Vielleicht war ich im Vorfeld doch etwas übermütig gewesen. Ich saß Estelle gegenüber in der vornehmen Kutsche der Familie Dubois und befand mich auf dem Weg ins Schloss von Versailles. Und ich machte mir vor Angst fast in die Hosen. Anders als in den sicheren Wänden der Villa wurde mir jetzt erst richtig klar, wo – oder besser gesagt, wann ich mich befand. Das hatte ich bisher kaum richtig realisiert. Vom Gefühl her war es eher so gewesen, als würde in meinem Zuhause eine Art Kostümparty veranstaltet werden. Als wären Albert und Estelle Gäste und die Einrichtung nichts weiter als Partydeko. Doch jetzt, vierundzwanzig Stunden nach meiner Ankunft hier, wo ich ein Kleid trug, das sogar noch pompöser war als das, das ich den Tag über angehabt hatte, und wo mir zwei Zofen die Haare mit Brenneisen in Locken gelegt und mir mit einer Hasenpfote Karmesin auf die Wangen getupft hatten, wurde mein Ausflug in die Vergangenheit so langsam zur Realität.
Das Gefühl, alles nur zu träumen, verblasste, als die Kutsche in ein Schlagloch rumpelte und es mich beinahe von der Sitzbank hob. Ich rückte an die Kutschenwand und schob die Vorhänge auseinander. Das Waldstück, durch das wir kamen, war dicht, und ich fragte mich ernsthaft, ob der Kutscher Rémi womöglich falsch abgebogen war. Dies konnte doch unmöglich die Zufahrt zum berühmten Schloss von Versailles ein.
» Sind wir hier richtig?«, fragte ich Estelle, die zustimmend nickte.
»Wir sind gleich da«, meinte sie und strich sich über ihr taubenblaues Kleid.
Zu meiner Zeit führte eine gut ausgebaute, breite Straße zum Palast. Doch da sich sowohl vor als auch hinter uns weitere Kutschen befanden, lagen Rémi und Estelle vielleicht doch nicht so falsch.
Ein weiteres Schlagloch drückte mich in die Polster und ich schnappte nach Luft. Dabei bekam ich kaum welche, denn das Korsett war derart eng geschnürt, dass ich fast nicht atmen konnte. Außerdem fühlte ich mich ziemlich nackt. Der V-förmige Ausschnitt des üppigen Kleides war zwar mit Spitze unterfüttert, doch meine Brüste wölbten sich trotzdem ungewohnt weit hervor. In der Schule würden den Jungs die Augen aus dem Kopf fallen. Dazu der Unterrock mit Volants aus blutroter Seide, der an der gerafften Vorderseite unter dem goldenen Manteau genannten Überrock hervorschaute. Das war echt etwas viel. Ich klammerte mich an den Fächer, den Estelle mir der Vollständigkeit halber in die behandschuhten Finger gedrückt hatte, und rang meine Nervosität nieder.
Wenn Elian sich in dieser Zeit zurechtfand, dann würde ich das auch schaffen! Oder? Ich schielte zu Estelle, die sich zwar Mühe gab, gelassen zu wirken, deren gefaltete Hände auf dem Schoß jedoch leicht zitterten.
Die Kutsche bog um eine Kurve und mir klappte der Mund auf. Der Palast erstrahlte im Licht unzähliger Leuchter. Allein die Zufahrt war taghell beleuchtet, sodass jeder Gast, der aus einer Kutsche stieg, bewundert werden konnte. Feuer speiende Artisten bliesen Flammensäulen in die Luft und begeisterten die Gäste, die eben erst ankamen.
Vor uns bildete sich eine Schlange aus Kutschen, was mir einen Moment Zeit gab, mich zusammenzureißen. Ich schlug mir leicht auf die Wangen, um mich davon zu überzeugen, dass ich wirklich wach war. Mein Herz hämmerte wie wild gegen das eng geschnürte Korsett und ich tastete durch den bauschigen Seidenstoff nach dem kleinen Messer an meinem Oberschenkel. Ich hatte zu Estelles Entsetzen darauf bestanden, dass sie es mir mit einem Gurt am Bein befestigte. Es dort zu spüren, gab mir Kraft, und ich fühlte mich Elian näher. Es war seine Waffe, und indem ich sie bei mir trug, hatte ich das Gefühl, er würde über mich wachen. Ich benetzte meine Lippen, dann öffnete Rémi den Kutschenverschlag. Er schenkte mir ein Lächeln und reichte mir hilfsbereit die Hand.
