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m Rückblick war es einer der schönsten Momente im Golfsport, wenn nicht sogar der ganzen Sportwelt. Während der U.S. Open im Juni 2008 gelang Tiger Woods auf dem nördlich von San Diego gelegenen Golfplatz Torrey Pines ein Birdie, mit dem er ein 18-Loch-Playoff erzwang. Schon früh führte er bei diesem Entscheidungsspiel mit drei Schlägen Vorsprung, die er zwar verspielte, jedoch holte er noch einmal auf und zwang den 46-jährigen Rocco Mediate durch ein weiteres Birdie zu einem finalen Kopf-an-Kopf-Rennen, einer Sudden-Death-Runde. Auf dieser 488 Yard langen Par-4-Bahn spielte Tiger Woods schließlich ein weiteres Mal ein Birdie und gewann damit zum dritten Mal die U.S. Open und seinen insgesamt 14. Titel bei einem Major-Turnier – die zweitmeisten Siege bei einem Major in der Geschichte des Golfsports.
Und Woods war vor allem der erste Mensch und wahrscheinlich der letzte Golfer, der so ein hochdramatisches Match mit einem vorderen Kreuzbandriss und einem an zwei Stellen gebrochenen Bein gewinnen konnte. Es einen Triumph des Durchhaltevermögens und der Entschlossenheit zu nennen, würde Woods Leistung nicht gerecht, denn er trat mit solch einer Gelassenheit auf, dass niemand, der ihn beobachtete, sich des Ausmaßes seiner Verletzungen bewusst sein konnte.
Woods selbst wusste nur von den Frakturen, nicht von dem Umstand, dass sein Kniegelenk im Grunde schon längst hinüber war. Doch irgendwie, mit fast unmenschlicher geistiger und körperlicher Disziplin, überwand er jede Grenze, die ihm das komplexe und zermürbende Golfspiel zu setzen versucht hatte, und verzog dabei kaum einmal eine Miene.
Wir können diesen Augenblick sicherlich als Gipfelpunkt in der Karriere von Tiger Woods bezeichnen. Er nahm sich eine sechs
Monate lange Auszeit, um sich von der dringend notwendigen Knieoperation zu erholen. Doch nicht lange danach wurde er mit seiner Geliebten, Rachel Uchitel, in seinem Hotel in Australien entdeckt, und plötzlich waren die geheimen Dinge seines Privatlebens alles andere als geheim.
Als seine Frau ihn mit den Vorwürfen konfrontierte, versuchte Tiger, sich aus der Geschichte herauszuwinden, aber die Lügen funktionierten nicht mehr. Wenige Minuten später lag Tiger bewusstlos in der Einfahrt des Nachbarn – er war mit seinem SUV gegen einen Hydranten gefahren und die Heckscheibe war von einem Golfschläger durchbohrt worden. Seine Frau beugte sich weinend über ihren bewusstlosen Mann, der für einen Moment so still
war wie vielleicht nicht mehr, seit er ein Baby war.
Die Stille währte nicht lange.
Die Boulevardpresse stürzte sich auf den Fall wie auf ein gefundenes Fressen – allein die New York Post
widmete ihm nacheinander einundzwanzig Titelseiten. Textnachrichten wurden veröffentlicht. Affären mit Pornostars und Kellnerinnen von Perkins, einer Diner- und Bäckereikette, wilder Sex auf Kirchparkplätzen, Sex sogar mit der 21-jährigen Tochter von Freunden der Familie – all das wurde publik gemacht. Der Aufenthalt in einer Klinik zur Sexualtherapie, der Verlust von Sponsoren und eine 100 Millionen Dollar schwere Scheidung hätten ihn schließlich fast fertiggemacht, was wohl jedem anderen auch so gegangen wäre.
Er sollte ein Jahrzehnt lang kein einziges Major mehr gewinnen.
