Jeder ist verwundbar

Maison de Dubois, 1688

Dann war es eben kein Vergnügen für ihn, mich kennenzulernen. Das machte mir nichts aus. Für mich hielt sich das Vergnügen schließlich ebenfalls in Grenzen. Valentin Delacroix hatte mich behandelt wie ein Kleinkind. Ich war furchtbar wütend, weil er tatsächlich zu glauben schien, meinen Bruder ohne mich leichter finden zu können.

Meine Laune war so auf dem Tiefpunkt, dass sogar Lucille bei jedem meiner genervten Seufzer erschrocken zusammenzuckte. Sie hatte mir aus dem Kleid geholfen und war nun dabei, mir die kunstvollen Locken auszukämmen.

Ihre Fragen nach meinem Abend hatte ich einsilbig abgewürgt und sie hatte es inzwischen aufgegeben, ein Gespräch anfangen zu wollen. Ich wollte meine Laune nicht an ihr auslassen, doch meine Sorge um Elian ließ mich meine Höflichkeit vergessen. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und wann immer mein Blick auf den Chronographen fiel, der nun vor mir auf dem Waschtisch lag, wurde mir klar, dass mir die Zeit davonlief. Und da war nun mal keine Zeit für Höflichkeiten.

»Danke, Lucille. Den Rest schaffe ich allein«, sagte ich und wartete, bis sie sich zurückgezogen hatte. Dann stützte ich den Kopf in die Hände und atmete tief durch. Ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass Valentin Delacroix wusste, wie wenig Zeit mir blieb. Albert hatte gemeint, dass ich niemals und mit niemandem über den Chronographen sprechen durfte. Und darüber, wozu er diente. Also war anzunehmen, dass Valentin keine Vorstellung davon hatte, wo ich wirklich herkam. Es war wichtig, ihn davon zu überzeugen, dass ich tatsächlich bloß auf der Durchreise war. Doch das bedeutete, ich musste mehr tun, als abzuwarten.

Ich stand auf und trat ans Fenster. Rémi war gerade dabei, die Pferde von der Kutsche abzuspannen. Einem Impuls nachgebend öffnete ich das Fenster. »Rémi!«, rief ich gepresst, um niemanden sonst im Haus zu wecken. Der junge Kutscher hielt in der Bewegung inne und lauschte. »Hier oben, Rémi!« Er wandte sich um und schaute zu mir hoch.

»Mademoiselle, Sophie?«

»Ja.« Ich beugte mich etwas weiter hinaus. »Rémi, ich bräuchte ein Pferd. Kannst du mir eines satteln?«

»Mademoiselle?«, hakte er irritiert nach. »Ein Pferd? Jetzt?«

»Ja. Ich muss nach Paris. Darum brauche ich ein Pferd.«

»Mais, non!« Rémi machte ein geschocktes Gesicht. »Das halte ich für keine gute Idee, Mademoiselle!«

Ich straffte die Schultern und rief mir etwas in Erinnerung, das Estelle mir gesagt hatte: Wir rechtfertigen uns nicht. Wir haben Geld.

»Und ich halte es für keine gute Idee, mit mir darüber zu diskutieren«, gab ich zurück und legte mehr Entschlossenheit in meine Stimme, als ich in Wahrheit empfand. »Sattle mir ein Pferd. Jetzt.« Damit wandte ich mich ab, hastete zur Kleidertruhe und wühlte darin nach den Klamotten, die ich mir aus Elians Schrank geborgt hatte. Nachdem ich diese angezogen hatte, steckte ich mir die blonden Haare notdürftig mit Haarnadeln unter die Kappe und befestigte den Beutel mit Gold an meinem Gürtel unter dem Mantel. Dann schlich ich mich aus meinem Zimmer, die Treppe hinunter und in den Hof.

Rémi war meiner Aufforderung gefolgt, doch wie er mich ansah, gefiel mir nicht. Wie Jacques, der Junge aus meinem Wissenschaftskurs an der Schule, der immer alles besser zu wissen glaubte.

»Mademoiselle, ich muss wirklich darauf bestehen, dass ein Ritt nach Paris um diese Uhrzeit –«

Ich hob die Hand und unterbrach ihn so. »Glaub mir, Rémi, ich war schon oft allein in Paris.« Die Wahrheit war manchmal die größte Lüge. Natürlich war ich schon oft allein in Paris gewesen. Ich ging dort zur Schule. Fuhr täglich dorthin. Mit dem Bus, mit Freunden oder Elian. Aber natürlich nie allein nachts mit einem Pferd, das ich vermutlich nicht einmal besonders gut würde reiten können. Ich hatte im Alter von zwölf Jahren mal zwei Jahre Unterricht genommen, aber so richtig hatte ich mich an Pferde nie gewöhnt. Sie waren … groß. Doch das durfte ich mir vor Rémi nicht anmerken lassen.

»… aber …« Rémi musterte mich besorgt. »Wie Ihr angezogen seid, Mademoiselle, das …« Er schüttelte den Kopf, denn anscheinend fehlten ihm die Worte.