»Mademoiselle«, meinte er und half mir aus der Kutsche. Er wartete, bis ich meine Röcke glatt gestrichen hatte. Dann verneigte er sich, ging Estelle beim Aussteigen zur Hand und schloss leise die Kutschtür hinter uns. »Dort entlang, Mesdames.« Er zeigte den fackelbeleuchteten Weg zum Palast hinauf, als hätten wir ihn trotz der vielen Menschen, die ihn entlangströmten, übersehen können.
»Merci, Rémi.« Estelle streckte den Rücken durch und straffte die Schultern. Dann berührte sie sanft meinen Ellbogen. »Ich hoffe, du weißt, was du tust, Kindchen«, flüsterte sie und schritt mir voraus auf das im Feuerschein golden strahlende Schloss von Versailles zu.
Wusste ich, was ich tat? Absolut nicht! Andererseits erwachte gerade in diesem Moment etwas vollkommen Neues in mir. Die Luft, die ich atmete, war fast dreihundertfünfzig Jahre alt. Aber sie belebte mich wie nie etwas zuvor. Die Flammen der Feuerspucker strahlten eine magische Hitze aus und entzündeten damit eine innere Energie, die mir vollkommen neu war. Mein Herz pochte, mein Puls raste, meine Hände zitterten und mein Mund war furchtbar trocken, sodass ich kaum eine Antwort an Estelle herausbrachte. All das vermengte sich zu einem Prickeln auf meiner Haut, zu einem Kribbeln in meinem Magen und einem Sehnen in meinem Innersten, von dem ich unbedingt mehr wollte.
Ich schwebte wie auf Wolken, als ich durch die weit geöffneten Türen in den hell erleuchteten Palast trat, den ich ansonsten nur als Touristenattraktion kannte. Versailles. Epochales Monument des Sonnenkönigs. Strahlender Beweis des Größenwahns des französischen Herrschers. Und wie alle, die wohl zum ersten Mal hierherkamen, war ich regelrecht geblendet von der Schönheit und Eleganz des Schlosses. Gold, Licht, Spiegel, Marmor, so weit das Auge reichte. Dazwischen die Schar von Höflingen und Bediensteten, Edelleuten und schillernden Damen. Ich war überwältigt. Ich schluckte, meine Kehle war allerdings ausgetrocknet. Staunend folgte ich Estelle, die als meine Anstandsdame fungierte, durch Räume und Flure.
»Mach den Mund zu«, meinte Estelle und stieß mich leicht mit ihrem Fächer an.
»Was?«
»Du starrst mit offenem Mund!«, mahnte sie streng.
»Oh.« Ich senkte den Blick und benetzte meine Lippen. »Das ist einfach unfassbar«, wisperte ich ihr zu und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. Wir hatten den Spiegelsaal im ersten Stock erreicht und ich war überwältigt von all dem Prunk. »Sieh dich doch mal um! Wir sind in Versailles! Nicht einfach nur in Versailles! Sondern … in …«
Estelle packte meinen Ellbogen und schlug mit dem Fächer nach mir. »Mach einen Knicks!«, raunte sie und das bunte Stimmengewirr um mich herum verstummte schlagartig. Ich reckte den Kopf, aber Estelle zog mich nach unten. »Knicks!«, fauchte sie durch zusammengebissene Zähne.
Ich tat, was sie verlangte, allerdings nicht, um ihr zu gehorchen, sondern weil alle es machten. Jede Frau in meiner Nähe sank in einen tiefen Knicks, jeder Mann verneigte sich, und keiner sah auf.
Es war, als hielte der gesamte Ballsaal den Atem an. Schritte erklangen, doch ich wagte es nicht aufzuschauen. Sie kamen näher und Estelle entwich ein winziges Wimmern.
