VERLANGSAME DICH, DENK NACH
Mit meinem sehenden Auge sehe ich,
was vor mir liegt und mit meinem
nicht sehenden Auge sehe ich, was verborgen ist.
ALICE
WALKER
E
s gibt eine sehr beliebte US-amerikanische Kinderfernsehshow namens Mister Rogers’ Neighborhood.
Sie beginnt immer damit, dass kurz bevor der TV-Moderator Fred Rogers selbst auf dem Bildschirm erscheint, wie er das fröhliche Lied über gute Nachbarschaft singt, eine gelb blinkende Verkehrsampel zu sehen ist.
Seit mehr als 30 Jahren und über 1000 Sendungen lang hat dieses subtile kleine Symbol die Fernsehsendung eröffnet. Natürlich nahm kaum einer der Zuschauer dieses Bild bewusst wahr, aber trotzdem kam die Botschaft beim Publikum an. Denn egal, ob Fred Rogers direkt in die Kamera sprach, mit der Handpuppe King Friday in der erfundenen Nachbarschaftswelt spielte oder eines seiner berühmten Lieder sang, jeder einzelne Bildausschnitt schien dieselbe Botschaft zu haben: Mach mal langsamer. Sei rücksichtsvoll. Sei aufmerksam.
Als Kind besuchte Fred Rogers die Latrobe Grundschule in Pennsylvania, wo er üblem Mobbing ausgesetzt war. Die Kinder hänselten ihn, weil er Gewichtsprobleme hatte und sich nicht wohlfühlte in seiner Haut. Diese Erfahrungen waren schrecklich für ihn, aber die Schmerzen, die er zu erleiden hatte, waren gleichsam der Antrieb für seine innovative Arbeit im öffentlichen Fernsehen. »So begann meine lebenslange Suche nach dem Wesentlichen«, berichtete er über seine Kindheit, »die Suche nach dem, was meine Nachbarn besonders macht und was man nicht direkt sehen kann.«
Er hatte sich sogar einen entsprechenden Aphorismus rahmen lassen, der in seinem Aufnahmestudio in Pittsburgh an der Wand hing und aus einem seiner Lieblingszitate stammte: »L’essentiel est invisible pour les yeux« – »Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar«.
Das heißt: Die äußerliche Erscheinung ist irreführend. Auch erste Eindrücke sind es. Wir werden von dem, was an der Oberfläche nach außen hin sichtbar ist, verwirrt und getäuscht. Daraufhin fällen wir schlechte Entscheidungen, verpassen Gelegenheiten, fühlen uns ängstlich oder missmutig. Das passiert vor allem, wenn wir nicht unser Tempo drosseln und uns die Zeit nehmen, genau hinzusehen.
Erinnere dich an Chruschtschow in Anbetracht der Kubakrise. Was war es, das ihn zu dieser übergriffigen Handlung getrieben hatte? Er hatte die Courage seines Gegenspielers unterschätzt und vorschnell gehandelt. Er hatte befürchtet, er könne auf der Bühne der Weltpolitik eine schlechte Figur machen. Das war eine Fehleinschätzung, die beinahe fatale Folgen gehabt hätte, wie es so oft bei hastig getroffenen Entscheidungen ist.
Epiktet sprach darüber, dass es die Aufgabe eines Philosophen sei, seine Eindrücke – alles, was man sieht, hört und denkt – einer genauen Prüfung zu unterziehen. Er sagte, es sei wichtig, dass man seine Gedanken aufnimmt und genau untersucht, um sicherzugehen, dass man sich nicht von Eindrücken in die Irre führen lässt oder dass man etwas übersieht, was man mit dem bloßen Auge nicht sehen kann.
