Wieder allein

Rue de la Finesse, 1688

Ohne Sophie war die Nacht kälter. Das Feuer im Kamin weniger wärmend. Die Sehnsucht in Valentins Brust machte ihn unruhig und er verfluchte den Teufel von Paris dafür, ihm all das anzutun.

Zornig fuhr Valentin sich durchs Haar, ehe er in sein Arbeitszimmer ging und das Pergament aus dem Schreibtisch nahm. Seine Lippen verzogen sich leicht, als er die Unordnung in seiner Schublade bemerkte. Elian hatte sich keine große Mühe gegeben, seinen Einbruch zu verheimlichen. Valentin griff das Pergament der Schuld und schloss die Schublade. Dann setzte er sich und rollte das Blatt auf. Es fühlte sich anders an, die dunklen Buchstaben zum Leben zu erwecken, jetzt wo er wusste, dass auch Sophies Bruder es gelesen hatte. Er war nicht länger allein mit dieser Schuld. Zum ersten Mal überhaupt kannte jemand sein Schicksal. Die Wahrheit über sein Leben. Valentin starrte mit leerem Blick auf die Tinte, die verblasste, sobald er sie nicht berührte. Doch auch wenn die Buchstaben verblassten, sein Auftrag löste sich nicht in Luft auf. Und er musste ihn erfüllen. Doch wie sollte er das? Jetzt, wo er die ganze Geschichte kannte.

Er strich mit der Fingerkuppe über seine Lippe, als könnte er den Kuss festhalten. Doch das konnte er nicht. Er würde Sophie nie festhalten können. Sie gehörte nicht in diese Zeit – und sie gehörte nicht zu ihm. Sie gehörte – genau wie er selbst – dem Teufel von Paris. Und daran würden auch die Gefühle nichts ändern, die sie in ihm weckte. Gefühle, die ihn davon abhalten wollten, seine Schuld zu begleichen.

Doch was immer er fühlte, für ihn galt es jetzt, sich seinen Chronographen zurückzuholen. Und dafür war es wichtig, dass Sophie ihm vertraute. Und so, wie sie sich geküsst hatten, tat sie das auch.

Nachdenklich wischte sich Valentin über die Lippen, denn der Kuss war vergangen und was blieb, war bittere Einsamkeit. Er griff nach dem Federkiel und öffnete das Tintenfass. Dann tauchte er die Feder in die schwarze Tinte und verfasste eine Nachricht an den Teufel von Paris.

Die Antwort kam prompt, und sie bestätigte, was er vermutet hatte. Sein Auftrag war nicht gänzlich erfüllt. Er rollte das Pergament der Schuld ein und verstaute es wieder sicher in seinem Schreibtisch. Seine Hände zitterten und er fragte sich, ob er nicht gerade den größten Fehler seines Lebens machte. Doch für Zweifel war es zu spät. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Jetzt musste er nur tun, was getan werden musste.

Valentin hatte sich den Hut tief in die Stirn gezogen und der Kragen seines Mantels war aufgestellt, um möglichst viel von seinem Gesicht zu verbergen. Er lauerte an der Hausecke und spähte hinüber zum Hafen. Doch nicht die Schiffe interessierten ihn, sondern einer der Männer, die die Ladung vom Deck des Frachtschiffs entgegennahmen, das am Kai der Seine angelegt hatte. Das halblange Haar des Mannes war im Nacken zusammengebunden und Elian Dubois trug einfache Kniebundhosen und ein abgewetztes Hemd wie die übrigen Hafenarbeiter. Er schleppte Kisten und Fässer von Deck, genau wie alle anderen. Und vermutlich fiel außer ihm selbst keinem auf, dass Elian in ständigem Blickkontakt zu Thibault stand, der an Deck des Schiffes die Ladelisten kontrollierte.

Valentin trat von einem Bein aufs andere. Er stand schon eine ganze Weile hier im Verborgenen, doch das Ausladen konnte noch etwas dauern. Das Schiff lag tief im Wasser, was auf einen gut gefüllten Frachtraum schließen ließ. Er seufzte. Geduld war nicht seine Stärke. Nicht jetzt, wo sein Ziel so nahe war. Er lehnte sich gegen die Hauswand, um es sich bequemer zu machen, als Thibault auf dem Deck einen Pfiff durch die Finger ausstieß. Einige Männer wandten die Köpfe in dessen Richtung, doch er winkte lediglich einen zu sich. Elian Dubois. Angespannt kniff Valentin die Augen zu schmalen Schlitzen, um besser sehen zu können, was vor sich ging. Elian ging über die Planke an Deck, stieg die Leiter zu Thibault hinauf und sie wechselten einige Worte. Kurz darauf überreichte ein anderer Decksmann Elian eine Kiste. Elian klemmte sich die Ware unter den Arm und nickte Thibault zu, der ihm einen Lieferschein auszuhändigen schien.