»Comtesse Dubois. Was für eine Überraschung.« Direkt vor uns hielten die Schritte an und glänzende mit Pfauenfedern geschmückte Schuhe kamen in mein Sichtfeld. Estelle sank noch tiefer. »Ihr und Euer Gemahl habt uns lange nicht mit Eurer Anwesenheit beehrt.«
»Vergebt uns, Majestät!«, erwiderte sie und ich schnappte hörbar nach Luft.
Ungläubig riss ich den Kopf hoch und starrte den Mann vor mir an. Das war verrückt! Ludwig der XIV. – der Sonnenkönig höchstpersönlich – stand vor mir. In all seiner Pracht. Er trug sein Haar dunkel gelockt, bis tief in den Rücken, war glatt rasiert, und sein knielanger Rock tailliert, mit goldenen Borten verziert und mit Edelsteinen besetzt, betonte seine große, schlanke Gestalt. Der Sonnenkönig war so beeindruckend wie auf all den Gemälden, die man von ihm kannte. Sogar noch beeindruckender. Und vor allem – lebendig.
Und er musterte mich irritiert, weil ich gegen die Etikette verstieß.
Estelle neben mir wurde weiß wie die Wand.
Der König sah von ihr zu mir und wieder zurück. »Ein neues Gesicht bei Hofe?«, fragte er und bedeutete mir mit einem gelangweilten Wink, mich zu erheben.
Meine Knie zitterten und das Mieder kam mir von Atemzug zu Atemzug enger vor.
»Majestät«, presste ich fast tonlos hervor und fragte mich, was ich tun sollte? Den Blick gesenkt lassen? Des Königs Blick erwidern? Wurde von mir erwartet, dass ich etwas sagte? Etwas tat?
Der König musterte mich, ohne eine Regung in seinem Gesicht erkennen zu lassen. Dann hielt er mir die Hand hin und ich schüttelte sie.
Estelle keuchte, schlug sich die Hand vor den Mund und machte den Eindruck, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen.
Schnell ließ ich die Finger des Königs los.
»Vergebt meiner Nichte, Majestät«, flehte Estelle dramatisch. »Sie war noch nie bei Hofe, sie …«
Ludwig hob die Hand und unterbrach Estelle. »Still«, verlangte er und ein leichtes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. »Den Namen Eurer Nichte. Nennt ihn Uns.«
Estelle wurde immer kleiner in ihrem Knicks. »Ihr Name ist Sophie Dubois«, wisperte sie beinahe tonlos.
Ludwig nickte. Erneut streckte er mir die Hand entgegen, doch diesmal nahm er meine behandschuhten Finger in seine. Er lächelte. Dann hob er meinen Handrücken an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf. »Sophie Dubois.« Auch seine Stimme war leise. »Willkommen in Versailles.« Er hielt nach wie vor meine Hand und sein Blick bohrte sich geradewegs in meinen. Seine Augen waren blau und von einer Klarheit, die keinen Zweifel daran ließen, dass alle Welt seinem Befehl folgte. »Und wenn wir Euch das nächste Mal unsere Hand anbieten, dann küsst Ihr sie, oui? «
»Klar!«, stieß ich hervor und wollte mir am liebsten die Zunge abbeißen. Klar? Zum König von Frankreich sagte man vermutlich einiges – aber keinesfalls klar!
»Oui, Majestät«, schob ich entschuldigend hinterher. »Es … tut mir leid. Ich …«
Er winkte ab, drehte sich um und ging weiter, als hätte er mich schon in dem Moment vergessen, in dem er sich der nächsten Person zuwandte, die seine Aufmerksamkeit erregte.
Estelle schlug sich die Hand aufs Herz. Sie packte mich grob am Arm und zog mich mit sich in den Nebenraum.
»Meiner Treu! Was für eine Katastrophe! Du hast den König verärgert!«
»Hab ich das?« Ich starrte den Rücken des Monarchen noch immer durch die offene Tür an. Es war unglaublich, dass dies wirklich und wahrhaftig der Sonnenkönig war. Und doch war seine Aura so königlich und herrschaftlich gewesen, dass ich keinen Zweifel daran hatte.