Doch ich würde bloß mehr Zeit verlieren, wenn ich mir von seinen Bedenken noch mehr Angst machen lassen würde. Die hatte ich ohnehin. Also griff ich mir die Zügel und kämpfte mich in den Sattel. Das war in den Stiefeln, die mir zu groß waren, und mit dem schweren Ledermantel gar nicht so einfach, doch ich schaffte es. Mit einem Ruck an den Zügeln trieb ich das Pferd an und trabte zum Torhaus. Der Torwärter rieb sich verschlafen übers Gesicht, öffnete allerdings auf meinen Ruf hin das Tor.

Kaum lag die Straße vor mir, ließ ich das Pferd schneller werden. Der Wind fuhr mir unter den Mantel und ich fröstelte, während mich die Hufschläge ordentlich durchschüttelten. Wenigstens konnte ich mich halten. Selbst ein kleiner Sieg war es wert, gefeiert zu werden, und so stieß ich ein erleichtertes Seufzen aus, als ich mich nach den ersten Minuten an das Tempo und den Sitz im Sattel gewöhnt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich brauchen würde, um Paris zu erreichen. Mit dem Auto benötigte man keine halbe Stunde in die Stadt, aber mit dem Pferd? Die Straßen waren in schlechtem Zustand, ausgefahren von den Kutschen, die stetig von Paris nach Versailles und zurück fuhren. Und die Nacht war dunkler, als ich es erwartet hatte, nicht nur, weil die Hälfte des Weges durch dichten Wald führte, sondern auch, weil man Straßenlaternen hier vergeblich suchte. Das Pferd, das immer wieder nervös mit den Ohren zuckte, war definitiv nicht allein mit seiner Angst. Je weiter ich kam, umso dümmer kam mir diese Idee vor. Aber jetzt umzukehren, wäre auch nicht besser.

Beinahe hätte ich vor Erleichterung geweint, als sich nach einer gefühlten Ewigkeit die Umrisse der Stadt im silbernen Licht des nahenden Morgens abzeichneten. Der Himmel glomm in dunklem Blau und bis zum Sonnenaufgang würde es noch etwas dauern, doch die Dunkelheit der Nacht verblasste allmählich, als ich das Pferd langsam auf die ehemalige Stadtmauer zulenkte. Die Trümmer aus Gestein lagen aufgetürmt an den Seiten des Weges, aber die Mauer war fort. Ich erinnerte mich, im Geschichtsunterricht gehört zu haben, dass Ludwig der XIV. die Stadtmauern hatte schleifen lassen, um Paris weltoffener wirken zu lassen. Anstelle der alten Mauern, die noch vor wenigen Jahren die Stadt geschützt hatten, wurden nun Plätze und Promenaden errichtet, um die Schönheit der Stadt von Weitem erkennen zu können.

Mir jedenfalls kam das gelegen und ich ritt ungehindert in die Stadt. Mein Rücken war schmerzhaft steif, als ich das Pferd über die Brücke der Seine lenkte. Morgennebel waberte über die Ufer und die Geräusche ließen erahnen, dass die Stadt so langsam erwachte. Ein Hahn krähte sich die Seele aus dem Leib und am Ufer beluden Fischer einen Kahn. Ich dirigierte das Pferd über die leichte Böschung zum Wasser hinunter und mein Blick schweifte zu den beiden Türmen von Notre Dame. Die Kirche ragte in der Ferne am Seineufer auf und mir schnürte es das Herz zusammen, wenn ich daran dachte, dass dieses Wahrzeichen von Paris in meiner Zeit von Baugerüsten umrahmt war, weil es einem Brand zum Opfer gefallen war.

Ich rieb mir die Gänsehaut von den Armen und riss mich vom Anblick der Kirche los. Ein Stück dahinter befand sich der Hafen. Doch dort sollte ich mich allein besser nicht blicken lassen. Bereits hier fühlte ich mich nicht ganz wohl, denn die einzigen Menschen, die sich um diese Zeit auf den Straßen aufhielten, waren Männer. Wie die beiden Fischer vor mir. Zögernd stieg ich ab und näherte mich den beiden, die Netze auf das Boot luden.

»Bonjour«, grüßte ich mit verstellter Stimme und hoffte, man würde mich für einen jungen Mann halten. Die Fischer drehten sich zu mir um. Einer kratzte sich fragend am Kopf, der andere musterte mich lediglich flüchtig, ehe er seiner Arbeit weiter nachging.

»Ich bin auf der Suche nach einem Mann namens Elian Dubois. Kennt ihr ihn?«, rief ich übers Wasser. Die beiden Kerle sahen sich kurz an. Dann kam der, der sich gekratzt hatte, über die wackelige Planke zurück ans Ufer.

»Elian Dubois?«, hakte er nach und kam näher. Er roch nach Fisch und Schweiß. Eine echt fiese Mischung.

