Bruno hob neugierig die Nase, als wir mit Tellern voll Essen in den Salon zurückkehrten. Ob das am Duft der Eier lag oder an Elian, der uns folgte, konnte ich nicht sagen. Der Hund erhob sich von seinem Platz am Feuer und kam mit wedelndem Schwanz näher. Erst umrundete er Elian, bevor er das Interesse an dem Neuankömmling zu verlieren schien und sich an Valentins Fersen heftete. Der stellte die Teller auf den Kaminsims und gab Bruno ein Stück Schinken.
»Und jetzt ab mit dir. Der Rest ist für uns«, sagte er und tätschelte dem Hund die Flanke. Dann sah Valentin zwischen mir und Elian hin und her. »Es gibt auch ein Speisezimmer, aber hier ist es bereits warm – zudem sind wir unter uns. Übertriebene Etikette ist also unnötig.« Er lud sich eine Scheibe Brot auf den Teller, belegte diese mit Schinken und Ei und biss umgehend herzhaft davon ab. »Nehmt euch, wenn ihr wollt«, bot er an und trat vom Kaminsims zurück, um uns die Möglichkeit zu geben zuzugreifen.
»Danke«, meinte Elian und folgte der Aufforderung. Er belegte auf die gleiche Weise wie Valentin zwei Brote, von denen er mir eines reichte. »Schmeckt gut«, nuschelte er mit vollem Mund.
Valentin grinste mich über seinen Tellerrand an. »Die Kunst ist es, die Eier nicht verbrennen zu lassen.«
Ich warf Valentin einen warnenden Blick zu, aber sein Grinsen wurde nur breiter. Dann wandte er sich an Elian, als würde er die Spannung nicht spüren, die sich zwischen uns aufbaute.
»Es tut mir übrigens leid, dass ich hier eingebrochen bin«, gab Elian zu, ohne wirklich schuldbewusst zu wirken.
Valentin nickte. »Wäre ich nicht damit einverstanden gewesen, hätte ich Euch gestellt«, gab Valentin trocken zurück und runzelte die Stirn. »Hätte ich dich gestellt«, verbesserte er sich. »Ich sieze niemanden, der bei mir einbricht, auch wenn ich wusste, dass du da bist, noch ehe Sophie an die Tür geklopft hat.« Er warf dem Hund ein weiteres Schinkenstück zu. »Er ist harmlos, hat aber eine gute Nase.«
Elian zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, es tut mir leid. Aber ich musste mir Gewissheit verschaffen.«
»Weil Sophie mich für den Teufel von Paris gehalten hat?«
Elian nickte. »Dabei stehst du genauso in der Schuld dieses Kerls wie ich.« Seine Augen verengten sich. »Und ich bin dein Auftrag.«
»Oui . Ein durchaus interessanter Auftrag.« Valentins Blick streifte mich kurz. »Und so leid es mir tut, ich habe keine andere Wahl, als ihn zu erfüllen. Da ich bereits einen Auftrag nicht erfüllt habe, stecke ich seit ein paar Jahren in dieser Zeit fest. Dies ist meine Gelegenheit, dem Teufel von Paris zu beweisen, dass ich willens bin, die Schuld meiner Familie zu erfüllen, und sein Vertrauen zurückzugewinnen. Dann händigt er mir hoffentlich meinen Chronographen aus, sodass ich endlich nach Hause zurückkehren kann.«
»Der Teufel von Paris hat verlangt, dass er in der Giftaffäre Beweise fälscht, um Madame de Montespan zu belasten«, brachte ich Elian auf den neuesten Stand.