»Auf der Oberfläche des Meeres herrscht Stille«, sagte einmal der Mönch Thích Nhất Hạnh über die conditio humana
, die menschliche Verfassung, »aber darunter herrschen Strömungen.« So verhielt es sich bei Tiger Woods. Dieser Mann, der zu einer Ikone geworden war wegen seiner Fähigkeit, in größten Stressmomenten ruhig und konzentriert zu bleiben, ein Mann mit einer Körperbeherrschung, die es ihm ermöglichte, seine über 200 Kilometer pro Stunde schnelle Schwungbewegung abrupt zu unterbrechen, wenn er noch einmal ausholen wollte, ein Champion der »ruhigsten« aller Sportarten, war den unersättlichen Turbulenzen ausgeliefert, die unter seinem friedfertigen Verhalten lauerten. Und wie dir jeder
erfahrene Kapitän sagen kann, der die Stürme des Lebens durchschifft hat, spielt es keine Rolle, was auf der Wasseroberfläche passiert – es ist das, was unten vor sich geht, das dich umbringen wird.
Tiger Woods beherrschte seine Kontrahenten ebenso, wie den unvorstellbaren Druck, und er bewältigte im Verlauf seiner Karriere unzählige Hindernisse. Seine Dämonen bekam er jedoch nicht in den Griff.
Die Saat von Tigers Verhängnis wurde früh gesät. Sein Vater, Earl, war ein schwieriger Mensch. Earl Woods war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und hatte die schlimmsten Seiten des US-amerikanischen Rassismus und der Rassentrennung selbst miterlebt. Er schlug sich durchs College, trat der Armee bei und ging als Green Beret nach Vietnam. Unter der Oberfläche dieser Leistung gab es ebenfalls Turbulenzen – geprägt von Narzissmus, Egomanie, Unehrlichkeit und Habgier. Ein einfaches Beispiel: Earl Woods kehrte von seinem zweiten Einsatz in Vietnam mit einer neuen Frau zurück … eine Tatsache, die er gegenüber der ersten Frau und den drei Kindern, die er bereits hatte, unerwähnt ließ.
Als Tiger aus dieser zweiten Ehe hervorging, war Earl Woods dreiundvierzig Jahre alt und nicht besonders begeistert davon, wieder Vater zu werden. Während des ersten Lebensjahrs von Tiger bestand Earls Vaterschaft vor allem darin, dass er das Baby auf einem Kinderstuhl festschnallte und in seiner Garage Golfschläge übte. In der Tat entwickelte Tiger seine fast unnatürliche Besessenheit von dem Spiel, während er seinem Vater zusah, wie dieser Golf spielte – anstatt wie ein normales Kind selbst spielen zu können. Der Familienlegende nach kletterte Tiger schon im Alter von neun Monaten von seinem Sitz, nahm sich einen Schläger und schlug einen Golfball.
Es ist eine Geschichte, die zugleich anrührend und völlig verstörend ist: Im Alter von zwei Jahren trat Tiger Woods in der Mike Douglas Show
auf, um seine Golfkünste vorzuführen. Das Publikum war begeistert, aber Jimmy Stewart, der andere Gast an diesem Tag, war nicht so angetan. »Ich habe zu viele Wunderkinder wie diesen süßen kleinen Jungen gesehen«, sagte er Douglas hinter
der Bühne, »und zu viele vom Erfolg geblendete Eltern.«
Doch zweifellos war es das Engagement seiner Eltern, das es Tiger Woods ermöglichte, ein großartiger Golfspieler zu werden. Die unzähligen Stunden, die er seinen Vater in der Garage beobachtet hatte, brannten die wunderbare Technik des Schwungholens in sein Gedächtnis. Tausende weiterer Stunden, die sie auf der Driving Range und mit dem Golfspielen verbrachten – zum Teil dank der günstigen Raten, die Earl Woods auf dem Militärgolfplatz ganz in ihrer Nähe bekam –, waren nicht minder förderlich. Seine Eltern opferten sich für ihn auf, fuhren ihn zu Turnieren und engagierten die besten Trainer.