»Kennt Ihr ihn? Oder habt Ihr von ihm gehört?«, fragte ich und atmete flach. Das Pferd zog am Zügel und ich strauchelte in den großen Stiefeln.

Der Fischer kratzte sich am Kopf und musterte mich skeptisch. »Ich nicht, aber mein Bruder Romain, der dort oben in der Schenke hockt, der kennt wirklich jeden. Er weiß alles, was in Paris vor sich geht.« Er sprach langsam, als wäre er müde.

Was für ein Glück! War das zu glauben? Ein Typ, der jeden kannte und alles mitbekam, würde mir garantiert helfen können! Voll neu erwachter Hoffnung, wäre ich dem Fischer am liebsten um den Hals gefallen. Da er sich allerdings schon wieder kratzte, ließ ich das lieber sein. Vielleicht war der Kerl nicht einfach nachdenklich, sondern hatte Kopfläuse – oder Schlimmeres …

Unauffällig wich ich ein paar Schritte zurück.

»Ich kann auf das Pferd aufpassen, wenn du mit Romain reden willst«, bot er mit schleppender Stimme an und streckte mir die Hand nach den Zügeln entgegen. »Für ’ne kleine Bezahlung, versteht sich.«

Na klar, so wurden die Dinge hier geregelt. Ich nickte, drehte mich zur Seite, damit der Kerl nicht sehen konnte, wie prall gefüllt mein Beutel mit Münzen war. Dann fischte ich mir eine Hand voll Sous heraus und knöpfte meinen Mantel wieder zu. Ich reichte dem Typ die Münzen und die Zügel. Irgendwann – so dachte ich – würde der Kerl von einer Parkuhr ersetzt werden. Er ließ die Münzen in seiner Hemdtasche verschwinden und tätschelte dem Pferd den Hals. »Aber nicht trödeln. Ich hab noch zu tun«, ermahnte er mich und deutete auf das Boot.

»Ich beeile mich«, versprach ich und war in Gedanken schon bei Romain. Was, wenn mir der Kerl in dem Wirtshaus wirklich sagen konnte, was mit Elian geschehen war? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet dieser Kerl das wusste? Ziemlich gering. Aber vielleicht hatte ich ja zur Abwechslung mal Glück. Es wäre jedenfalls cool, wenn ich sowohl Albert als auch Valentin beweisen würde, dass ich Elian ganz ohne ihre männlichen Superkräfte gefunden hätte.

Beschwingt stieg ich den Hügel hinauf, bei jedem Schritt darauf bedacht, die dummen Stiefel nicht zu verlieren und dabei irgendwie jungenhaft zu wirken. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich nur ein Wirtshaus. Die Tür stand weit offen, als müsste der Mief der vergangenen Nacht hinausgelassen werden. Ein Mann, taumelte mir betrunken entgegen, als ich mich dem Eingang näherte. Er lallte etwas Unverständliches und ich wich ihm vorsichtshalber aus. Dann ging ich durch die Tür und blinzelte in das schummrige Dämmerlicht. Draußen war es inzwischen heller als dort drinnen.

Ich hielt den Atem an, denn allein die Luft war so geschwängert von Alkohol, dass ich befürchtete, allein vom Einatmen betrunken zu werden. Nur noch wenige heruntergekommene Gestalten hingen hier herum. Einer lag schnarchend auf einer Wirtshausbank und hatte den Hut ins Gesicht gezogen, ein anderer schlief, den Kopf in die Hände gestützt, am Tresen. Dahinter eine Magd, die Bierkrüge spülte. Ihr Mieder war schockierend tief ausgeschnitten und ihre Schürze wies etliche Flecken auf. Trotzdem war sie meine erste Wahl.

»Bonjour.«

Sie sah von ihren Krügen auf, sagte jedoch nichts.

»Ich bin auf der Suche nach einem Ihrer Gäste. Ein Herr namens Romain«, erklärte ich, aber in den Augen der Frau glomm keinerlei Funke auf.

»Kenn ich nicht«, murmelte sie. »Kenn hier jeden. Aber ein Romain is’ hier nicht. Und war auch nicht hier.«

» Sicher?«

»So sicher wie das Amen in der Kirche.«

Mist. Ich biss mir auf die Lippe, um nicht zu fluchen.

»Sein Bruder sagt, dass er hier ist«, wollte ich nicht aufgeben, doch die Frau zuckte lediglich mit den Schultern.

»Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist«, meinte sie lustlos und tauchte den nächsten Krug ins Wasser.

Ich schaute mich noch einmal im Schankraum um. Tatsächlich wirkte keiner von denen so, als hätte er Ahnung davon, was in der Welt vor sich ging. Oder auch nur in Paris.

Das versetzte meiner Motivation einen gewaltigen Dämpfer. Ich war müde, erschöpft und keinen Schritt weiter. Aber es wäre auch zu schön gewesen, Elian so schnell zu finden. Das war kein Weltuntergang. Nur ein kleiner Rückschlag. Ich würde so schnell nicht aufgeben. Also straffte ich die Schultern, drehte mich um und verließ die Schenke. Als ich auf die Straße trat, ging im Osten gerade die Sonne auf und ließ den Himmel über Paris purpurn erstrahlen, und auch der Fluss strahlte in flammendem Rot, als würde er brennen. Mein Blick glitt zum Ufer, doch weder Boot noch Pferd noch der Kerl mit den Läusen waren dort auszumachen.