Ganz ähnliche Analogien finden sich tatsächlich sowohl bei den Stoikern und Buddhisten als auch bei zahlreichen anderen Schulen: Die Welt ist wie trübes Wasser. Um sie durchblicken zu können, müssen die Dinge sich erst einmal setzen. Wir dürfen uns von ersten Eindrücken nicht beirren lassen, und wenn wir geduldig und ruhig warten, wird sich uns die Wahrheit offenbaren. Das ist es, was Mr Rogers versuchte, den Kindern beizubringen, und er wollte, dass sie es sich möglichst früh in ihrem Leben zur Gewohnheit machen. In zahlreichen Folgen griff Rogers ein bestimmtes Thema auf, sei es Selbstwertgefühle oder wie Buntstifte hergestellt werden, Scheidungen oder wie man Spaß hat, und dann erklärte er seinem
jungen Publikum Schritt für Schritt, was da gerade wirklich vor sich ging und was es bedeutete. Er schien ganz instinktiv zu wissen, wie Kinder Informationen aufnehmen und verarbeiten, und er half ihnen dabei, all das zu klären, was verständlicherweise verwirrend oder angsteinflößend war. Er brachte ihnen Empathie ebenso bei wie kritische Reflexion. Er bestärkte seine Zuschauer darin, dass sie sich so gut wie alles erschließen könnten, wenn sie sich die Zeit nähmen, sich eingehend damit zu beschäftigen – gemeinsam mit ihm.
Diese Botschaft richtete er auch an Erwachsene. »Denk doch mal nach«, schrieb Rogers einmal einem Freund, der in einer Krise steckte. »Geh ganz in dich und denk nach. Das wird einen großen Unterschied machen.«
Oberflächlich betrachtet, liegt hier ein Widerspruch vor. Einerseits sagen die Buddhisten, dass wir unseren Geist ganz leer machen müssen, um im Hier und Jetzt präsent sein zu können. Wir werden nie irgendetwas fertig bringen können, wenn wir von zu vielen Gedanken wie gelähmt sind. Andererseits müssen wir uns die Dinge anschauen und nachdenken und sie genau studieren, wenn wir jemals wirklich einer Sache auf den Grund gehen wollen, wenn wir wirklich wissen
wollen (und wenn wir jene zerstörerischen Verhaltensmuster vermeiden wollen, die so vielen Menschen schaden).
Tatsächlich aber ist das gar kein Widerspruch. So ist eben das Leben.
Wir müssen uns verbessern, wenn es darum geht, bewusst und zielgerichtet über die großen Fragen nachzudenken. Über die komplizierten Dinge. Wenn wir verstehen wollen, was wirklich in einem Menschen vor sich geht, was eine Situation oder sogar das Leben an sich wirklich bedeuten.
Wir müssen die Art von Denken anwenden, die von 99 Prozent der Menschen einfach nicht praktiziert wird, und wir müssen jene Art des destruktiven Denkens vermeiden, mit der 99 Prozent der Menschen ihre Zeit verbringen.
Bereits im 18. Jahrhundert war der Zen-Meister Hakuin äußerst kritisch jenen Lehrern gegenüber, die dachten, man könne die Erleuchtung einfach erreichen, indem man an nichts
dachte.
Stattdessen trieb er seine Schüler an, sehr, sehr angestrengt nachzudenken. Darum gab er ihnen verwirrende Kōane
– Denkaufgaben – wie etwa »Wie klingt es, wenn nur eine Hand klatscht?« oder »Wie sah dein Gesicht vor deiner Geburt aus?« oder »Hat ein Hund das Wesen des Buddha?«.
Diese Fragen lassen sich nicht so einfach beantworten, und genau darum geht es auch. Indem sie sich die Zeit nehmen, intensiv darüber zu meditieren, manchmal tage-, wochen- oder sogar jahrelang, gelangen die Schüler in einen solchen Zustand der geistigen Klarheit, dass tiefere Wahrheiten zutage treten und die Erleuchtung beginnt (und selbst wenn sie es nicht bis ganz dahin schaffen, sind sie hinterher stärker, eben weil sie es versucht haben).
»Ganz plötzlich«, versprach Hakuin seinen Schülern, »und ohne Vorankündigung werden eure Zähne sich festbeißen. Ihr werdet in kalten Schweiß gebadet sein. In dem Moment wird euch plötzlich alles klar sein.« Die Bezeichnung für diesen Zustand lautet Satori:
eine erleuchtende Erkenntnis, bei der sich das Unergründliche aufdeckt, wenn eine grundlegende Wahrheit offensichtlich und unausweichlich wird.
Könnten wir nicht alle etwas mehr davon gebrauchen?
Niemand erreicht Satori
, wenn er immer nur Vollgas gibt. Niemand erreicht es, wenn er sich nur auf das Offensichtliche konzentriert oder sich an dem erstbesten Gedanken festklammert, der ihm oder ihr in den Kopf kommt. Um zu sehen, was wirklich wichtig ist, muss man ganz genau hinsehen. Um es zu verstehen, muss man ganz genau nachdenken. Um das, was für fast jeden anderen Menschen unsichtbar ist, erfassen zu können, muss man hart arbeiten.
