Habe immer ein Notizbuch bei dir.
Reise damit, iss damit, schlafe damit.
Trage jeden noch so verwegenen Gedanken ein,
der in deinem Hirn aufflackert.
JACK
LONDON
A
n ihrem 13. Geburtstag bekam ein außergewöhnlich kluges deutsches Flüchtlingsmädchen mit dem Namen Anne Frank von ihren Eltern ein kleines, rot-weißes Poesiealbum geschenkt. Obwohl die Seiten dafür vorgesehen waren, dass ihre Freunde sich dort verewigen und Erinnerungen und Wünsche teilen sollten, wusste sie von dem Moment an, als sie es zum ersten Mal in einem Schaufenster sah, dass sie es als Tagebuch benutzen würde. In ihrem ersten Eintrag vom 12. Juni 1942 schrieb Anne: »Ich werde, ich hoffe, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.«
Niemand hätte ahnen können, wie viel Trost und Unterstützung sie tatsächlich brauchen würde. Nur 24 Tage nach diesem ersten Eintrag waren Anne und ihre jüdische Familie gezwungen, sich in dem engen kleinen Dachbodenanbau über dem Lagerhaus ihres Vaters in Amsterdam zu verstecken. Dort sollten sie die nächsten zwei Jahre verbringen, in der Hoffnung, dass die Nazis sie nicht entdecken würden.
Anne Frank wünschte sich aus nachvollziehbaren Gründen ein Tagebuch: Sie war ein Teenager. Sie wusste zwar schon vorher, wie es ist, sich einsam, verängstigt und gelangweilt zu fühlen, aber jetzt war sie auch noch mit sechs anderen Menschen eingezwängt in diesen erstickend kleinen Räumen. Es war alles überwältigend,
furchtbar ungerecht und ungewohnt. Sie brauchte einen Platz, an dem sie diese Gefühle festhalten konnte.
Annes Vater Otto berichtete, dass sie nicht jeden Tag in das Tagebuch schrieb, sondern immer dann, wenn sie unglücklich war oder sich mit einem Problem befassen musste. Sie schrieb auch, wenn sie verwirrt und wenn sie neugierig war. Sie schrieb Tagebuch, als sei es eine Art von Therapie, denn so brauchte sie ihre Sorgen und Nöte nicht ihrer Familie oder den Landsleuten, die das gleiche Schicksal teilten, aufdrängen. »Papier ist geduldiger als Menschen« – mit diesem Sprichwort brachte sie an einem besonders schwierigen Tag eine ihrer besten und tiefsinnigsten Erkenntnisse auf den Punkt.
Anne nutzte ihr Tagebuch, um zu reflektieren. »Wie edel und gut jeder Mensch sein könnte«, schrieb sie, »wenn er am Ende des Tages sein Verhalten beurteilen würde und das Richtige und Falsche bewerten würde. Er würde wie von selbst am Anfang jedes weiteren Tages versuchen, es besser zu machen und nach einer Weile würde er sicher eine Menge erreicht haben.« Anne merkte an, dass das Schreiben es ihr ermöglichte, sich selbst zu beobachten, als sei sie eine Fremde. In einer Zeit, wo die meisten Teenager – hormonell bedingt – sich eigentlich mehr mit sich selbst beschäftigen, las sie regelmäßig ihre Einträge erneut, revidierte, kritisierte sie und versuchte, ihre Gedanken zu optimieren. Selbst als der Tod schon draußen hinter der Tür lauerte, versuchte sie noch, einen besseren Menschen aus sich selbst zu machen.
Die Liste der Menschen, die sich der Kunst, ein Tagebuch zu führen, gewidmet haben – in der Antike ebenso wie in der Neuzeit –, ist unglaublich lang und faszinierend facettenreich. Unter anderen gehören dazu: Oscar Wilde, Susan Sontag, Marc Aurel, Königin Victoria, John Quincy Adams, Ralph Waldo Emerson, Virginia Woolf, Joan Didion, Shawn Green, Mary Chesnut, Brian Koppelman, Anaïs Nin, Franz Kafka, Martina Navratilova und Benjamin Franklin.
Sie alle führ(t)en Tagebuch.
Manche schrieben morgens ihre Einträge. Manche schrieben nur sporadisch etwas. Manche, wie etwa Leonardo da Vinci, hatten ihre Notizbücher stets griffbereit. John F. Kennedy führte auf seinen Reisen vor dem Zweiten Weltkrieg Tagebuch und später, als er
Präsident der USA war, machte er sich auf White-House-Briefpapier eher kurze Notizen oder fertigte Kritzeleien an (was Studien zufolge die Erinnerung verbessern soll) – so konnte er seine Gedanken klären und sie zugleich festhalten.
Diese Liste an Persönlichkeiten kann einen natürlich einschüchtern. Aber Anne Frank war lediglich 13, 14 und 15 Jahre alt. Wenn sie es konnte, welche Ausrede haben wir dann noch?
Seneca, der stoische Philosoph, scheint abends geschrieben und reflektiert zu haben, ganz ähnlich wie es auch bei Anne Frank der Fall war. Wenn es dunkel geworden war und seine Frau bereits zu Bett gegangen war, so erklärte er einem Freund, »überprüfe ich meinen ganzen Tag und gehe noch einmal alles durch, was ich getan und gesagt habe. Ich verberge nichts vor mir selbst und übergehe nichts.« Danach ging er selbst zu Bett und stellte fest, dass »der Schlaf, der auf diese Selbstprüfung folgt«, besonders angenehm sei. Jeder, der heutzutage Seneca liest, kann spüren, wie er bei diesen abendlichen Schreibtätigkeiten nach der inneren Ruhe suchte.