»Ich weigerte mich.« Valentin stellte seinen leeren Teller zurück auf den Sims. »Aber jemand anders hat den Auftrag ausgeführt. Madame de Montespan wurde verdächtigt. Sie hätte hingerichtet werden können.« Er musterte Elian. »Warst du das?«
»Nein.«
»Aber wer dann?«, fragte ich und schüttelte den Kopf. »Wie viele Menschen stehen wohl in der Schuld dieses Teufels? Und warum? Was ist an ihm so besonders, dass er eine solche Macht über die Menschen hat?«
»Das werden wir herausfinden«, meinte Elian entschlossen. »Und dann werden wir uns von unserer Schuld befreien.«
Valentin schüttelte den Kopf. »Was du vorhast, bringt nicht nur dich in Gefahr. Hast du mal an deine Schwester gedacht?«
»Nein, habe ich nicht!« Elian wurde laut. »Ich habe ja überhaupt nicht gewollt, dass sie hierherkommt. Das alles betrifft sie nicht! Sie ist ein Mädchen, und dem Teufel damit nichts schuldig!«
»Das stimmt nicht! Ich habe den Auftrag übernommen, die Goldene Libelle von Lyon zu finden, weil du es nicht getan hast!«
»Du hättest dich nicht einmischen dürfen!«
»Was?« Ich starrte Elian entgeistert an. »Hätte ich vielleicht lieber zusehen sollen, wie der Teufel unsere Blutlinie auslöscht?« Ich feuerte den Teller auf den Sims zurück und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin zufällig Teil dieser Blutlinie und nicht gerade scharf darauf, ausradiert zu werden!«
»Es war nicht geplant, dass ich den Chronographen verliere«, murrte Elian. »Ich war am Hafen, um mich mit Thibault zu treffen. Ich wusste, dass meine Zeit abläuft und ich gleich nach Hause zurückkehren würde. Also bin ich um die Lagerhalle gegangen, damit mein Verschwinden nicht auffällt, und im nächsten Moment – bäm! – haut mir jemand ein Holzscheit über den Schädel. Ich hab den Kerl mit dem Dolch abgewehrt. Alles war verschwommen und dann … hat es mich einfach umgehauen.«
»Der Kerl hat sich deinen Chronographen geschnappt, nur um dann auf unserem Fußboden zu verbluten!«, fauchte ich. »Manchmal gehen also deine ach so tollen Pläne nicht auf!« Ich warf die Arme in meiner Verzweiflung in die Luft. »Und jetzt kann einer von uns nicht zurückreisen, Papa ist weg und Valentin muss uns verraten, wenn er seine Chance auf ein normales Leben nicht auch noch wegwerfen will!« Ich ließ die Hände sinken und die Tränen rannen mir über die Wangen.
Ich schaute Valentin an, wünschte mir, dass er zu mir kam und mich in die Arme nahm, doch das tat er nicht. Er senkte den Blick, als könnte er es nicht ertragen, mich weinen zu sehen. Doch Trost suchte ich bei ihm vergeblich. Vermutlich, weil meine Tränen nichts an seinem Vorhaben änderten.
Sophie weinen zu sehen, war mehr, als er ertragen konnte. Alles in ihm schrie danach, sie zu trösten, ihr die Tränen von den Wangen zu küssen, doch das würde seinen Entschluss ins Wanken bringen. Er konnte sich Gefühle nicht leisten. Konnte es sich nicht leisten, so kurz vor dem Ziel zu scheitern.
»Der Teufel von Paris weiß längst, dass dein Bruder gegen ihn arbeitet.« Valentin bedachte Elian mit einem Kopfschütteln.
Dessen Miene verfinsterte sich. »Er ahnt es! Er weiß es nicht – zumindest steht auf deinem Pergament der Schuld, dass es dein Auftrag ist, ihm darüber Gewissheit zu verschaffen und mich und Sophie im Auge zu behalten.« Er hob den Zeigefinger. »Und: Du sollst ihm die Libelle besorgen, falls du sie in die Hände kriegst!« Elian trat an Sophies Seite. »Es wäre also besser, wir vertrauen diesem Kerl nicht!«
Valentin seufzte. »Und am allerbesten wäre es, du erledigst einfach deinen Auftrag, findest die Scheißlibelle selbst und beweist so, dass der Verdacht des Teufels sich als falsch herausstellt. Dann kann ich berichten, dass du dich als zuverlässiger Schuldner herausgestellt hast, der bloß das Pech hatte, am Hafen einem Halunken in den Weg zu laufen und entführt worden zu sein.« Er fuhr sich durchs Haar und sein Blick heftete sich wie von selbst auf Sophie. Ihre Augen waren von Tränen gerötet und sie stand regelrecht verloren neben ihrem Bruder. »Vielleicht gibt er euch dann die Gelegenheit, zusammen in eure Zeit zurückzukehren.« Er ignorierte das stechende Gefühl der Verlorenheit, das diese Worte in ihm auslösten. »Wenn einer die Macht dazu hat, dann der Teufel von Paris.«
Elian presste verächtlich die Lippen aufeinander. »Wären wir ihm dann aber nicht noch mehr schuldig?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist keine Option. Es muss einen anderen Weg geben!« Elian ballte die Fäuste. »Ich bin so dicht an ihm dran! Wir brauchen nur noch etwas Zeit, dann finde ich ihn und …«
»Was hast du vor, wenn du ihn findest?«, wollte Valentin wissen. Ein Teil von ihm hielt Elians Idee für töricht und egoistisch. Er riskierte das Leben seiner Familie, ohne zu wissen, ob es überhaupt möglich war, diese Blutschuld zu löschen. Aber ein anderer Teil von ihm bewunderte Elian dafür, sich sein Leben zurückholen zu wollen. »Nehmen wir an, du hast Erfolg? Du findest den Teufel, tötest ihn, oder tust sonst was, um dich von dieser Schuld zu lösen. Was dann? Wie kommst du nach Hause? Wie kommt Sophie zurück? Hast du dir das überlegt?«
» Ich hatte nicht geplant, dass Sophie hier sein würde!«, gestand Elian frustriert. »Das ist natürlich etwas, das ich bedenken muss. Aber der Chronograph tickt – und in wenigen Stunden wird er Sophie nach Hause bringen. Dann muss ich zuschlagen!«
»Aber was ist mit dir?«, rief Sophie stirnrunzelnd. »Wie kommst du zurück?«
Elian schwieg, was sie scheinbar noch wütender machte.
