Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas stimmt an dieser Geschichte nicht.«

Der Hund bellte und der Mann lächelte. Er richtete sich wieder zu voller Größe auf und fuhr sich durch sein dunkles Haar, das er entgegen der Mode kurz trug. »Man nennt mich den Teufel von Paris!«, wunderte er sich verärgert und der Hund knurrte leise. »Und trotzdem kommt dieser Dubois hierher, um mich um Gnade oder gar Hilfe zu bitten! Oder um Erbarmen, wo er doch nicht einmal die ursprüngliche Schuld begleichen kann!« Er schüttelte den Kopf und ging mit großen Schritten in das angrenzende Arbeitszimmer. Er setzte sich an den Schreibtisch und betrachtete das Tintenfass vor sich mit der nachtschwarzen Flüssigkeit darin.

Er war wütend geworden, als Albert darum gebeten hatte, seiner Familie dieses eine Mal die Schuld zu erlassen. Als wäre das so einfach. Dubois ahnte ja nicht, wie zwingend gerade diese Schuld erfüllt werden musste. Wie lange er darauf gewartet hatte, dass die Goldene Libelle von Lyon gefunden wurde. Nun befand sie sich zum Greifen nahe, irgendwo in Paris. Und die Dubois baten um Erbarmen. Das war unmöglich. Andererseits … Er stützte den Kopf in die Hände und stöhnte. Dubois hatte behauptet, Elians Schwester Sophie hätte den Chronographen benutzt, um ihren Bruder zu suchen. War diese Familie denn verrückt? Er fuhr sich genervt durchs Haar.

Ein Mädchen … er konnte nicht so einfach ein Mädchen in Gefahr bringen. Er schluckte und schloss die Augen. Trotzdem ließen sich die quälenden Bilder in seinem Kopf nicht vertreiben.

Papa!, hörte er die panischen Stimmen seiner wunderschönen, jungen Schwestern, als wäre er noch immer dort. Dort, am Ort des Grauens. Er sah das Blut vor sich, das glänzend und feucht den Boden neben ihren zarten Körpern bedeckte, und fühlte seine eigene Hilflosigkeit.

Er presste sich die Hand auf die Brust, um den Schmerz zu mildern, doch nichts würde je wieder seine Qualen lindern. Oder doch? Er rieb sich die alte Wunde und atmete tief durch.

Es war so eine Sache mit Mädchen, dachte er und die Bilder in seinem Kopf verblassten. Es war hart, sie in Gefahr zu sehen. Und noch härter, sie sterben zu sehen. Darum machte er keine Geschäfte mit ihnen. Normalerweise nicht …

»Herr?« Die Stimme von Fleur klang besorgt, und obwohl er nicht gehört hatte, wie sie den Raum betreten hatte, überraschte es ihn nicht, als sie ihre Hand auf seine Schulter legte. »Habt Ihr Kummer, Herr?«

Er hob den Kopf, verdrängte die Erinnerungen und lächelte die Neunjährige dankbar an. Es tat ihm gut, sie um sich zu haben. »Ich habe in der Tat ein Problem«, gestand er ihr. »Ich bin auf die Hilfe eines Mädchens angewiesen«, weihte er das Kind ein und schob ihm einen Teller mit Keksen zu, der an seinem Schreibtisch stand. Fleur griff zu und schnappte sich vier Gebäckstücke, ehe sie damit zu dem weichgepolsterten Ohrensessel ging, der vor der Wand mit Bücherregalen stand. Sie setzte sich, zog die Füße unter ihre Schürze und biss herzhaft in den ersten Keks.

»Auf meine Hilfe?«, fragte sie kauend.

» Nein. Auf die eines anderen Mädchens. Ihr Name ist Sophie Dubois. Sie ist kein Kind mehr, aber dieser Stadt sicher nicht halb so gewachsen wie du. Außerdem vertraue ich ihr nicht.«

Fleur kicherte verlegen. »Was soll sie denn für Euch tun, Herr?«

Der Hund kam dazu, als hätten ihn die Kekse gelockt, denn er schlappte zielstrebig zu Fleur und stupste ihre Hand mit der Schnauze an, in der sie die Süßigkeit hielt.

»Ihre Familie schuldet mir etwas«, wich er aus.

»Erlassen wollt Ihr ihr diese Schuld nicht?«

Er musste lächeln. Fleur war spitzfindig. »Nein. Das kann und werde ich nicht.«

Sie nickte und teilte ihren Keks mit dem Hund. Dann schleckte sie die Krümel aus ihrer Handfläche, ehe sie sich ihm wieder zuwandte. »Und wenn ihr jemand helfen würde? Bei der Sache, die sie für Euch tun soll?«

Es gefiel ihm, dass Fleur in den gleichen Bahnen dachte wie er selbst. »Du bist so klug wie schön, kleine Fleur«, lobte er sie und griff nach dem Federkiel, der angespitzt neben dem Tintenfass bereitlag. »Wir bringen keine Mädchen in Gefahr, oui? « Entschlossen tunkte er die Federspitze in die dunkle Tinte. »Wir werden ihr Schutz bieten.« Er lächelte, denn obwohl ihn dieses Problem unvorbereitet getroffen hatte, bot es ihm nun die Gelegenheit, zugleich ein ganz anderes Problem zu lösen. »Das wird in jedem Fall interessant.«