Damit war es noch nicht getan. Earl Woods wusste, dass Golf ein mentales Spiel ist, also arbeitete er daran, seinen Sohn auf die gnadenlose Welt dieses Sports vorzubereiten. Schon als Tiger etwa sieben Jahre alt war, ergriff Earl die notwendigen Maßnahmen, um die Konzentration seines Sohns zu fördern. Jedes Mal, wenn Tiger abschlug, hustete Earl. Oder ließ einen Klingelton in seiner Tasche ertönen. Oder ließ seine Schläger fallen. Oder warf mit einem Ball nach ihm. Oder versperrte ihm die Sicht. »Ich wollte ihm mentale Stärke beibringen«, erinnerte sich Earl. »Wenn er von den kleinen Dingen abgelenkt würde, die ich tat, wäre er nie in der Lage, dem Druck eines Turniers standzuhalten.«
Aber als Tiger älter wurde, entwickelte sich das Training, wie Earl selbst zugab, zu einer zunehmend brutalen Kaderschmiede. Es war ein Boot Camp mit »Verhörmethoden für Kriegsgefangene« und »psychologischer Einschüchterung«, die kein Mensch einem anderen zumuten sollte. »Er machte mich ständig runter«, erzählte Tiger später. »Er brachte mich an den Rand der Verzweiflung, dann ließ er von mir ab. Es war verrückt.«
Fürwahr. Verrückt.
Das ist es wohl, wenn ein kleines Kind zuhören muss, wie sein Vater ihn verspottet, während es versucht, einen Sport auszuüben, es als »Arschloch« bezeichnet, während es versucht, sich zu konzentrieren. Stell dir vor, wie verletzend es für dich wäre, wenn dein Vater dir sagen würde, du sollst dich »verpissen« oder fragen würde: »Wie fühlst du dich als kleiner Nigger?«, um dich zu
provozieren. Earl Woods schummelte sogar, wenn sie gegeneinander spielten, angeblich, um seinen Sohn bescheiden und auf sein Spiel konzentriert zu halten. Das war, wie Tiger im Nachhinein sagte, eine bewusste Ausbildung, um ihn zu dem zu machen, was sein Vater wollte: »Ein kaltblütiger Spieler mit einem Killerinstinkt«.
Tiger, der seinen Vater eindeutig liebte, räumte ein, dass sie ein Codewort hatten, das er verwenden konnte, wenn sein Vater jemals zu weit gehen würde – sei es in ihrem mentalen Training oder im körperlichen – und dass alles, was Tiger tun musste, darin bestand, es zu sagen und Earl hätte sofort aufgehört. Tiger sagt, dass er es nie angewandt habe, weil er das Training brauchte und genoss, aber selbst das Wort an sich ist schon vielsagend. Es ist kein netter Insider-Witz oder irgendein albernes Wort, das keine Bedeutung hat. Das Wort, das Tiger aussprechen konnte, um seinen Vater dazu zu bringen, ihn nicht mehr zu schikanieren, sondern wie ein normales Kind zu behandeln, war, kaum zu glauben: genug
.
Und es wurde nicht nur nie ausgesprochen, sondern die beiden bezeichneten es auch fast als ein Schimpfwort: das »G-Wort«.
Das G-Wort war etwas, was Versager benutzten, an das nur Verlierer glaubten.
Überrascht es uns dann, dass dieser talentierte Junge in der Folge so viele Siege erzielen konnte? Dass diese Erfolge ihn aber nicht glücklich gemacht haben? Er war auf dem Golfplatz unerschütterlich, aber innerlich völlig unglücklich.