Valentin verließ sein Versteck, zog sich den Hut noch tiefer ins Gesicht und band die Zügel seines Pferdes los, während er Elian nicht aus den Augen ließ. Nachdem er aufgesessen hatte, folgte er Sophies Bruder in einigem Abstand, als der den Hafen verließ, in eine Mietdroschke stieg und aus der Stadt hinausfuhr.

»Teufel noch mal, was hat er vor?«, fluchte Valentin und runzelte die Stirn, sobald er erkannte, welche Richtung Elians Kutsche einschlug. »Was will er denn in Versailles?«

Wenig später hielt Valentin sein Pferd an, denn ein Stück weiter den Weg entlang standen zwei Torhäuschen links und rechts der Straße, um die Zufahrt zum Palast zu kontrollieren. Wer keine Einladung oder einen guten Grund hatte, das Gelände um das Schloss zu betreten, wurde abgewiesen.

Er beobachtete, wie die Torwärter die Droschke anhielten. Dann reichte Elian ihnen ein Schreiben, das ihm das Passieren zu erlauben schien, denn die Kutsche fuhr wieder an und folgte dem Weg weiter bis zum Palast.

Unsicher sah Valentin dem Gespann hinterher. Das ergab doch keinen Sinn – oder? Er wendete sein Pferd und ritt die Straße zurück, die er gekommen war. Dann lenkte er es am Zügel vom Weg ab und ein Stück ins Dickicht. Sobald er eine gute Sicht auf den Weg hatte, ließ er die Zügel locker und wartete auf die Rückkehr der Kutsche. Er hatte einige Fragen an Elian Dubois, auf die er bis heute Abend Antworten brauchte. Es war so weit. Er würde seinen Auftrag abschließen und dann endlich das Ticket für die Heimkehr in Händen halten.

Nichts ergab mehr einen Sinn. Seit Elian die Lieferadresse auf dem Paket am Hafen gelesen hatte, schwirrte ihm der Kopf. Er hatte nicht damit gerechnet, dass das Gesteinsmehl für die mystische Tinte des Teufels von Paris nach Versailles geliefert werden sollte. Was verband den Teufel von Paris mit dem Palast? Er stieg vor dem Dienstbotentrakt aus der Kutsche und klemmte sich das kostbare Paket unter den Arm. Dann sah er sich um. Niemand nahm von ihm Notiz. Niemand wirkte verdächtig.

Ein Pfiff durch die Finger ließ ihn aufhorchen. Er drehte sich nach dem Geräusch um und ein livrierter Bediensteter winkte ihn heran. »Kommst du vom Hafen?«, fragte er und deutete auf die Kiste unter Elians Arm.

» Oui.« Elian ging auf ihn zu. Er versuchte, sich jedes Detail des jungen Mannes mit dem Allerweltsgesicht einzuprägen. Blondes Haar, lebhafte Augen. Sehr viel mehr konnte man über dessen Äußeres kaum sagen. »Ich soll das hier abliefern.«

Der Angestellte nickte und streckte die Hände nach der Kiste aus. Dabei schnippte er Elian einen Sou als Trinkgeld zu. »Merci«, sagte er und tippte sich an die Stirn. »Und au revoir. «

Elian fing die glänzende Münze. Es fiel ihm schwer, die Kiste loszulassen. Er hatte gehofft, sie würde ihn zum Teufel von Paris führen. Doch dieser unscheinbare Diener war kaum der Mann, den er suchte. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass sein Kiefer knackte, aber das änderte nichts daran, dass die beste Spur, der er je gefolgt war und für die er ein Vermögen für Thibault ausgegeben hatte, im Sand verlief.

»Merde!«, fluchte er und hämmerte mit der Faust gegen die Droschke. Seine Niederlage anerkennend stieg er wieder ein. Er raufte sich die Haare, als sich das Gefährt in Bewegung setzte, und stützte dann den Kopf in die Hände. Das war eine Katastrophe! Aber wenigstens war Sophie in Sicherheit.