»Was?!«, stieß ich hervor und rannte los. »Das gibt’s doch nicht!« Ein Stück den Fluss hinunter schipperte der Kahn auf dem Wasser und mein Pferd stand auf dem schmalen Bootsdeck.

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was ich da beobachtete. Diese verfluchten Fischer hatten mir mein Pferd gestohlen!

»Nein!«, schrie ich ihnen hinterher und stolperte am Ufer entlang. »Stopp! Haltet an!« So schnell ich in den viel zu großen Stiefeln auch rannte, ich kam kein Stück näher an das Boot heran. Im Gegenteil. Es entfernte sich immer weiter, und vor mir war die Uferböschung mit wilden Brombeerranken überwuchert. »Verdammt, ich bin so blöd!«, schimpfte ich atemlos und hielt mir die stechende Seite. Ich hatte keine Ahnung, was ich nun tun sollte. Ohne Pferd konnte ich ja nicht einmal mehr zurück in die Villa der Dubois gelangen!

Ich ballte die Fäuste und starrte dem Fischerkahn noch einen Augenblick zornig hinterher. Dann drehte ich mich um und zuckte zusammen. Eine Gruppe ziemlich verwegen aussehender Straßenkinder beobachtete mich. Die schmutzstarrenden Gesichter der Kinder weckten mein Mitleid und machten mir zugleich Angst. Denn es waren viele – und sie kamen wie eine geschlossene Wand, Schulter an Schulter, auf mich zu.

Verdammt. Hinter mir verhinderte das Wasser eine Flucht, neben mir das Brombeerdickicht. Und von oben die Kinder, die mit jedem Schritt, den sie sich mir näherten, entschlossener wirkten.

»Was wollt ihr?«, rief ich ihnen entgegen, denn einer der Jüngeren zog einen Stock hinter seinem Rücken hervor.

»Du schaust aus, als hast du Geld!«, antwortete ein Mädchen, dessen Gesicht rußig Schwarz verschmutzt war.

»Ich hab kein Geld!«, log ich, auch wenn ich unter anderen Umständen gerne etwas für diese hungrigen Kinder abgegeben hätte. Doch ich brauchte mein Geld vielleicht noch für Elian.

»Du schaust aus wie ein verwöhnter Popel mit Geld im Kittel!«, rief ein Junge, der keine Schuhe trug.

Ich hob unschuldig die Hände und versuchte, möglichst allen einmal in die Gesichter zu sehen, um überzeugend zu wirken. »Stimmt!«, gab ich zu und wich einen Schritt zurück. Meine Stiefel versanken im Uferschlamm. »Ich hatte Geld bei mir.«

Das gierige Funkeln in den Augen der Meute nahm zu. »Aber ihr kommt zu spät! Mein ganzes Gold befindet sich in den Satteltaschen meines Pferdes. Und das wurde mir eben von diesen Fischern gestohlen!«

»Er lügt!«, rief ein Mädchen, das ich höchstens für fünf Jahre alt hielt. Sie trug einen zerschlissenen Kittel und ihre Haare waren verfilzt. In ihrer Hand blitzte eine Klinge.

»Ich lüge nicht!« Ich atmete tief durch. Dann suchte ich mir den heraus, den ich für den Anführer hielt, und blickte ihm direkt in die Augen. »Mein Pferd ist weg – und mit ihm mein Geld.« Ich unterdrückte mein Zittern und deutete den Abhang hinauf. »Sucht euch einen, der nicht so dumm ist wie ich und der sein Geld noch bei sich hat!«

Der Anführer runzelte die Stirn, hob aber die Hand, um die anderen aufzuhalten.

»Wenn du kein Silber hast, dann nehmen wir deinen Mantel!«, forderte ein Junge weiter hinten aus der Gruppe.

»Und die Stiefel!«, rief ein anderer, und im nächsten Moment erhob sich Gebrüll und sie rannten auf mich zu.

Ich war so perplex, dass ich mich nicht einmal verteidigte, als mir ein Kind die Faust in den Magen rammte und der nächste mir die Kappe vom Kopf riss. Ich hörte mich um Hilfe schreien, war mir allerdings gar nicht bewusst, dass ich das tat. Sie stießen mich ins nasse Gras und mir wurde ein Stiefel vom Fuß gezerrt. Unzählige Kinderhände rissen an meinen Klamotten. Noch ehe ich mich auch nur daran erinnerte, dass ich mir zur Verteidigung das Messer in den Stiefel gesteckt hatte, war es auch schon gestohlen.