Auch Tigers Mutter erteilte ihm eine Lektion. Sie sagte ihm: »Du wirst nie meinen Ruf als Mutter ruinieren, weil ich dich sonst verprügeln werde.« Man achte auf die Androhung physischer Gewalt und worum es hier ging – nicht, dass er etwas falsch
macht, sondern dass er sie möglicherweise blamiert
. Auch als Ehemann zeigte Earl Woods seinem Sohn Tiger, wie man sich auf einem schmalen Grat bewegt. Er betrog seine Frau, wenn er mit seinem Sohn auf Reisen war. Außerdem trank er bis zum Exzess. Er nahm sogar, wahrscheinlich unter Verletzung der Regeln des Amateursports, ein geheimes, 50 000 Dollar pro Jahr umfassendes Stipendium von IMG an, der Sportagentur, die später Tiger Woods vertreten sollte.
Was kann man daraus lernen? Das äußere Erscheinungsbild ist
alles, was zählt. Tu alles, was nötig ist, um zu gewinnen – lass dich nur nicht erwischen!
Ein weniger talentierter und hingebungsvoller Spieler wäre an den Übergriffen zerbrochen. Aber Tiger Woods war nicht nur ein Naturtalent, sondern er liebte den Golfsport wahrhaftig und gab sich ihm ganz hin. So wurde er immer besser.
Als er drei Jahre alt war, besiegte er Zehnjährige. Mit elf Jahren konnte er seinen Vater regelmäßig auf 18-Loch-Bahnen schlagen. In der siebten Klasse wurde er von Stanford angeworben. In Stanford, wo er zwei Jahre verbrachte, spielte er die All American, die Juniorenturniere, und avancierte zum besten Juniorenspieler des Lands. Als er mit zwanzig Jahren Profi wurde, war es bereits offensichtlich, dass er der größte Golfer aller Zeiten werden könnte – vielleicht auch der reichste. Seine ersten Verträge mit Nike und Titleist beliefen sich auf insgesamt 60 Millionen US-Dollar.
Tiger Woods’ erste anderthalb Jahrzehnte als Profi gelten als die wahrscheinlich dominanteste Vorherrschaft aller Zeiten, und womöglich aller Sportarten. Er gewann alles, was man nur gewinnen konnte: vierzehn Major-Titel und insgesamt 140 Turniersiege. Er war 281 Wochen hintereinander
die Nummer 1 unter den weltbesten Golfern. Seine Siegprämien auf der PGA-Tour beliefen sich auf 115 Millionen US-Dollar. Er gewann auf jedem Kontinent außer der Antarktis.
Wer genauer hinschaute, konnte jedoch schon Anzeichen einer Krankheit erkennen: die weggeworfenen Schläger nach einem schlechten Schlag sowie die mangelnde Sorge um seine Fans, die er damit gelegentlich in Gefahr brachte. Die Art und Weise, wie er sich von seiner langjährigen Highschool-Freundin getrennt hatte, indem er ihren Koffer gepackt und mit einem Brief versehen an das Hotelzimmer ihrer Eltern geschickt hatte. Die Art und Weise, wie er auf Steve Scott reagierte, der ihn bei einem legendären und ganz engen Match davor bewahrt hatte, einen Anfängerfehler zu machen – weder bedankte er sich dafür noch erkannte er die unglaubliche sportliche Fairness dahinter an, stattdessen tat er es wie eine Schwäche des unterlegenen Opfers ab. Die Art und Weise, wie er sein College-Golfteam verlassen hatte, um Profi zu werden – ohne sich
überhaupt von seinen Teammates zu verabschieden. Die Art und Weise, wie er nach dem Essen mit Familie oder Freunden einfach aufstand und ging, ohne ein Wort zu sagen. Die Art und Weise, wie er Menschen einfach aus seinem Leben ausschließen konnte.