»Warum hast du nicht seine Hand geküsst? Weißt du nicht, was für eine Ehre es ist, die Hand des Königs zu küssen?« Estelle klappte ihren Fächer auf und wedelte sich hektisch Luft zu.
»Woher sollte ich das wissen?«, fragte ich spitz. »Mich hat nie jemand auf diesen Tag vorbereitet«, erinnerte ich sie verärgert. »Und so schlimm war das jetzt auch nicht. Er hat gelächelt, ich habe es genau gesehen!«
Estelle fasste sich erneut ans Herz, doch diesmal, um ihr Riechsalzfläschchen aus dem Ausschnitt ihres Kleides zu ziehen. »Ich werde ohnmächtig, wenn ich mir das vorstelle«, keuchte sie und lehnte sich an eine der vielen marmornen Säulen. »Und dabei sind wir eben erst angekommen! Dein Onkel hatte recht. Ein Mädchen … kann das nicht! Wir sollten gehen. Unverzüglich.«
Der König war weitergegangen und ich konnte ihn nicht mehr entdecken. Vermutlich befand er sich in der Traube von Menschen, die sich um ein Piano versammelt hatten.
»Wir gehen nicht! Ich muss diesen Mann finden, den ich hier treffen soll«, erinnerte ich sie und reckte den Hals, um aus einer der offenen Bogentüren in den Palastgarten spähen zu können. Ich musste mich zwingen, mich von all dem Glanz und Fantastischem nicht ablenken zu lassen. Ich war nicht hier, um dem König die Hand zu küssen. Ich war hier, weil der Teufel von Paris es so wollte. »Sag mal, Estelle … weißt du eigentlich, wie er aussieht?«, fragte ich, denn mir kam der Gedanke, dass der Teufel von Paris irgendwo um uns war. War er womöglich hier, um zu sehen, ob seine Anweisungen befolgt wurden?
Unauffällig ließ ich meinen Blick über die Gäste schweifen. Wer von denen wirkte so, als wäre er ein Mann, der sich Teufel von Paris nannte? Wen umgab eine Aura des Bösen? Oder des Übernatürlichen? Mir rann ein Schauer den Rücken hinab, denn im Grunde konnte jeder hier der Teufel sein.
»Wie wer aussieht?« Estelle fächerte noch immer recht hektisch. »Der Mann, der dir helfen soll?«
»Nein. Der Teufel von Paris«, teilte ich meine Überlegungen mit ihr. »Weißt du, wie er aussieht?«
»Mais, non! Natürlich nicht.« Sie hielt den Fächer so, dass sie mir dahinter zuflüstern konnte. »Niemand weiß, wer er ist.«
»Hat denn Albert nie etwas von ihm erzählt? Er muss ihn doch gesehen haben.«
Estelle zuckte mit den Schultern. »Albert spricht nicht gerne darüber. Er sagt, er musste etwas trinken, das ihn benommen gemacht hat. Du hast ja erlebt, wie er zurückkam. Am besten fragst du ihn da selbst noch einmal, denn ich will gar nicht mehr wissen, als unbedingt nötig ist.«
Das würde ich auf jeden Fall tun. Allein die Vorstellung, dieser beängstigende Mann könnte irgendwo ganz in der Nähe sein, ließ meine Hände in den Handschuhen schwitzen.
Überhaupt war mir wahnsinnig heiß. Die Aufregung, den Sonnenkönig getroffen zu haben, und all die prachtvollen Eindrücke – das war etwas viel auf einmal. Ich legte mir die Hand auf den Magen und atmete so tief durch, wie mein Kleid es eben zuließ. »Ich fühle mich beobachtet«, gab ich zu, denn der Eindruck, als würden uns hundert Augenpaare folgen, wurde von Minute zu Minute drängender.