Panisch presste ich mir die Hände aufs Gesicht, aus Angst, sie könnten mich verletzen. Am Ende mit meinem eigenen Messer! Ich wusste, ich musste mich wehren, aber ich brachte es nicht fertig, zurückzuschlagen. Das waren kleine Kinder. Auch wenn sie sich eher wie eine Horde Raubtiere verhielten. »Nein!«, kreischte ich, als ich Hände unter meinem Mantel spürte. »Hilfe!« Ich rollte mich auf den Bauch, um meinen Beutel und den Chronographen an meinem Gürtel zu schützen. Ich durfte keines von beidem verlieren.

»Verschwindet! Lasst mich!«, kreischte ich. Mein zweiter Stiefel wurde mir vom Fuß gerissen und ich rappelte mich unter den Faustschlägen der Meute auf. Ich stieß einen Jungen um, der nicht mehr ganz so klein war, als dass er mein Mitleid verdient hätte, und kämpfte mich weiter. Nasser Uferschlamm klebte mir zwischen den Zehen, als ich die Böschung hinauffloh, während ich verzweifelt die gierigen Finger von meinem Mantel stieß. Fast oben angekommen, packte mich einer und wirbelte mich herum, sodass ich rückwärts auf die Straße taumelte.

»Hilfe!«, kreischte ich wieder, denn anders als unten am Ufer hielten sich hier Bürger auf. »Hilfe!« Ich schrie wie eine Irre und tatsächlich hielten die Kinder nun etwas Abstand. Meine Knie zitterten und ich machte einen wackeligen Schritt zurück. Die Kinder verharrten auf der anderen Straßenseite. Einige starrten mich noch immer an. Die Blicke der anderen waren auf etwas gerichtet, das hinter mir war.

Valentin Delacroix folgte einer zwielichtigen Gestalt die Straße hinab. Einem Mann mit dem Namen Thibault. Seinen Informationen nach befehligte dieser Thibault eine Truppe Arbeiter am Hafen. Und durch seine Hände wanderten nicht nur die legalen Waren, die per Schiff nach Paris gelangten. Seinem Ruf nach, waren Thibaults Dienste käuflich, und so manch wertvolle Fracht ging wohl unter seiner Obhut auch mal verloren. Zumindest, wenn seine Informationen richtig waren.

Außerdem hatte er gehört, dass Elian Dubois zuletzt nach einem Mann namens Thibault gefragt hatte. Ein Zufall? Valentin glaubte nicht an Zufälle. Er hatte keine Ahnung, was Sophies Bruder von einem zwielichtigen Hafenarbeiter gewollt haben könnte, doch das würde er schon noch herausfinden.

Mit großem Abstand folgte Valentin Thibault, um nicht dessen Misstrauen zu wecken. Vielleicht würde der ihn geradewegs zu Elian Dubois führen. Er wollte diese Sache so schnell wie möglich erledigen. Thibault bog in eine Seitengasse ab und Valentin beschleunigte seine Schritte, als ein Tumult am anderen Ende der Straße seine Aufmerksamkeit forderte. Eine Horde Straßenkinder ging auf einen einzelnen Bürger los. Valentin kniff die Lippen zusammen. Die Zustände in Paris waren erbärmlich. Zu viele Kinder hatten weder ein Dach über dem Kopf noch etwas zu essen. Sie rotteten sich dann zu räuberischen Banden, wie der vor ihm, zusammen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Sie taten ihm beinahe mehr leid, als der arme Tropf, der dumm genug gewesen war, ihnen in die Arme zu laufen. Kurz blieb er stehen und überlegte einzuschreiten. Doch auch wenn es ihm widerstrebte, wegzusehen, während ein Mitbürger auf offener Straße ausgeraubt wurde, so war dies ein recht ungünstiger Zeitpunkt, sich einzumischen.

Er wandte sich ab und erreichte die Gasse, in die Thibault abgebogen war, doch der war verschwunden.

Valentin ballte die Fäuste. Ein Fluch entfuhr ihm und er machte einige schnelle Schritte in die Gasse hinein. Er lauschte. Abgesehen von den Rufen der Straßenkinder war nichts zu hören. Keine Schritte auf dem Pflaster, die sich irgendwo entfernten, keine Tür, die geschlossen wurde. Thibault war fort.

Valentin schlug sich auf den Oberschenkel. Wütend, weil er sich für einen Moment durch den Überfall hatte ablenken lassen, stieß er einen Fluch aus. Dann straffte er die Schultern und ging auf die Raufbolde zu, die seinen nächtlichen Einsatz ruiniert hatten.

»Hilfe!«, hörte er das Opfer noch immer kreischen, aber die Prügelei hatte sich inzwischen vom Ufer den Hügel hinauf bis fast zur Straße verlagert, und der arme Wicht, den die Kinder sich vorgeknöpft hatten, taumelte rückwärts auf die Fahrbahn. Blonde Haare hingen der mageren Gestalt wirr ins Gesicht und der nächste Hilferuf ließ ihn erstarren.

Ungläubig und nicht gerade wenig verärgert straffte er die Schultern und stellte sich den Kindern entgegen. Ein Blick auf das zerrupfte Opfer dieses Überfalls bestätigte seinen Verdacht. Das konnte doch nicht wahr sein!