Woods’ Trainer Hank Haney sagte einmal, dass Tiger im Laufe der Zeit die Auffassung vertrat, dass »jeder, der seine Welt betrat, sich glücklich schätzen konnte und nach seinen Regeln zu spielen hatte«. Ruhm und Reichtum taten ihr Übriges. »Ich war der Meinung, dass ich mein ganzes Leben lang hart gearbeitet hatte und es verdient hatte, all die Versuchungen um mich herum zu genießen«, sagte Tiger später. »Ich spürte, dass ich das Recht dazu hatte. Dank Geld und Ruhm musste ich nicht lange nach den Verlockungen suchen.«
Wir können uns vorstellen, dass es Tiger Woods so erging wie vielen erfolgreichen Menschen: Je mehr er erreichte, desto unglücklicher wurde er. Weniger Freiheit, immer weniger Schlaf, bis nur noch Medikamente halfen. Selbst mit einer schönen, intelligenten Frau, die er liebte, selbst mit zwei Kindern, die er nicht minder liebte, selbst als unbestrittener Champion seiner Zunft war er unglücklich, gequält von einem seelischen Leiden und einer erdrückenden Angst, vor der es kein Entrinnen gab.
Sein Geist war stark, aber seine Seele litt. Sie litt an der tragischen Beziehung zu seinem Vater. Sie litt an einer Kindheit, die er nie gehabt hatte. Sie litt, weil sie schmerzte
. Warum bin ich nicht glücklich,
muss er gedacht haben, habe ich nicht alles erreicht, was ich mir jemals gewünscht habe?
Es ist nicht nur einfach so, dass Tiger es liebte zu gewinnen, sondern für lange Zeit war das Gewinnen an sich nicht annähernd genug – es würde nie genug sein können (das G
-Wort). So erzählte er dem Fernsehmoderator Charlie Rose: »Zu gewinnen hat Spaß gemacht, aber jemanden zu schlagen, ist noch besser.« Tiger sagte dies nach
seiner öffentlichen Demütigung, nach seinem mehrjährigen Absturz, nach seinem Aufenthalt in der Sexualtherapie. Er hatte noch immer nichts dazugelernt. Er konnte immer noch nicht erkennen, was diese Einstellung ihn gekostet hatte.
Everybody’s got a hungry heart
– jeder Mensch sehnt sich nach
Anerkennung und Liebe; entscheidend ist, wie wir diese Sehnsucht stillen. Das bestimmt, welche Art von Mensch wir letztendlich werden, welche Probleme wir bekommen und ob wir jemals Erfüllung,
innere Ruhe und Gelassenheit finden werden.
Als Tiger Woods’ Vater im Jahr 2006 starb, liefen Tigers außereheliche Affären vollständig aus dem Ruder. Er ging in Clubs und auf Partys, anstatt Zeit mit seiner Familie zu Hause zu verbringen. Sein Verhalten auf dem Golfplatz wurde immer schlimmer, er wurde noch distanzierter und jähzorniger. Er fing auch an, ungewöhnlich viel Zeit bei den Navy SEALS zu verbringen und schwelgte in der unrealistischen Vorstellung, dass er das Golfspiel beenden und den Spezialeinheiten beitreten könnte, obwohl er bereits Anfang 30 war (und noch dazu einer der berühmtesten Menschen der Welt). Es wurde berichtet, dass Tiger Woods an einem einzigen Wochenende im Jahr 2007 zehn Fallschirmsprünge absolvierte. Tatsächlich sind die Verletzungen, die ihn bis heute plagen, wahrscheinlich das Ergebnis dieses Trainings und nicht des Golfspielens – einschließlich eines Unfalls, bei dem sein Knie bei einer Militärübung, bei der ein Gebäude »geräumt« wurde, ausgekugelt wurde.
Da stand er nun: Anstatt seinen Reichtum, seinen Erfolg und seine Familie zu genießen, betrog er seine Frau und mimte in einer Art frühen Midlifecrisis den Soldaten. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, kommentierte ein Freund von Earl und Tiger dieses Verhalten. Wie viele von uns ahmte Tiger unbewusst die schmerzlichsten und schlimmsten Gewohnheiten seiner Eltern nach.
