LÖSE DICH VON DEINEN GEDANKEN
Sich von allen Gedanken zu lösen,
bedeutet eins zu werden mit dem Göttlichen – das ist der Weg.
AWA KENZO
S hawn Greens dritte Saison bei den Los Angeles Dodgers begann im Jahr 2002 mit dem absoluten Tiefpunkt seiner bisherigen Baseball-Karriere in der Major League. Die Sportjournalisten hatten ihn ebenso auf dem Kieker wie die Fans, die ihn ausbuhten, sobald er das Abschlagfeld betrat. Das Management der Dodgers hatte auch schon seine Zweifel: Der Mann verdiente 14 Millionen Dollar und traf keinen Ball mehr.
Würde er nach dieser immensen, wochenlangen Trefferflaute auf die Bank geschickt? Verkauft? In die zweite Mannschaft verbannt?
All das ging durch Greens Kopf, wie es jedem durch den Kopf gehen würde, der mit seinem Job zu kämpfen hat. Eine innere Stimme flüsterte ihm zu: Was ist los mit dir? Warum bekommst du es nicht mehr hin? Hast du es nicht mehr drauf?
Einen Baseball zu treffen, ist an sich schon eine unglaubliche Leistung. Es erfordert vom Schlagmann, dass er einen kleinen Ball, der mit mehr als 140 Kilometern pro Stunde aus einer Entfernung von knapp 20 Metern aus erhöhter Position auf ihn zugeflogen kommt, sieht, registriert, entscheidet, wann er Schwung zu holen hat, und ihn trifft. 400 Millisekunden. So lange braucht der Ball von der Abwurfstelle bis zum Schlagmann. In der Lage zu sein, auszuholen und zu treffen, steht buchstäblich im Widerspruch zu allen Regeln der Physik: Es ist das schwierigste Kunststück in allen Sportdisziplinen.
Wenn man sich dann noch in einer Krise befindet, machen die Ängste und Zweifel es einem noch schwieriger. Yogi Berras Warnung lautet: »Es ist unmöglich, gleichzeitig zu denken und zu treffen.«
Für Shawn Green muss der Ball immer kleiner und kleiner gewirkt haben, je länger er keinen Treffer mehr landete. Aber es war der Buddhismus, den er schon seit Langem praktizierte, auf den er sich stützte, um zu verhindern, dass dieser Teufelskreis seine Karriere zerstörte. Anstatt sich diesen aufwühlenden Gedanken hinzugeben und sich immer verbissener zu bemühen, versuchte er, sich von allen Gedanken vollkommen zu befreien. Statt die Krise zu bekämpfen, versuchte er, überhaupt nicht mehr darüber nachzudenken.
Es klingt verrückt, aber das ist es keineswegs. »Der Mensch ist ein denkendes Schilfrohr«, hat der Autor D. T. Suzuki einmal festgestellt, der als einer der Ersten den Buddhismus im Westen populär gemacht hat, »aber seine großen Werke entstehen dann, wenn er nicht rechnet und denkt. Eine gewisse ›Kindlichkeit‹ muss durch jahrelanges Training in der Kunst der Selbstvergessenheit wiedererlangt werden. Wenn dies erreicht ist, mag der Mensch zwar denken, doch er denkt nicht darüber nach«.
Der Weg aus der Krise bestand für Green nicht darin, Experten zurate zu ziehen oder sich eine neue Schwungtechnik anzueignen. Shawn Green wusste, dass er die destruktiven Gedanken abschütteln musste, denn die waren es, die ihn von vornherein von seinem Spiel abgebracht hatten: Das Nachdenken über seinen gut dotierten Vertrag, seine hohen Erwartungen an die Saison, sein Stress zu Hause und die Kritik in den Medien.
Er musste all diese Gedanken aus seinem Kopf vertreiben. Er musste sich ganz auf das Training konzentrieren.
Am 23. Mai 2002 gab sich Green große Mühe, genau das in die Tat umzusetzen. Es war das Entscheidungsspiel in einer Serie gegen die Brewers. Die Dodgers hatten am Abend zuvor einen 1:0-Sieg errungen, aber an dem Abend davor verloren. Greens eigene Trefferquote war unberechenbar und entmutigend. Als er also an diesem Morgen auf den Baseballplatz kam, arbeitete er daran, ganz von vorn zu beginnen. Zuerst im Schlagkäfig und dann am Abschlagfeld befreite er sich langsam, geduldig und in aller Stille von seinen Gedanken. Mit jedem Schwung seines Schlägers versuchte er, sich auf die automatischen Abläufe zu konzentrieren, auf die Stellung seiner Füße, sich dort zu verankern, wo seine Füße standen – nicht an die Vergangenheit zu denken, sich keine Sorgen darüber zu machen, was die Zukunft bringen würde, nicht an die Fans zu denken oder daran, wie er den Ball treffen wollte. Eigentlich dachte er überhaupt nicht. Stattdessen wiederholte er für sich ein altes Zen-Sprichwort: Chop wood, carry water. Chop wood, carry water. Chop wood, carry water – hacke Holz und trage Wasser.