Er fasste in die Innentasche seines dunklen Lederumhangs und zückte das Einzige, was es vermochte, diese Meute aufzuhalten.

Ich zitterte. Die Angst schnürte mir die Luft ab. Die Gier in ihren Augen war echt zu viel für mich und ich taumelte panisch rückwärts, auch wenn dir Kinder mir gerade nicht mehr folgten. Ihre Blicke richteten sich auf etwas hinter mir. Etwas, das sie daran hinderte, erneut auf mich loszugehen.

Doch noch ehe ich mich umdrehen konnte, um zu sehen, was das war, regnete es Münzen auf die Straße, und die Kinder stürzten sich wie hungrige Wölfe darauf.

»Kauft euch was zu essen!«, mahnte eine tiefe Stimme und eine Hand legte sich auf meine Schulter. Dann an meinen Unterarm. »Und du, komm!« Es war keine Bitte. Sondern ein Befehl. Heißer Atem strich über meinen Nacken und ich setzte mich automatisch in Bewegung. Fort von den Kindern mit den gierigen Augen. Fort von meinen Stiefeln. Jeder Kiesel stach mir in der Fußsohle. Trotzdem merkte ich kaum, wohin ich ging. Ich spürte nur die Erleichterung, die mich so heftig traf, dass sich mein Zittern sogar noch verstärkte. Meine Lunge krampfte, als ich erleichtert einatmete. Ich war sicher. Sicher, denn ich wusste, zu wem diese unverwechselbare Stimme gehörte.

»Was zum Teufel tust du hier?«, herrschte mich mein Retter so grob an, dass ich mich einen Moment fragte, ob ich vielleicht doch nicht sicher war. Ob ich mich vielleicht doch täuschte, was die Stimme anging. Ich wollte ihn anschauen, doch er drängte mich in eine Seitengasse und drehte mich erst dort verärgert zu sich herum.

Valentin Delacroixs Blick strotzte vor Missbilligung und kaum unterdrückter Wut. Ich blinzelte. Er war es wirklich. Aber er sah anders aus als am Abend im Palast. Dunkler. Statt des blauen Rocks mit den Goldknöpfen trug er nun ein tailliertes Wams aus schwarzem Leder und über der rechten Schulter einen dunkelbraunen Umhang, der fast bis zu den Knien reichte. Er hatte lederne Handschuhe an und an seinem Gürtel waren ein Rapier mit langer Klinge sowie eine Muskete befestigt. Und seine Beine steckten in dunklen Reithosen, die in kniehohen Stiefeln endeten. Er wirkte gefährlich und ganz sicher nicht wie der begehrteste Junggeselle in Versailles. Wäre nicht seine Stimme, hätte ich ihn vielleicht gar nicht sofort erkannt. Wobei – hätte ich diese Augen vergessen können? Vermutlich nicht.

»Ich …«

Er kniff seine markanten Lippen zusammen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Weißt du, wie knapp das war?« Kurz flackerte Sorge in seinen graublauen Augen auf. »Die hätten dich gerupft wie ein Huhn! Und was sie getan hätten, wenn sie erst gemerkt hätten, dass du ein Mädchen bist, das will ich lieber nicht wissen!«

»Das waren Kinder!«, brachte ich zu deren und meiner Verteidigung hervor.

Valentin schüttelte den Kopf. »Nicht alle von denen sind so jung, wie sie aussehen. Sie hungern, sind schmächtig, aber nicht alle sind Kinder. Und in ihrer Not kennen sie keine Gnade, Sophie!«

»Es tut mir ja leid.«

»Was hast du dir nur dabei gedacht?« Er streifte seinen Handschuh ab und steckte ihn in den breiten Gürtel an seiner Taille. Dann hob er mein Kinn an und wischte etwas von dem Schmutz ab, der an meiner Wange klebte. »Das war gefährlich.«

Ich schluckte. »Ich weiß. Entschuldige. Denkst du, ich wollte, dass mir mein Pferd gestohlen wird? Aber seit Elian verschwunden ist, nimmt mich niemand ernst! Mein Vater nicht, Albert nicht und du …« Sein strenger, gleichzeitig sorgenvoller Blick machte mich ganz verlegen. »Du denkst auch, dass ich der Sache nicht gewachsen bin.«

Valentins Lachen wirkte in dieser dunklen Gasse fehl am Platz, doch es beruhigte meinen Herzschlag. »Du bist der Sache nicht gewachsen«, meinte er schmunzelnd und deutete auf meine Füße. »Dein Pferd ist weg und du hast nicht einmal mehr Stiefel an.« Er zupfte mir eine Haarnadel vom Kopf und reichte sie mir. »Und das da oben … ist ein Desaster, wenn du mich fragst.«

»Ich frage dich nicht!«, fauchte ich und riss ihm die Nadel aus der Hand. Dann fuhr ich mir hektisch durchs Haar und noch einige mehr Nadeln fielen klimpernd aufs Pflaster. Er hatte vermutlich recht. Ich kam wie ein gerupftes Huhn daher.