Einige Menschen betrachten diese erfolglosen Jahre nach Tigers Rückkehr auf den Golfplatz als Beweis dafür, dass der Egoismus seines früheren Lebens seinem Spiel geholfen habe. Oder dass die Arbeit, die er in der Therapie geleistet hatte, irgendwie Wunden geöffnet habe, die besser unangetastet geblieben wären. Dabei ist Tiger Woods doch ein menschliches Wesen
, das es verdient hat, glücklich zu sein, und nicht nur existiert, um Trophäen zu gewinnen und uns im Fernsehen zu unterhalten. »Was hülfe es dem Menschen«, sagte Jesus einmal zu seinen Jüngern, »wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?«
Diese Frage müssen wir uns selbst stellen. Betrug und Lügen haben auf Dauer niemandem geholfen, sei es bei der Arbeit oder zu Hause. In Tigers Fall war es so, dass er wegen seines außergewöhnlichen Talents damit durchkommen konnte … bis es eben nicht mehr ging.
Irgendwann muss man sich das G-Wort sagen: genug
. Wenn du es nicht tust, sagt die Welt es für dich.
In gewisser Hinsicht hatte das Training seines Vaters Früchte getragen. Tiger Woods war mental abgehärtet. Er war kaltblütig und begabt. Aber in jedem anderen Bereich seines Lebens war er schwach und zerbrechlich – moralisch bankrott und unausgeglichen. Seine Ruhe und Gelassenheit existierten nur auf dem Golfplatz; überall sonst war er seinen Leidenschaften und Trieben ausgeliefert. So wie er versuchte, Ablenkungen zu verdrängen – alles, was seiner Konzentration schadete, wenn er zum Golfschlag antrat –, verdrängte er auch viele andere wesentliche Bestandteile des Lebens: ein offenes Herz, sinnvolle Beziehungen, Selbstlosigkeit, Mäßigung sowie ein Gefühl für richtig und falsch.
Das sind nicht nur wichtige Aspekte eines ausgeglichenen Lebens, sondern auch Quellen der inneren Ruhe, die es uns ermöglichen, Niederlagen zu ertragen und Siege zu genießen. Wenn unsere Herzen brennen oder unsere Seelen sich leer und sinnlos anfühlen, wird diese mentale Ruhe nur von kurzer Dauer sein. Wenn wir blind für das sind, was in uns vor sich geht, werden wir nicht fähig sein, die wichtigen Dinge auf dieser Welt zu erkennen. Wir können weder mit Menschen noch mit den Dingen in Harmonie leben, wenn das Bedürfnis nach mehr, mehr, mehr in uns nagt wie eine Made.
»Wenn man ein Leben führt, in dem man die ganze Zeit lügt, macht das Leben keinen Spaß«, stellte Tiger später einmal fest. Wenn dein Leben aus dem Gleichgewicht geraten ist, macht es keinen Spaß. Wenn es in deinem Leben ausschließlich um dich selbst geht, ist es sogar noch schlimmer als »kein Spaß« – es ist sinnentleert und schrecklich. Tiger Woods war nicht nur ein einsamer Mann, er war, wie so viele von uns in der heutigen Zeit, eine
Insel
. Er mochte berühmt sein, aber er war sich selbst fremd. Niemand, der über seine endlosen Affären liest, hat das Gefühl, dass er es genossen hat oder
dass sie ihm viel Freude bereitet haben. Tatsächlich gewinnt man fast den Eindruck, als ob er erwischt werden wollte. Damit er Hilfe bekommen konnte.
Wir sollten Tiger Woods nicht verurteilen. Wir sollten von ihm lernen, sowohl von seinem Absturz als auch von seiner langen und mutigen Reise zurück zum Gewinn des Masters 2019 im Alter von dreiundvierzig Jahren, mit einer Wirbelsäulenversteifung, begleitet von seinem kleinen Sohn, der ihn anfeuerte. Weil wir ebenso die gleichen Fehler und die gleichen Schwächen haben – und das gleiche Potenzial zu wahrer Größe, wenn wir bereit sind, den entsprechenden Einsatz zu zeigen.