Das wird sich nicht nur auf deine Karriere und dein Geschäft positiv auswirken, es wird dir auch helfen, den inneren Frieden zu finden.
Eine weitere wichtige Erkenntnis von Fred Rogers kommt immer dann zum Tragen, wenn sich eine erschütternde Tragödie abspielt. »Halte immer nach Helfern Ausschau«, riet er dem Publikum, vor allem, wenn sie Angst hatten oder von den Nachrichten des Tags deprimiert waren. »Es findet sich immer jemand, der bereit ist zu
helfen […] Die Welt ist voller Ärzte und Krankenschwestern, Polizisten und Feuerwehrmännern, Freiwilligen, Nachbarn und Freunden, die bereit sind, dir zu Hilfe zu eilen, wenn die Dinge schieflaufen.«
Man darf das nicht falsch verstehen, hier ging es nicht etwa um eine oberflächliche Form der Beruhigung. Rogers baute auf den Ratschlägen auf, die seine Mutter ihm erteilt hatte, als er ein Kind war. Es war ihm gelungen, Trost und Güte in einer Begebenheit zu finden, die bei anderen Menschen vielleicht nur Schmerz, Wut und Angst ausgelöst hätten. Und er hatte einen Weg gefunden, auf eine solche Art und Weise darüber zu reden, dass es nach wie vor hilft, die Welt ein bisschen besser zu machen, auch noch lange nach seinem Tod.
Ein Großteil der Verzweiflung, die wir verspüren, rührt daher, dass wir instinktiv reagieren, anstatt mit bewusster Entscheidung zu handeln. Vieles von dem, was wir falsch verstehen, hat denselben Ursprung. Wir reagieren auf Schatten. Wir nehmen an, Eindrücke, die wir noch gar nicht überprüft haben, seien Fakten. Wir setzen gar nicht erst die Brille auf, um wirklich hinzuschauen
.
Nachdem du deinen Geist entleert hast, ist es deine Aufgabe, dich zu verlangsamen und richtig intensiv nachzudenken, und zwar regelmäßig:
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Denk darüber nach, was für dich wichtig ist.
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Denk darüber nach, was gerade wirklich vor sich geht.
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Denk darüber nach, was vielleicht im Verborgenen steckt.
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Denk darüber nach, wie das große Ganze aussieht.
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Denk darüber nach, worum es im Leben wirklich geht.
Die Choreografin Twyla Tharp hat uns dafür eine Übung vorgeschlagen:
Setz dich allein in einen Raum und lass deine Gedanken schweifen, wohin auch immer. Eine Minute lang. Wiederhole dies, bis du es zehn Minuten lang schaffst, deine Gedanken unkontrolliert herumwandern zu lassen. Fang dann an, auf deine Gedanken zu achten und beobachte, ob sich ein Wort
oder ein Ziel manifestiert. Wenn das nicht der Fall ist, weite die Übung noch aus, auf elf, zwölf oder dreizehn Minuten, bis du die Zeitspanne für dich erreicht hast, die du brauchst, um sichergehen zu können, dass dir etwas Interessantes einfallen wird. Im Gälischen wird dieser Zustand als »Stille ohne Einsamkeit« bezeichnet.
Wenn du die entsprechende Zeit und mentale Energie investierst, wirst du nicht nur etwas finden, das für dich interessant ist (oder dein nächstes kreatives Projekt), du wirst auch das Wahre finden. Du wirst finden, was andere Menschen übersehen haben. Du wirst Lösungen finden für die Probleme, denen wir uns stellen müssen – ob es darum geht zu verstehen, welche Gedanken die Sowjets dazu trieben, auf Kuba Raketen aufzustellen, oder ob es Ideen sind, wie du in deinem Beruf weiterkommst, oder wie du einen Sinn in sinnloser Gewalt erkennst.
Diese Antworten muss man aus der Tiefe fischen. Und worum geht es denn beim Fischen, wenn nicht darum, ganz still und ruhig zu werden, sich zu verlangsamen? Gleichzeitig entspannt zu sein und sich höchst aufmerksam auf die Umgebung zu konzentrieren? Und, letzten Endes, das zu packen, was unter der Oberfläche lauert, und es an Land zu ziehen?