Von der Zeit gejagt

Maison de Dubois, 1688
– 17 Stunden verbleibend –

»Lucille!« Ich rannte mit dem Chronographen in der Hand die Treppe aus dem verbotenen Zimmer hinunter und rief nach der Zofe. Jetzt zählte jede Sekunde!

Meine Knie zitterten noch von der erneuten Reise durch die Zeit, und sobald ich die Augen schloss, sah ich die verblassende Tinte meines Auftrags vor mir. Mir wurde Aufschub gewährt. Ein letztes Mal. Doch diesmal blieben mir keine drei Tage. Der Teufel von Paris machte ernst und änderte die Regeln. Ich hatte Zeit bis Mitternacht, ihm die Goldene Libelle von Lyon auszuhändigen. Die Übergabe sollte auf dem seit Langem geplanten Lichterfest im Palast stattfinden. Also musste ich dorthin.

Ich rannte eine andere Zofe fast um, als ich um die Ecke schoss. »Huch! Entschuldigung! Ich suche Lucille!«, stieß ich hervor und starrte die junge Frau ungeduldig an. »Ich brauche ein Kleid für den heutigen Abend! Ich muss umwerfend aussehen!«

Das musste ich wirklich, denn je auffälliger mein Äußeres war, umso leichter würde ich kleine Regungen verbergen können, die bei jeder kleinen Lüge zwangsweise entstanden. Und ich hatte nicht vor, eine kleine Lüge aufzutischen.

»Lucille ist zum Markt. Sie geht immer ganz früh, um das frischeste Obst und das beste Fleisch zu bekommen«, erklärte das Mädchen bedauernd und knickste leicht. »Aber vielleicht kann ich Euch helfen, Mademoiselle Sophie?«

» Das hoffe ich«, stieß ich hervor und riss sie am Arm mit in mein Schlafzimmer. »Ich brauche ein Kleid und ich muss eine Nachricht an Monsieur Delacroix schicken! Ich benötige heute Abend einen Begleiter!«, wies ich sie hektisch an. Die Zeit lief und ich konnte nicht wählerisch sein. Trotzdem war es ärgerlich, dass Lucille gerade jetzt nicht hier war.

Valentin richtete sich im Sattel auf, denn das Geräusch von Kutschenrädern wurde lauter. Er spähte aus dem Dickicht hervor, und als er sicher war, dass es sich um die richtige Kutsche handelte, ließ er das Pferd zurück auf den Weg traben und verstellte dem Gespann den Weg.

»Ho!«, rief der Kutscher, um die Pferde anzuhalten, und schlug seinen ledernen Umhang zur Seite, unter dem er bewaffnet war. »Was soll das? Schaff den Gaul aus dem Weg!«

Valentin hob die Hände. Er zeigte, dass er keine böse Absicht hatte. »Ich muss mit deinem Fahrgast reden«, forderte er und nickte Elian zu, der ihn dank der offenen Droschke bereits bemerkt hatte.

»Was willst du hier?«, blaffte der ihn an. »Folgst du mir etwa?«

Valentin schmunzelte. »Ich begegne dir sicher nicht zufällig mitten im Wald vor den Toren von Versailles.«

Elian stieg aus der Droschke und bedeutete dem Kutscher, kurz zu warten. Anschließend kam er näher. »Wenn es also kein Zufall ist – was willst du dann? Ich habe einem Verräter nichts zu sagen! Oder geht es etwa um Sophie?« Der Ausdruck in Elians Augen wurde strenger. »Sie ist doch gegangen, oder? Ist etwas schiefgelaufen?«, wollte er mit Sorge im Blick wissen. »Sag schon!«

» Sophie geht es gut«, beschwichtigte Valentin ihren Bruder und stieg vom Pferd. Er ging Elian entgegen, nicht ohne zu bemerken, dass der nach der Waffe unter seiner Jacke griff. »Der Chronograph hat sie nach Hause gebracht, aber unser gemeinsamer Bekannter ist damit nicht zufrieden, wie du dir sicher denken kannst«, begann Valentin das Gespräch. »Weder mein noch Sophies Auftrag ist abgeschlossen.«

»Weil du mich noch nicht als Verräter überführt hast?«, maulte Elian ihn an, wobei die Fingerknöchel um den Dolchgriff weiß hervortraten.