»Er wird dir nicht helfen, nach Hause zu kommen, wenn du …«
»Das weiß ich doch!«, fuhr Elian seine Schwester an. »Denkst du, das wüsste ich nicht?« Er raufte sich die schulterlangen Haare und blickte zu Boden. »Dann bleibe ich eben hier.« Schwer atmend trat er an den Kamin und starrte in die Flammen. »Glaub mir, Sophie, ich hab jede Eventualität durchgespielt. Ich hab die ganze Zeit gedacht, dass etwas schiefgehen könnte. Etwas, das es mir unmöglich machen könnte, zu dir und Papa zurückzukehren.«
»Du hast das in Betracht gezogen?«, kreischte Sophie. Sie sah aus, als würde sie sich gleich auf Elian stürzen. »Spinnst du?«
Obwohl er es nicht vorgehabt hatte, ging Valentin zu Sophie hinüber. Er fasste nach ihrer Hand, um sie zu beruhigen.
»Sophie hat recht«, mischte er sich ein. »Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, in einer Zeit gefangen zu sein, die nicht die eigene ist. Man ist allein. Gehört zu niemandem.« Er schluckte, denn die Verzweiflung der letzten Jahre wollte ihn packen. »Allein zu sein, bringt einen um. Es tötet alles in dir, bis nur noch Kälte in dir herrscht. Wir sind nicht Teil dieser Zeit – und werden es niemals sein.« Die Erinnerung schnürte ihm die Kehle zu. »Es ist, als wüssten unser Herz und unsere Seele, dass wir Lügner in dieser Zeit sind. Dass das Leben, das wir hier fristen, eine einzige Lüge ist. Es ist ein Schmerz, den … den ich dir nicht beschreiben kann, Elian, der aber mit jedem Tag schlimmer wird.«
Ein drückendes Schweigen legte sich über den Salon, lediglich das Prasseln der Flammen im Kamin zeigte, dass die Zeit nicht genauso eingefroren war wie wir. Valentins Schmerz war greifbar und ich drückte ganz fest seine Hand, um ihm zu zeigen, wie ich mit ihm litt. Erst jetzt wurde mir klar, dass er wirklich keine andere Wahl hatte, als seinen Auftrag zu erfüllen. Und dass das kein gutes Ende für uns selbst bedeuten würde. Ich schaute ihn an und las in seinen Augen, wie leid ihm das tat.
»Wenn der Chronograph Sophie nach Hause gebracht hat, dann werde ich dem Teufel sagen, was du vorhast, Elian«, stellte Valentin klar.
»Bitte!«, flehte ich und umklammerte seinen Arm. »Valentin, bitte, tu das nicht!«
»Ich brauche bloß etwas mehr Zeit«, meinte Elian und ging unruhig vor dem Kamin auf und ab. Sein angestrengter Blick war auf Valentin geheftet. »Thibault sagt, dass morgen ein Schiff mit einer sehr kostbaren Ladung eintrifft.« Elian redete schnell und Valentin hörte aufmerksam zu. Er war so vertieft in Elians Erklärung, dass er nicht zu bemerken schien, dass er meinen Arm streichelte.
Ganz im Gegensatz zu meinem Bruder, der Valentin missbilligend ansah.
»Was für eine Ladung ist das?«, überging Valentin Elians zerknirschte Miene, während sich seine Finger mit meinen verwoben, fast als wollte er Elian herausfordern. Ich versuchte das Kribbeln nicht zu beachten, das seine zarte Berührung mir verursachte, aber es gelang mir nicht. Die Vorstellung, schon in wenigen Stunden für immer von Valentin getrennt zu werden, war der Horror. Trotzdem tickte der Chronograph an meinem Strumpfband unaufhaltsam weiter.