»Wir werden beobachtet«, stimmte Estelle mir zu. »Unsere Familie war seit Jahren nicht mehr bei Hofe, und du bist ein neues Gesicht. Der Hofstaat verzehrt sich nach Neuem. Alles, was älter als einen Tag ist, verursacht bei Hof Langeweile. Wir werden morgen das Gesprächsthema sein, fürchte ich.«
»Dann … sollten wir nicht länger als nötig hier sein, oder?«
Estelle nickte. »Du solltest unverzüglich zum Brunnen gehen, während ich hier …«, sie schluckte und klappte entschieden ihren Fächer zu, »versuche, die Neugier, die wir wecken, zu dämpfen.« Sie schaute mir geradewegs in die Augen und zwinkerte. Ich wusste, was sie meinte. Sie würde lügen.
Noch ehe ich etwas erwidern konnte, rauschte eine Dame mit hochgestecktem Haar herbei und grüßte Estelle so laut, dass sich die Umstehenden zu uns umdrehten.
»Comtesse Dubois! Was für eine Freude, Euch wiederzusehen! Wie lange ist das her? Zwei Jahre?«
Estelle knickste und auf ihren auffordernden Blick hin, machte ich es ihr nach. »Drei«, verbesserte sie die Dame. »Vivienne de la Roche, darf ich vorstellen – eine Nichte meines Mannes, Sophie Dubois. Sophie, das hier ist meine liebe Freundin Madame de la Roche.«
» Madame.« Ich knickste höflich und beobachtete Estelle. Sie war gut. Sie sah ihrer Freundin lächelnd ins Gesicht. Direkt in die Augen. »Sophie ist erst kürzlich bei uns angekommen. Sie hat eine lange Reise hinter sich«, blieb sie nahe bei der Wahrheit, auch wenn sie und Vivienne vermutlich in verschiedene Richtungen dachten. Es war eine Kunst, die Wahrheit zu sagen und dabei dennoch zu lügen. Eine Kunst, die Estelle gut beherrschte, wie ich fand.
»Wie reizend.« Madame de la Roche hob ihre Hand an meine Locken und tätschelte mir die Wange. »Eine hübsche junge Dame.« Sie nickte wohlwollend. »Ist sie hier, um sich zu vermählen?«
Estelle schüttelte den Kopf. »Sie ist auf der Durchreise, um ihren Bruder nach Hause zu bringen.«
Nun, das war schon eine etwas weitere Auslegung, wenngleich immer noch die Wahrheit. Schließlich musste ich ihn nicht nur nach Hause bringen. Ich musste ihn erst mal finden. Und das in wenigen Tagen. Dabei lief mir so langsam die Zeit davon.
»Die ganzen Eindrücke sind doch etwas viel auf einmal«, mischte ich mich unschuldig in das Gespräch ein und deutete mit dem zugeklappten Fächer in Richtung der Gärten. »Ich werde ein bisschen frische Luft schnappen, Tante Estelle. Bitte mach dir keine Umstände. Ich bin gleich zurück.«
»Mais, non!« Madame de la Roche hob empört die Augenbrauen. »Wir begleiten dich natürlich. Alles andere wäre unschicklich.«
Ich verkniff es mir, mit den Augen zu rollen, als sich Vivienne bei mir einhakte und mich durch die weit geöffneten Türen nach draußen führte.
»Oh!«, entfuhr es mir, als sich die Pracht des Palastgartens vor mir erstreckte. Er war mit Flammen erhellt und die Fontänen der Wasserbecken wirkten wie flüssiges Silber.
»Beeindruckend, wenn man das erste Mal hier ist«, meinte Estelle und zog Vivienne ein Stück von mir weg. »Warum gehst du dich nicht etwas umsehen, während mich Madame de la Roche auf den neuesten Stand bringt, was den Klatsch und Tratsch bei Hofe anbetrifft.«
Vivienne klatschte begeistert. »Oh, Estelle – du hast einiges verpasst. Wusstest du, dass sich Madame Noirot zuletzt in Begleitung eines jungen Mannes gezeigt hat, der …«
Estelle hob den Zeigefinger an ihre Lippen. »Vivienne!«, rief sie empört. »Das sind sicher keine Geschichten, die Sophie hören sollte!« Sie scheuchte mich mit einem Wink die Stufen in den Garten hinunter. »Geh dich umsehen, Kindchen. Wir warten hier auf dich.«
»Oui, Comtesse«, folgte ich gehorsam und rollte nun doch mit den Augen. Dieses folgsam Unterwürfige lag mir gar nicht. Aber da Estelle mir damit die Möglichkeit gab, ungestört zum Brunnen zu gelangen, wollte ich nicht meckern.