»Stimmt«, gab Valentin unbeeindruckt zurück. »Aber auch, weil der Teufel von Paris noch immer die Libelle von Lyon in seinen Besitz bringen will.«

Elian schüttelte den Kopf und warf mit einem Schulterzucken ratlos die Arme in die Luft. Die harte Miene wich aus seinem Gesicht und er seufzte. »Wir haben die Libelle nicht«, stöhnte er und fuhr sich durchs Haar. »Und ich bin ebenfalls gescheitert. Meine Hoffnung, das Gesteinsmehl würde mich direkt zum Teufel von Paris führen, hat sich in Luft aufgelöst. Eine Sackgasse.« Er deutete den Weg zum Palast zurück. »Hunderte Menschen gehen dort jeden Tag ein und aus. Jeder von ihnen könnte an die Lieferung aus dem Hafen kommen. Jeder von ihnen könnte der Teufel sein.« Er sah Valentin verzweifelt an. »Ich stehe bei null, und wenn du mich verrätst, dann will ich nicht wissen, welche Konsequenzen das nach sich ziehen wird«, murmelte er niedergeschlagen. Er ließ den Kopf hängen. »Manchmal wünsche ich mir, Albert hätte nie in den Lauf der Geschichte eingegriffen und diese Blutschuld auf uns geladen.«

»Welchen Dienst hat der Teufel ihm erfüllt?«

Elian rieb sich übers Gesicht. »Estelle war schwanger. Sie war Gast auf einem Fest. Im Gedränge wurde sie vom König angerempelt und versehentlich die Treppe hinuntergestoßen«, berichtete Elian. »In der Nacht, als Bray geboren wurde, kam es zu Komplikationen. Etwas stimmte nicht mit dem Kind und Albert ging los, um seinen Sohn zu retten.« Elian sah auf, aber er wirkte gebrochen. »Es gelang ihm, den Sturz zu verhindern. Bray ist gesund – und wir alle stammen von seiner Blutlinie ab und haben damit die Schuld geerbt.«

Regungslos hatte Valentin zugehört. Eine Gänsehaut überzog seinen Körper und er erinnerte sich. Bilder blitzten vor seinem geistigen Auge auf. Bilder einer schwülen Nacht in einem überfüllten Haus. Der König von Frankreich war zu Gast – und mit ihm Dutzende andere. Selbst in seiner Erinnerung erschlug ihn die Fülle an farbenprächtigen Kleidern, das Wedeln der Fächer und das Gelächter all jener, die wichtig genug waren, dieser Soiree beizuwohnen. Er war vollkommen überfordert damit gewesen, sich durch die eng gedrängten Gäste zu arbeiten, um die eine Frau zu finden, deretwegen er hier war.

Valentin schloss die Augen, wobei er klar und deutlich die verblassende Tinte auf dem Pergament der Schuld vor sich sah, das er – ebenso, wie Elian Dubois – von seinem Vorfahren geerbt hatte.

Sorge dafür, dass niemand während der Soiree von Madame Noirot zu Schaden kommt. Ein Sturz an der Treppe muss verhindert werden.

Das war sein Auftrag gewesen. Eine der unzähligen Aufgaben, die er erfüllt hatte. Er hatte nicht gewusst, wen er da gerettet hatte. Dass die Schwangere die Comtesse Dubois gewesen war. Er hatte sie in seiner Aufregung nicht einmal richtig wahrgenommen. Und doch wäre ohne ihn Bray Dubois bei der Geburt gestorben. Ohne ihn würde es die Blutlinie, der Sophie und Elian entstammten, überhaupt nicht geben.

» Das hängt alles zusammen«, überlegte er laut und sein Blick glitt in Richtung der strahlenden Fassade des Schlosses von Versailles in der Ferne. »Der Teufel von Paris hat mich aufgefordert, heute Abend auf das Lichterfest zu kommen«, sagte er nachdenklich, ehe er Elian wieder ansah. »Ich denke, du solltest vielleicht ebenfalls kommen. Denn irgendwo dort drinnen« – er deutete zum Schloss – »laufen die Fäden offenbar zusammen.«

Elian nickte zögerlich. »Triffst du den Teufel dort?«

Valentin lachte. »Glaubst du, ich kenne dessen Pläne? Ich bekomme nur eine Nachricht auf dem Pergament der Schuld – genau wie du.«