»Ich habe daheim die Tinte, mit der der Teufel das Pergament der Schuld beschreibt, in einem Labor untersuchen lassen«, setzte Elian an. »Ein Hauptbestandteil ist ein seltenes Gesteinsmehl. Und genau davon befindet sich eine Phiole auf dem Weg nach Paris.« Mein Bruder ballte die Fäuste. »Thibault wird mich informieren, sobald die Phiole am Hafen eintrifft. Dann liefere ich sie aus und finde den Teufel.«
Valentin schüttelte den Kopf. »Glaubst du, der Teufel von Paris lässt sich seine geheimnisvollen Zutaten direkt an die Haustür liefern? Ein Mann wie er sorgt sicherlich vor. Du übergibst die Phiole an irgendwen, der sie wiederum weitergibt, bis niemand mehr weiß, worum es eigentlich geht.« Valentin ließ meine Hand los und legte einige Holzscheite im Kamin nach. Dann griff er nach dem Schürhaken und stocherte in der Glut, bis die Flammen um das Holz züngelten. »Mein Hund hat eine gute Spürnase. Ich habe in den letzten Jahren mehrfach gedacht, ich hätte jemanden gefunden, der für den Teufel arbeitet, doch sobald ich versucht habe, mit Bruno der Fährte dieser Person zu folgen, bin ich in einer Sackgasse gelandet.« Valentin stellte den Schürhaken zurück und zuckte mit den Schultern. Dann fixierte er Elian. »Ich kann dir etwas Zeit verschaffen, indem ich dem Teufel noch nichts davon berichte, dass wir dich gefunden haben. Trotzdem bin ich überzeugt, dass du scheitern wirst.« Sein Blick durchbohrte Elian regelrecht. »Und ich lasse mich nicht von dir mit in den Untergang ziehen.«
Elian nickte. »Das klingt fair.« Er ging zu Valentin und schüttelte ihm die Hand. »Danke.«
» Oh mein Gott!«, japste ich erleichtert und hopste vor Freude auf der Stelle. »Dann finden wir vielleicht die Libelle, Valentin kann sie dem Teufel übergeben und damit unsere Treue beweisen und Elian hat eventuell die Möglichkeit, dem Kerl heimlich auf die Schliche zu kommen. Dann kriegt Valentin seinen Chronographen wieder und wir zerstören alle Schuldscheine, die wir finden!« Mein Herz hämmerte so schnell, als wäre ich gerannt. »Es gibt sicher einige mehr als nur unsere beiden, wenn keiner von euch mit der Giftaffäre zu tun hatte. Dann sind da noch …«
»Wir tun gar nichts, Sophie«, unterbrach Elian mich streng. »Du wirst nach Hause gehen. Jetzt. Du musst in Sicherheit sein, falls etwas schiefgehen sollte.«
»Das ist bescheuert, Elian!«, widersprach ich wütend. »Du weißt so gut wie ich, dass ich dort nicht sicher bin! Und ich könnte euch helfen. Ich muss nur noch einmal Aufschub beantragen. Der Teufel wird ihn mir gewähren, wenn ich ihm sage, dass ich seine Libelle gefunden habe und sie ihm übergeben will.«
»Schluss mit dem Quatsch!«, donnerte Elian, sodass ich vor Schreck zusammenzuckte. »Du hast dich hier lange genug herumgetrieben! Das ist kein Spiel, bei dem man …« Er warf Valentin einen vernichtenden Blick zu und sein markanter Kiefer zuckte. »… bei dem man sich ein bisschen amüsiert!« Er stürmte auf mich zu und stieß mich rückwärts in Valentins Richtung. Der fing mich auf, ebenso überrascht darüber wie ich, dass Elian meinen Rock hochhob und den Chronographen aus meiner Strumpfhalterung riss. Bruno knurrte warnend und nahm eine drohende Haltung ein. Doch Elian ließ sich nicht beeindrucken. Er drückte mir das tickende Uhrwerk gegen den Bauch und verschränkte entschlossen die Arme vor der Brust.
» Geh nach Hause, Sophie! Das hier ist nichts für Mädchen! Es ist gefährlich! Ich werde keine Zeit haben, mich um dich zu kümmern. Jede Sekunde, die du länger hier bist, ist eine verlorene Sekunde für mich! Ich muss den Teufel finden, also … verschwinde – und zwar jetzt!«