Ich überquerte die breite Terrasse und schaute mich um. Das Mondlicht spiegelte sich in den symmetrisch angelegten riesigen Wasserbecken. Eine halbhohe Hecke rahmte den Gartenbereich ein, ehe sich dahinter eine schillernde Wasserfontäne in den Himmel erhob. Mein Blick wanderte über das eckige Bassin mit Apollo in seinem Streitwagen, der aus den Fluten des Brunnens auftauchte. Der Nachthimmel war sternenklar und das goldene Licht der Sterne spiegelte sich im Wasser, als wären sie vom Himmel herabgestiegen, um ein Bad zu nehmen.
Ehrfürchtig hob ich den Saum meines Kleides und stieg die Stufen hinab. Ich, in diesem Kleid, an diesem Ort – es war magisch und trotz meiner Sorge um Elian fühlte es sich an wie ein Traum. Die Kühle der Nacht auf meiner Haut war wohltuend und die Musik, die durch die geöffneten Fenster ins Freie drang, trieb mich beschwingt voran. Irgendwie war es cool, hier zu sein. Auch wenn der Grund dafür alles andere als schön war.
Aber wer würde so etwas schon erleben? Wer aus meiner Schule würde je empfinden, was ich gerade empfand. Dieses Kribbeln im Magen, dieses Prickeln auf der Haut. Den Hauch der Geschichte, der mich umwehte.
Ich hatte den Brunnen des Apollo erreicht. Als ich mich umdrehte, war es mir unmöglich, Estelle und Vivienne unter den Gästen vor dem Palast auszumachen. Ich schlenderte weiter und die Lichter des rauschenden Festes schafften es nicht, die Rückseite des Brunnens zu erreichen. Selbst die Musik war über das Rauschen des Wassers kaum mehr zu hören. Ich ließ meinen Rocksaum los, klemmte mir den Stoff zwischen die Beine, um das Kleid zu schützen, streifte mir den Handschuh von den Fingern und tauchte die Hand ins Wasser. Die Tropfen benetzten meine Haut und ich breitete die Finger unter der Oberfläche aus.
Es gefiel ihm nicht, hier zu sein. Nicht heute. Nicht aus diesem Anlass. Valentin Delacroix stand im Schutz der Nacht, verborgen hinter kunstvoll getrimmtem Buchs. Er war nicht wegen des rauschenden Fests hier. Nicht wegen des Königs. Oder weil die milde Nacht regelrecht zum Feiern einlud. Er war hier, weil er gar nicht anders konnte. Und obwohl er nicht erpicht darauf gewesen war herzukommen – unter diesen speziellen Umständen, wallte nun Neugier in ihm auf, als er die schlanke Silhouette einer jungen Frau auf den Brunnen des Apollo zukommen sah.
Er regte sich nicht, um seine Anwesenheit noch nicht zu verraten. Erst wollte er sich ein Bild von der Frau machen, die er hier treffen würde.
Ihr Gesicht lag im Dunkeln, aber das Mondlicht ließ erkennen, dass sie zierlich war. Die hellen Locken fielen ihr sanft auf die Schultern, als sie sich über das Wasserbecken beugte. Sie wirkte verletzlich. Vielleicht weil ihre Taille so eng geschnürt war, dass er glaubte, sie mit seinen Händen umfassen zu können.
Es war offensichtlich, dass diese junge Frau Schutz brauchte. Und sei es nur vor Verehrern. Schon dass sie allein hier im Dunkeln herumspazierte, war leichtfertig.
Er trat einen Schritt aus dem Schutz der Dunkelheit und der Wind trug leise Musik an sein Ohr. Er näherte sich ihr, doch sie schien ihn nicht zu bemerken. Sie streifte sich die Handschuhe ab und tauchte ihre Hand in Apollos Fluten. Er war ihr nun so nah, dass er das Zittern bemerkte, das ihren Körper überlief.