»Dann sollst du mich heute an ihn verraten?«

Valentin sah Elian in die Augen. »Ich denke, das erwartet er von mir.«

»Und wirst du es machen? Er droht, meine Blutlinie auszulöschen, wenn ich einen Auftrag für ihn nicht erfülle. Was denkst du, wird er erst tun, wenn er erfährt, dass ich mich von meiner Schuld befreien will?« Elian stemmte die Hände auf die Oberschenkel und atmete gequält aus. Dann schaute er Valentin von unten herauf an. »Ich hatte das Gefühl, du magst meine Schwester. Wenn du mir nicht um meinetwillen helfen willst, dann vielleicht um Sophies willen?«

»Du hättest an deine Schwester denken sollen, als du diesen irrsinnigen Plan gefasst hast!«, gab Valentin verärgert zurück. Elian machte es sich leicht, jetzt ihm Verantwortung in die Schuhe zu schieben. »Es hätte dir klar sein müssen, dass das schiefgehen kann!«

»Du hast ja recht, ich bin ein Idiot. Denkst du, das ist mir nicht klar? Aber du ahnst ja auch nicht, wie das ist, die Frau, die du liebst, immer wieder verlassen zu müssen. Sie ständig anlügen zu müssen, um zu erklären, warum du gehst, ohne zu wissen, wann oder ob du zurückkehren wirst!« Elian versetzte einem Erdklumpen einen Tritt, der in Richtung der wartenden Kutsche flog und die Pferde scheu machte.

»Erwartest du ernsthaft Mitleid von mir? Du bist je Auftrag im schlimmsten Fall drei Tage von zu Hause weg.« Valentin deutete auf sich selbst. »Ich bin seit Jahren nicht zu Hause gewesen und will mir die Lügen gar nicht vorstellen, die meine Familie erfinden musste, um meine Abwesenheit zu erklären! Ich würde alles dafür geben, wenn ich statt Jahren nur Tage hier hätte verbringen müssen!«

Elian senkte betroffen den Kopf und ließ die Schultern nach vorne sinken. »Ich tue das alles nicht wegen der drei Tage, die ich von zu Hause weg muss. Sondern wegen der Wochen und Monate, in denen ich nicht hier bin«, murmelte er leise und rieb sich den Nacken. Er sah Valentin nicht an, als er weitersprach. »Ich nehme in Kauf, nicht zurückzukehren, wenn ich erst den Schuldschein vernichtet habe. Das Risiko bestand immer, dass dann der Chronograph womöglich nicht mehr funktionieren könnte. Aber ich … trage den Gedanken, uns vom Teufel zu befreien, schon seit meinem ersten Auftrag mit mir herum. Seit Vaters Verletzung war mir klar, dass diese Blutschuld enden muss. Seitdem verfolge ich insgeheim diesen Plan. Und seitdem ist mir auch klar, dass ich möglicherweise hier strande. In dieser Zeit. Ich habe lange gezögert. Dann … habe ich jemanden kennengelernt und plötzlich schien es mir nicht mehr so schlimm … hierbleiben zu müssen.« Er hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich. »Es bricht mir jedes Mal das Herz, wenn der Chronograph mich zurück in meine Welt reißt und ich nicht weiß, wann ich Lucille das nächste Mal wiedersehe.«

» Du liebst ein Mädchen aus dieser Zeit?« Valentin glaubte, sich verhört zu haben.

Elian nickte. »Lucille ist toll. Sie ist Zofe im Haus des Comte.« Er fuhr sich verlegen durchs Haar. »Ich würde am liebsten immer bei ihr sein.«

»Gott, Elian!«, stöhnte Valentin und schlug sich die Hand an die Stirn. »Ist das dein Ernst?«

»Mein voller Ernst. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich …«

Valentin stöhnte erneut. »Ihr Dubois’ macht es einem echt nicht leicht.«

»Was meinst du damit? Wirst du mich nicht verraten?« Hoffnung schwang in Elians Stimme mit.

Valentin musterte Elian. Dann trat er an sein Pferd und zog sich in den Sattel. »Mach dich schick und komm heute Abend in den Palast«, sagte er und straffte die Zügel. »Ich werde sehen, was ich für dich tun kann – aber ich werde nicht für dich lügen.«