Michel Foucault sprach einmal von dem antiken Genre der Hypomnemata
(das über sich selbst Schreiben). Er bezeichnete das Tagebuch als »Waffe für den spirituellen Kampf«, als ein Mittel, die Philosophie zu praktizieren, den Geist von allen Aufregungen und Dummheiten zu befreien und jegliche Schwierigkeiten zu überwinden. Als etwas, das die bellenden Hunde im Kopf verstummen lassen würde. Als etwas, womit man sich für den nächsten Tag vorbereiten konnte. Als etwas, mit dem man den vergangenen Tag Revue passieren lassen konnte. Um Erkenntnisse, die man gehört hatte, aufzuschreiben. Um sich die Zeit zu nehmen und zu spüren, wie die Weisheit durch die Finger und auf die Seite floss.
So sehen die besten Tagebücher aus. Sie sind nicht für irgendeinen Leser bestimmt. Sie dienen dem Schreibenden
. Um seine Gedanken zu verlangsamen. Um seinen inneren Frieden zu finden.
Tagebuch zu führen bedeutet, sich schwierige Fragen zu stellen: Wo stehe ich mir selbst im Weg? Welchen kleinen Schritt kann ich heute unternehmen, der mich zu einem großen Ziel führen wird?
Warum mache ich mir so viele Sorgen darüber? Wofür kann ich in diesem Augenblick dankbar sein? Warum ist es mir so wichtig, andere Menschen zu beeindrucken? Welche schwierige Entscheidung versuche ich zu vermeiden? Habe ich meine Ängste unter Kontrolle, oder kontrollieren sie mich? Was werden die heutigen Schwierigkeiten über meinen Charakter aussagen?
2
Es gibt zwar jede Menge Menschen, die einem bereitwillig schwören, wie wohltuend es ist, Tagebuch zu führen, aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind auch faszinierend. Einer Studie zufolge hilft es, wenn man nach traumatisierenden oder stressigen Erlebnissen Tagebuch führt. Eine Studie der University of Arizona kam zu einem ähnlichen Ergebnis: Sie bewies, dass es Menschen besser gelingt, eine Scheidung zu verarbeiten und sich auf ihr neues Leben zu konzentrieren, wenn sie ihre Erlebnisse in einem Tagebuch festhielten. Auch viele Psychologen empfehlen ihren Klienten, Tagebuch zu führen, denn es hilft ihnen, sich nicht zu viele Sorgen zu machen und sie können die vielen verschiedenen Eindrücke – seien es emotionale, externe oder psychologische –, die auf sie einprasseln und die sie sonst möglicherweise überfordern würden, sinnvoll anordnen.
Darum geht es im Kern. Anstatt all diese Last mit sich im Kopf oder im Herzen herumzuschleppen, legen wir es auf Papier nieder. Anstatt dass die Gedanken unkontrolliert in unserem Hirn herumrasen oder wir halbgare Schlüsse ziehen, die wir nicht genug durchdacht haben, zwingen wir uns, sie aufzuschreiben und zu untersuchen. Indem man seine eigenen Gedanken zu Papier bringt, kann man sie aus einer gewissen Distanz betrachten. So erlangt man jene Objektivität, die uns so oft fehlt, wenn Ängste, Befürchtungen und Frust in unseren Gedanken vorherrschen.
Wie fängt man am besten ein Tagebuch an? Gibt es einen idealen Zeitpunkt am Tag zum Schreiben? Wie viel Zeit muss man dafür ansetzen?
Wen kümmert’s?
Wie
du Tagebuch führst, ist viel unwichtiger, als warum
du es tust: um Ballast abzuladen. Um dich deinen Gedanken widmen zu können, sie zu ordnen und zur Ruhe zu kommen. Um das, was
schädlich ist, von dem zu trennen, was erkenntnisreich ist.
Es gibt hier kein richtig oder falsch. Du musst es bloß tun
.
Wenn du schon einmal angefangen hast, Tagebuch zu führen, und es abgebrochen hast, fang wieder an. Es kommt vor, dass man aus dem Rhythmus kommt. Der Trick ist, dir heute noch
Platz dafür zu verschaffen. Der französische Maler Eugène Delacroix, der den Stoizismus als seine trostspendende Religion bezeichnete, hatte ebenso zu kämpfen wie wir: »Nach langer Pause nehme ich wieder mein Tagebuch zur Hand. Ich hoffe, es kann mir helfen, dass sich diese nervöse Unruhe legt, die mir nun schon so lange Sorgen bereitet.«
Genau!
Das ist es, worum es geht, wenn man Tagebuch führt. Es ist, wie die Schriftstellerin Julia Cameron es einmal nannte, wie ein »spiritueller Scheibenwischer«. Es sind ein paar Minuten der Reflexion, die von uns Ruhe erfordern und die wiederum Ruhe schaffen. Es ist eine Pause von der Welt. Ein Rahmen für den kommenden Tag. Eine Bewältigungsstrategie für die Probleme der soeben vergangenen Stunden. Ein Kickstart für die kreativen Säfte in dir, ein Mittel, um zu entspannen und alles zu klären.
Einmal, zweimal, dreimal am Tag – es ist egal. Finde heraus, was für dich passt.
Du solltest allerdings wissen, dass es möglicherweise das Wichtigste sein könnte, was du an diesem Tag überhaupt tust.