»Ist es kalt?« Eine Stimme wie Samt umfing mich, und eine dunkle Gestalt spiegelte sich im Wasser des Brunnens. Erschrocken hielt ich den Atem an, zog meine Hand zurück und drehte mich langsam um. Graublaue Augen fingen meinen Blick.
»Es ist … erfrischend«, antwortete ich, während ich versuchte, mich aus diesem intensiven Blick zu lösen. Ich benetzte meine Lippen, war aber nicht in der Lage, auch nur einen Millimeter zurückzuweichen. Als wäre ich gefangen von der Aura dieses Fremden.
Er war jung. Zumindest jünger als viele der Gäste hier. Dabei sicher älter als ich. Vielleicht neunzehn. Und doch wirkte er durch seine selbstsichere Erscheinung ernst und erwachsen. Als hätte er schon viel erlebt. Sein kurzes dunkles Haar schillerte im Mondlicht geheimnisvoll und der sanfte Schwung seiner Augenbrauen lenkte meine Aufmerksamkeit sogleich wieder zurück zu diesen eindrucksvollen Augen. Ich spürte, dass auch er mich musterte. Seine markanten Lippen verzogen sich amüsiert, als er das zwischen meine Knie geklemmte Kleid wahrnahm. Schnell gab ich den Stoff frei und strich die Seide glatt.
»Erfrischend«, wiederholte er meine Worte mit einer seltsamen Betonung und hob erneut den Blick, um mir ins Gesicht zu sehen.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, als ich mir einen Beschützer vorgestellt hatte. Einen Mann wie einen Türsteher in der Disco vielleicht. Bullig, mit dicken Muckis und geballten Fäusten. Aber niemals hätte ich damit gerechnet, dass der Mann, der mir zur Seite gestellt wurde, so attraktiv aussehen könnte. So perfekt. Selbst die kleine Narbe an seiner Augenbraue tat der Perfektion keinen Abbruch. Er trug einen Mantel aus dunkelblauem Samt, mit einer ganzen Reihe von silbernen Knöpfen, die unter seinem weißen Halstuch begannen und über seine Brust bis hinunter zu den Knien reichten. Dunkle Kniebundhosen, die man Culotte nannte, schauten unter dem Gehrock hervor, und die Spitze des Halstuchs fand sich außerdem in den gebauschten Rüschen an den Ärmeln wieder. Seine Haltung war selbstsicher und ich war überzeugt davon, dass, wäre ich ihm an diesem Abend bereits begegnet, er mir aufgefallen wäre. Obwohl er vom Stil seiner Kleidung her genau die gängige Mode traf, unterschied ihn etwas von all den anderen Herren hier.
» Was tut Ihr ganz allein in der Dunkelheit?« Seine Stimme war tief und sanft. Ich senkte den Blick und streifte mir den Handschuh über, um etwas Zeit zu gewinnen, denn mein Herz raste wie wild und ich war zu keinem klaren Gedanken fähig. Dann sah ich ihn an. »Ich bin nicht allein. Du … Ihr seid ebenfalls hier.« Ich musste mich echt auf diese übertriebene Art zu sprechen konzentrieren.
Wieder zuckten seine Lippen. »Dann wäre es nur höflich, mich vorzustellen«, meinte er und legte seine Hand vor seinen Bauch, ehe er eine Verbeugung andeutete. »Valentin Delacroix, stets zu Diensten, Mademoiselle.«
Ich wusste, nun war es an mir, mich vorzustellen, doch was, wenn dieser Mann nicht der war, mit dem ich mich treffen sollte? Ich schaute mich um, doch weit und breit war niemand sonst zu entdecken.
»Was führt Euch hier heraus, Monsieur Delacroix?«, fragte ich stattdessen und deutete in die uns umgebende Dunkelheit. »Das Fest findet drinnen statt.«
Nun schmunzelte er wirklich und seine Augen funkelten schelmisch. »Auch Ihr feiert hier draußen.« Er hob unschuldig die Arme. »Was, wenn es uns … bestimmt ist, uns hier zu treffen?«
Ich verkniff mir ein Seufzen, denn diese Stimme, sie war markant und regelrecht geheimnisvoll. Sie jagte mir einen kribbelnden Schauer über den Rücken.