Mach dir nicht zu viele Gedanken. Mach dich an die Arbeit.
Denk nicht nach. Schlag den Ball.
Als er an diesem Tag die Box betrat, kassierte Green gleich bei den ersten zwei Würfen des Pitchers zwei Strikes. Schon rumorte es in seinem Kopf: Geht das jetzt schon wieder los? Hört das denn nie auf? Warum bekomme ich das nicht hin? – er ließ diese Gedanken durch seinen Kopf wirbeln, bis sie sich gelegt hatten und atmete dann tief durch. Erneut versuchte er, sich von allen Gedanken zu lösen, bis sein Geist nahezu leer war – so leer wie die Ränge des Stadions während seines Aufwärmrituals vor dem Spiel.
Dann konzentrierte er sich auf seinen Job. Beim dritten Wurf – KLACK! Ein solider Double entlang der Linie des rechten Felds, der es im erlaubte, die Second Base zu erreichen.
Im zweiten Inning musste Green einen Inside Fastball annehmen. Er pflanzte seinen vorderen Fuß fest in den Boden und konzentrierte sich nur darauf, dort zu stehen wie festgenagelt. Er beobachte den Wurf und holte aus. Im nächsten Moment flog der Ball zurück in die entgegengesetzte Richtung, hoch über die Begrenzung des rechten Felds hinaus. Daraus resultierten drei Runs, also drei Punkte. Im vierten Inning erzielte er einen weiteren Homerun, wobei der Ball über das rechte Innenfeld hinaus bis in den Zuschauergang flog. Im fünften Inning schlug er einen Homerun weit ins linke Feld hinein. Das entgegengesetzte Feld ist ein Zeichen dafür, dass der Schlagmann richtig ins Spiel gefunden hat. Im achten Inning gelang ihm ein weiterer Single-Schlag, mit dem er die First Base erreichte.
Die Krise war überwunden.
Fünf Treffer bei fünf At-Bats, wie die Auftritte in der Box heißen. Der Coach wollte es eigentlich für diesen Tag gut sein lassen, aber Green wollte noch einmal antreten.
Nun rasten seine Gedanken in die andere Richtung, statt Zweifel kam ihm nunmehr nur Zuspruch in den Sinn. Du machst das großartig. Wie super ist das denn? Wirst du noch einen weiteren Treffer landen? Du könntest einen Rekord aufstellen!
Wenn man einen guten Lauf hat, rasen einem die Gedanken ebenso kontraproduktiv durch den Kopf wie bei einem Tief. In beiden Fällen sind sie einem im Weg.
In beiden Fällen erschwert es die Dinge.
Als Shawn Green nun zum sechsten und letzten Mal die Box betrat, befreite er sich wieder von allen Gedanken und gab sich ganz der reinen Spielfreude hin, wie ein Kind bei einem Little-League-Spiel.
Kein Druck. Nur der Augenblick. Die pure Freude am Hier und Jetzt.
Beim dritten Wurf musste er einen tief fliegenden Cutter annehmen, der sich immer tiefer und nach innen senkte, unterhalb der Höhe der Knie. Für Linkshänder wie Green ist diese Schlagzone, wenn sie ohnehin in einer Krise stecken, wie ein Schwarzes Loch. Wenn sie dann aber treffen, dann so richtig. Green traf den Ball optimal, und seine Schwungbewegung, so sagten seine Trainer, habe ausgesehen, als laufe sie in Zeitlupe ab. Seine ganze physische und geistige Kraft lag in diesem Schlag – und der Ball flog weit, ganz weit über die rechte Seite des Center Fields. Er hatte den Ball mit voller Wucht getroffen und dieser schlug ganz weit oben an die Innenwand des Stadions und sprang ins Feld zurück.
Während Greens Teamkollegen auf der Bank durchdrehten, trabte er mit gesenktem Kopf genauso ruhig und bedächtig von Base zu Base wie bei seinen drei vorherigen Homeruns. Da er gar nicht so euphorisch zu sein schien, konnte man es ihm nicht ansehen, aber tatsächlich war er in jenem Moment erst der vierzehnte Spieler in der Geschichte des Baseballs, dem jemals in einem einzelnen Spiel vier Homeruns gelungen waren. Sechs gelungene Performances hintereinander, neunzehn Mal eine Base erreicht und sieben Runs eingefahren: Dies war vielleicht die größte Einzelleistung eines Spielers im Baseball. Alle 26 728 Zuschauer erhoben sich für Standing Ovations – und das bei einem Auswärtsspiel. Aber Green hatte das bereits alles weggesteckt und widmete sich seinem Ritual: Er zog die Schlaghandschuhe aus und verscheuchte die Gedanken an seine Leistung aus seinem Kopf, um für das nächste Spiel ganz befreit sein zu können. 1
Shawn Green ist nicht der einzige buddhistische Baseballspieler. Sadaharu Oh, der beste Homerun-Schlagmann in der Geschichte des Baseballs, war es ebenfalls. Das Ziel des Zen, so hatte es ihm sein Meister beigebracht, sei es, »ein Gefühl der Leere zu erreichen […] eine geräuschlose, farblose und temperaturlose Leere« – sich in diesen Zustand der Leere zu versetzen, sei es auf dem Abwurfhügel, in der Box oder beim Training.