Marc Aurel fragte sich selbst: »Was mache ich mit meiner Seele? Befrage dich selbst, um herauszufinden, was deinen sogenannten Verstand beherrscht und welche Art von Seele du jetzt hast. Die Seele eines Kindes? Die eines Jugendlichen? […] Die Seele eines Tyrannen? Die Seele eines Raubtieres – oder seiner Beute?«
Auch diese Fragen müssen wir uns stellen, vor allem, wenn wir erfolgreich sind.
Eine der besten Geschichten in der Zen-Literatur besteht aus einer Abfolge von zehn Gedichten über einen Bauern und seine Probleme mit einem Stier. Die Gedichte sind eine Allegorie über die Eroberung des Selbst, und die Titel jedes einzelnen Gedichts beschreiben die Reise, die jeder von uns zu gehen hat: Wir suchen nach dem Stier, wir verfolgen die Hufspuren, wir finden ihn, wir fangen ihn, wir zähmen ihn, wir treiben ihn nach Hause.
Zuerst ist das Tier unzähmbar, es ist wild und unmöglich zu kontrollieren. Aber die Botschaft ist, dass wir mit Mühe und Ausdauer, mit Selbsterkenntnis und Geduld – und in der Tat mit Erleuchtung
– schließlich die Emotionen und die Triebe in uns zähmen können. In einem dieser Gedichte heißt es entsprechend:
Durch eine gute Schulung wird er wie von selbst sanftmütig. Dann wird er seinem Meister gehorchen, auch wenn er nicht angebunden ist.
Der Erzähler befindet sich in einem Zustand der Gelassenheit und des Friedens. Er hat seinen wilden Charakter gezähmt.
Das ist es, was wir zu erreichen suchen. Seit der Antike sind die Menschen bestrebt, die Kräfte, die sich tief in ihnen befinden, zu trainieren und zu kontrollieren, damit sie Ruhe finden, damit sie ihre Errungenschaften bewahren und schützen können. Was nützt es, bei der Arbeit vernünftig zu sein, wenn unser Privatleben eine einzige Serie von Katastrophen ist? Wie lange können wir die beiden Bereiche überhaupt voneinander trennen? Man mag Herrscher sein über Städte oder ein großes Imperium, aber wenn man sich nicht unter Kontrolle hat, ist alles vergebens.
Die Arbeit, die wir als Nächstes leisten müssen, ist weniger kopflastig, sondern etwas spiritueller. Es ist Arbeit, die im Herzen
und in der Seele
stattfindet, nicht im Geist. Weil es unsere Seele ist, die der Schlüssel zu unserem Glück (oder unserem Unglück), unserer Zufriedenheit (oder Unzufriedenheit), zu Mäßigung (oder Maßlosigkeit), zu Ruhe (oder Unruhe) ist.
Deshalb müssen diejenigen, die Stille suchen, anstreben,
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einen strengen moralischen Kompass zu entwickeln.
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Neid, Eifersucht und schädliche Wünsche zu vermeiden.
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mit den schmerzhaften Wunden ihrer Kindheit klarzukommen.
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Dankbarkeit und Anerkennung für die Welt um sich herum zum Ausdruck zu bringen.
-
Beziehungen und Liebe in ihrem Leben zu kultivieren.
-
Glauben und Kontrolle in die Hände von etwas Größerem als sich selbst zu legen.
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zu verstehen, dass es nie »genug« geben wird und dass das unkontrollierte Streben nach mehr nur mit einer Bankrotterklärung enden kann. Unsere Seele ist der Ort, an dem wir unser Glück und Unglück, unsere Zufriedenheit oder Leere sicherstellen – und letztlich das Ausmaß unserer Größe bestimmen. Wir müssen unsere Seele gut pflegen.