»Was hast du denn gedacht, hier allein zu erreichen?«, überging er meinen schroffen Ton und auch sein Blick wurde milder.

»Ich dachte, dass zwei Leute meinen Bruder schneller finden als einer allein! Rein rechnerisch schaffen zwei Leute in der gleichen Zeit doppelt so viele Kneipen. Das ist Logik!«

Wieder vertrieb sein leises Lachen die Dunkelheit. »In der Theorie stimmt das. In der Praxis sieht es so aus, dass ich, bis dein Hilferuf meine Aufmerksamkeit forderte, einem Mann gefolgt bin, der Thibault genannt wird – und sein Name ist mir im Zusammenhang mit deinem Bruder begegnet.«

»Echt?« Ich packte Valentins Hand. »Du hast einen Hinweis gefunden?«

Er blickte auf unsere ineinander verwobenen Finger. »Wer immer dieser Thibault ist, was immer er über deinen Bruder weiß – er ist jetzt weg.«

»Verdammt!« Ich ließ ihn los und kickte einen Kiesel, doch ohne Schuh war das keine gute Idee. »Au!«

Diesmal hallte Valentins Lachen laut durch die Gasse, was mich echt wütend machte. »Das ist nicht witzig!« Ich holte aus, um nach ihm zu schlagen, doch er wich einfach vor mir zurück.

»Theoretisch nicht –«, prustete er. »Praktisch aber durchaus.«

»Das Leben meines Bruders ist in Gefahr, und der Kerl, der möglicherweise etwas über Elians Verschwinden weiß, ist weg. Wir stehen wieder am Anfang!«, versuchte ich ihm zu verdeutlichen, warum ich das überhaupt nicht lustig fand.

»Wir stehen nicht am Anfang.« Valentin bedeutete mir, ihm zu folgen. Der dunkle lederne Umhang schlug ihm dabei bei jedem Schritt gegen die Oberschenkel und das Wams spannte sich eng um seinen Oberkörper. Er sah aus wie ein Krieger. Wie ein Musketier aus einer Fernsehserie, dachte ich. Nur dass der Degen an seinem Gürtel nicht bloß eine Requisite war. »Zum einen wissen wir jetzt, dass dieser Thibault – sollte er denn wirklich unser Mann sein – im Wirtshaus zur wilden Sau Stammgast ist. Bestimmt geht er morgen Nacht wieder dorthin.«

»Und zum anderen?«, fragte ich, als wir aus den Schatten der Gasse in die wärmende Morgensonne auf den Place Chaillot traten. Ein paar wenige Händler boten hier ihre Waren an. Äpfel und Birnen wurden verkauft und frisch gebackenes Brot. Mein Magen knurrte lautstark, als mir der Duft von geräucherten Würsten in die Nase stieg, und zudem stachen mir bei jedem Schritt Steinchen in die Fußsohlen. Wenn ich ehrlich war, war ich ziemlich hinüber.

»Zum anderen«, setzte Valentin unser Gespräch fort, während er mich über den Platz bugsierte, »gibt es vermutlich nur zwei Möglichkeiten. Die eine ist, dein Bruder wurde unabhängig von diesem Thibault überfallen und ermordet. Dann verlieren wir nicht viel, wenn wir ihn erst einen Tag später finden.«

»Soll das irgendwie tröstlich sein?«, fragte ich ungläubig und versuchte den Gedanken, Elian könnte tot sein, erst gar nicht zuzulassen.

Ein Mauerbogen führte in einen Hinterhof. Hier pfiff Valentin durch die Finger, sodass ein Junge herbeigeeilt kam. Er drückte ihm eine Münze in die Hand und der Junge verschwand im Hof.

»Was ist das? Was macht er? Wofür hast du ihn bezahlt?«

Valentin zwinkerte mir zu. »Wenn man in der Stadt zu tun hat – und nicht möchte, dass einem sein Pferd gestohlen wird, dann stellt man es hier ein.«

Na super! Ich hatte nicht gewusst, dass es Parkhäuser für Pferde gab. Schweigend wartete ich ab, bis der Bursche Valentin sein Pferd gebracht hatte. Er griff die Zügel und führte es zu mir. Sein Grinsen war noch so breit wie zuvor.

»Du bist schadenfroh!«, stellte ich fest und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich kam mir so dumm vor, doch das wollte ich keinesfalls zugeben.

Valentin stritt das nicht einmal ab. Stattdessen drehte er das Pferd vor mir und nickte in Richtung Sattel. »Ich bringe dich mal besser nach Hause.«

Er verschränkte die Hände ineinander, um mir in den Sattel zu helfen, doch ich zögerte. »Was ist die zweite Möglichkeit?«

»Die zweite?« Er sah mich irritiert an.