»Glaubt mir, Monsieur. Ich sollte ganz sicher nicht hier sein.« Das war die Wahrheit und sie fühlte sich dennoch an wie eine Lüge, denn verdammt – ich wollte gerade nirgendwo sonst sein. Jede Zelle meines Körpers war gespannt. Alle meine Sinne auf mein Gegenüber ausgerichtet.
»Den Geboten des Anstands folgend – sollte keiner von uns hier sein«, stimmte er mir zu. »Erlaubt mir also, Euch zurück zum Schloss zu begleiten?«
»Ich weiß nicht«, zögerte ich und biss mir auf die Lippe. »Ich …« Was, wenn er nicht der Richtige war? Er sah viel zu gut aus für einen Gehilfen des Teufels von Paris. Ich konnte nicht mit ihm gehen, nur weil er schöne Augen hatte. Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Er hatte unfassbare Augen! »Ich … komme allein zurecht. Danke. Ich bleibe lieber noch etwas hier, Monsieur.«
»Ich bin Euch in den Garten gefolgt, weil ein gemeinsamer … Bekannter meint, Ihr bräuchtet in den nächsten Tagen eine Begleitung. Einen Beschützer womöglich. Also bitte, nennt mich Valentin.« Er bot mir seinen Arm.
»Ich bin Sophie«, gab ich nach, und weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, legte ich meine Hand auf seine. »Unser gemeinsamer Bekannter?«, hakte ich nach, und nun schlug mein Herz nicht nur wegen des Mannes vor mir schneller. Ich gehörte nicht in diese Zeit. Ich hatte hier keine Bekannten. Außer … »Meint Ihr den …«
»Schhht.« Er legte den Finger an seine Lippen. »Die Nacht ist schon dunkel genug.« Er blickte hinter mich, bevor er weitersprach. »Reden wir nicht von ihm. Erzählt mir lieber von Euch, Sophie. Ich weiß gerne, was mich erwartet.«
Das hätte ich auch gerne gewusst, denn nun war ja wohl klar, dass Valentin Delacroix der Mann sein musste, den ich hier hatte treffen sollen. Er war der Mann, der mir helfen sollte. Doch was genau wusste er über mich? Was durfte ich ihm offenbaren? Vertraue niemandem , hatte Albert mich gewarnt. Ich ließ zu, dass er mich an den Brunnen vorbei in Richtung Palast führte.
»Wenn es stimmt, was Ihr sagt, dann verratet mir, was unser gemeinsamer Bekannter Euch erzählt hat«, forderte ich, während ich mir seiner Nähe viel zu bewusst war. Je näher wir dem Schloss kamen, umso mehr Aufmerksamkeit erregten wir. Die Leute sahen uns nach. Kein Wunder, denn Valentin Delacroix war der attraktivste junge Mann des gesamten Hofstaats.
Und sein Lächeln ließ selbst den goldenen Prunk des Schlosses glanzlos wirken. »Nichts«, gab er zurück. »Ich weiß nichts über Euch. Ihr seid eine wahre Überraschung.«
»Warum lasst Ihr Euch dann darauf ein? Warum solltet Ihr mir helfen, wenn Ihr gar nichts über mich wisst?«
Valentin blieb stehen und blickte mir in die Augen. »Niemand in Versailles tut etwas ohne guten Grund. Auch ich habe meine Gründe – aber würdet Ihr darauf bestehen, sie Euch zu nennen – müsste ich lügen.«
»Und das gebt Ihr so offen zu?«
»Warum nicht? In Versailles lügen alle, Mademoiselle Dubois.«
Ich erstarrte. »Ich dachte, Ihr wisst nichts über mich. Meinen Familiennamen habe ich Euch nämlich nicht genannt«, erinnerte ich ihn erschrocken.
Valentin Delacroix zuckte mit den Schultern und bedeckte meine Hand mit seiner, damit ich nicht vor ihm zurückweichen konnte. Er beugte sich näher zu mir und flüsterte. »Dann weiß ich vielleicht doch mehr, als ich zugebe.«