Bereits zuvor hatte der chinesische Philosoph Zhuang Zhou angemerkt: »Das Tao liegt in der Leere. Die Leere ist das Fasten des Geistes.« Marc Aurel schrieb einmal darüber: »sich aller Eindrücke zu entledigen, die im Kopf haften, sich von der Zukunft und der Vergangenheit zu befreien«, damit »dieser Bereich sich an seiner perfekten Stille erfreuen kann«. Wenn man diese Worte im ersten Abschnitt des Spielberichts über der Begegnung der Dodgers mit den Brewers am nächsten Tag in der Los Angeles Times gelesen hätte, wären sie absolut sinnvoll gewesen. Epiktet, Marc Aurels philosophischer Vorgänger, sprach in der Tat über Sport, als er sagte: »Wenn wir ängstlich oder nervös sind, wenn wir fangen oder werfen müssen, was wird aus dem Spiel und wie kann man die Gelassenheit bewahren? Wie kann man sehen, was als nächstes kommt?«
Was für die Leichtathletik gilt, gilt auch im Leben.
Ja, Denken ist wichtig. Fachwissen ist zweifellos für jede Führungspersönlichkeit, jeden Sportler oder Künstler der Schlüssel zum Erfolg. Das Problem ist, dass wir unbewusst zu viel nachdenken. Die »wilden und aufwühlenden Worte« unseres Unterbewusstseins geben den Takt an und plötzlich ist kein Raum mehr für unser Training (oder was auch immer). Wir sind überfrachtet, überfordert und abgelenkt – von unserem eigenen Verstand!
Aber wenn wir Raum schaffen können, wenn wir uns bewusst von unseren Gedanken befreien können, wie Green das tat, dann erlangen wir Erkenntnisse und Erfolgserlebnisse. Der perfekte Schwung trifft perfekt auf den Ball.
Diese Vorstellung von Leere birgt ein schönes Paradoxon. Das Tao te King hebt hervor, dass, wenn Ton um die Leere geformt wird, er zu einem Krug wird, der Wasser aufnehmen kann. Das Wasser aus dem Krug wird in eine Tasse gegossen, die sich ihrerseits um die Leere herum formt. Der Raum, in dem dies alles geschieht, besteht aus vier Wänden, die um die Leere herum geformt sind.
Verstehst du? Indem wir uns auf das verlassen, was nicht da ist, haben wir tatsächlich etwas, das es wert ist, genutzt zu werden. Während der Aufnahme ihres Albums Interiors brachte die Musikerin Rosanne Cash ein einfaches Schild über der Tür des Studios an: »Wer das Studio betritt, lasse seine Gedanken hinter sich.« Nicht, weil sie wollte, dass ein Haufen gedankenloser Idioten mit ihr arbeitet, sondern weil sie wollte, dass alle Beteiligten – auch sie selbst – tiefer gingen und sich nicht nur dem widmeten, was ihnen gerade durch den Kopf ging. Sie wollte, dass sich alle ganz dem Moment hingäben, sich auf die Musik einließen und nicht mental abgelenkt würden.
Stell dir vor, Kennedy wäre während der Kubakrise die Niederlage in der Schweinebucht überhaupt nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Stell dir vor, Shawn Green hätte verzweifelt versucht, seinen Schwung wieder hinzubekommen, oder er hätte sich mit dem Kopf voll rasender Gedanken den Pitchern stellen müssen – er wäre ganz verunsichert und verzweifelt gewesen. Wir alle haben diese Erfahrung schon gemacht. Wir sagen uns: Vermassle es nicht. Vermassle es nicht. Vergiss das ja nicht . Und was passiert? Wir tun genau das, was wir versucht haben zu vermeiden!
Was auch immer du vor dir hast, was auch immer du tust, wird in erster Linie erfordern, dass du dich nicht selbst runtermachst. Dass du es dir selbst nicht schwerer machst, weil du zu viel nachdenkst, grundlos an dir zweifelst oder dir selbst irgendetwas prophezeist.
Dein Kopf gehört ganz dir. Du musst nicht nur kontrollieren, was er aufnimmt, sondern auch kontrollieren, was darin vor sich geht. Du musst ihn vor dir selbst schützen, vor deinen eigenen Gedanken. Nicht mit roher Gewalt, sondern mit einer Art sanftem, anhaltendem Schwung. Sei der Bibliothekar, der jugendliche Störenfriede um Ruhe bittet oder den telefonierenden Ruhestörer auffordert, den Raum zu verlassen.
Denn der Geist ist ein wichtiger und heiliger Ort.
Halte ihn sauber und klar.