»Du hast gesagt, die erste Möglichkeit ist, Elian ist tot.« Ich suchte seinen Blick. »Was ist die zweite?«

Es war, als würden Schatten über seine Züge gleiten. Sein Kiefer zuckte leicht, ehe er antwortete. »Edelmänner wie dein Bruder werden für Lösegeld gefangen genommen. Sollte jemand – zum Beispiel dieser Thibault – mit deinem Bruder Geld machen wollen, wird er ihm kein Haar krümmen. Auch dann kommt es auf einen Tag hin oder her nicht an, Sophie«, versicherte er mir und nickte noch einmal in Richtung Sattel. »Und jetzt lass uns hier verschwinden, bevor ich dir am Ende auch noch eine Wurst kaufen muss.«

»Ich kann mir selbst eine Wurst kaufen!«, stellte ich klar, hob trotzdem meinen Fuß in seine Hände, um mir aufs Pferd helfen zu lassen. Es war ein ungewohntes Gefühl, mein nackter Fuß in seinen Händen, und dann, als ich das eine Bein übers Pferd hob, seine Hand stützend an meinem Schenkel. Ich sank in den Sattel und benetzte meine plötzlich trockenen Lippen. Einen Augenblick später zog sich Valentin hinter mir aufs Pferd. Er rückte eng an mich heran und griff um mich herum nach den Zügeln. Sein Atem strich mir über den Nacken und seine Brust stützte mich. Es war ungewohnt, einem Mann so nahe zu sein. Ungewohnt und aufregend.

Valentin schnalzte mit der Zunge und das Pferd setzte sich in Bewegung. Die ersten Minuten aus der Stadt hinaus verliefen schweigend. Ich war müde und erschöpft, versuchte aber, mich aufrecht im Sattel zu halten, um Valentin nicht mehr als nötig zu berühren. Ich ärgerte mich über mich selbst. Dort, wo mich die Fäuste dieser verwahrlosten Kinder getroffen hatten, schmerzten meine Rippen. Ich hatte nichts erreicht, außer mir Verletzungen zuzuziehen und Valentin von der Verfolgung Thibaults abzuhalten. Niedergeschlagen seufzte ich, als wir an den Resten der Stadtmauer vorbeikamen und Paris schließlich hinter uns ließen. Das Adrenalin, das mich seit Stunden auf den Beinen hielt, ebbte langsam ab und ich sank – entgegen meiner Absicht – immer weiter gegen Valentins Brust.

»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit«, flüsterte ich erschöpft und drehte mich leicht, um meinen Begleiter über meine Schulter hinweg ansehen zu können.

»Welche?« Seine Lippen waren nah, was mich kurz verwirrte. Sein Blick wanderte über mein Gesicht, und es fühlte sich an, als würde er mich streicheln.

»Welche was?«

»Was ist die dritte Möglichkeit?«, erinnerte er mich, wobei seine Lippe leicht zuckte. Schmunzelte er schon wieder? Ich war zu nah, um das wirklich sagen zu können.

»Elian könnte verletzt sein. Dann würde doch jeder Tag zählen. Oder nicht?« Ich drehte mich wieder um und schaute über den Hals des Pferdes in die Ferne. Meine Kehle wurde eng und ich fühlte mich, als würde ich gegen etwas ankämpfen, das so unendlich viel größer war als ich selbst. Ich hatte Angst. Was, wenn ich zu spät käme? Wenn doch jeder Tag zählte?

Valentins Arme schlossen sich fester um mich. Tröstend? Oder eher einschüchternd? Ich war mir nicht sicher. »Wir finden deinen Bruder. Aber das läuft jetzt nach meinen Regeln. Du triffst keine eigenmächtigen Entscheidungen mehr.« Er strich mir eine Locke hinters Ohr, die ihm ins Gesicht wehte. »Für dich den Begleiter zu spielen und zudem noch deinen Bruder zu finden, ist eine Sache. Aber wenn ich auch noch dir den Hals retten muss – dann wird das selbst für mich etwas viel.«

»Selbst für dich, ja?« Hatte er eine Ahnung, wie arrogant das klang?

Vielleicht, denn sein leichtes Lachen vibrierte in meinem Rücken.

»Mich wirft so leicht nichts aus der Bahn«, raunte er und trieb das Pferd mit den Fersen an. Er fasste mich fester und ich wurde dichter an ihn herangeschoben.

»Hat dich … unser Bekannter deshalb gebeten, mir zu helfen? Weil du dich für unbesiegbar hältst?«

»Ich halte mich nicht für unbesiegbar«, stellte er klar und seine Stimme war dicht an meinem Ohr. Ich mochte, wie mir der raue Klang eine Gänsehaut bereitete.

»Du bist es?«, fragte ich skeptisch.

»Nein. Niemand ist unbesiegbar.« Er hielt die Zügel fester, wobei mir der Chronograph gegen die Rippen gedrückt wurde. Ich fühlte das Ticken und hoffte, dass Valentin es nicht ebenfalls spürte. »Jeder … ist verwundbar. Selbst ich. Wir leben in gefährlichen Zeiten, Sophie.«