Die Essenz wahrer Größe liegt in der Erkenntnis, dass wir nur Tugend brauchen.
RALPH
WALDO
EMERSON
M
arc Aurel ist dafür bekannt, dass er für sich selbst diverse Attribute oder sogenannte »Beinamen« auswählte, wie etwa »aufrichtig«, »bescheiden«, »geradeheraus«, »vernünftig«, »kooperativ«. Dies waren damals die Merkmale, die ihm als Kaiser dienlich waren. Man könnte den eben genannten noch viele weitere Bezeichnungen hinzufügen: Ehrlich. Geduldig. Fürsorglich. Gütig. Mutig. Ruhig. Standhaft. Großzügig. Versöhnlich. Gerecht.
Es gibt allerdings einen Begriff, unter dem sich alle diese Bezeichnungen zusammenfassen lassen: Tugendhaftigkeit.
Die Stoiker hielten Tugend für das höchste Gut – das summum bonum
– und mahnten, dass es das Prinzip hinter all unseren Handlungen sein sollte. Tugend ist nicht gleichbedeutend mit Heiligkeit – es ist eher eine moralische und bürgerliche Leistung des alltäglichen Lebens. Es bedeutet, ein Gespür zu haben für das, was fraglos richtig ist; es erwächst aus unseren Seelen und wird durch die Handlungen, die wir vornehmen, realisiert.
Der Osten legte ebenso viel Wert auf die Tugend wie der Westen. Das Tao te King
bedeutet zum Beispiel wörtlich übersetzt Weg der Tugend
. Konfuzius, der seinerzeit viele Machthaber und Fürsten beriet, hätte Marc Aurels Meinung, dass ein Anführer wohl beraten sei, wenn er sich von der Tugend leiten lasse, voll zugestimmt. Sein höchstes Lob hätte darin bestanden, einen Herrscher als junzi
zu bezeichnen – für dieses Wort gibt es tatsächlich keine adäquate Übersetzung, aber es bedeutet so viel wie eine Person, die Integrität,
Ehre und Selbstbeherrschung ausstrahlt.
Wenn dir das Konzept von »Tugend« etwas altbacken vorkommt, bedenke, wie viele Beweise es dafür gibt, dass ein tugendhaftes Leben eines ist, dass sich um seiner selbst willen
lohnt. Niemandem mangelt es so sehr an Gelassenheit als demjenigen, der nicht zwischen richtig und falsch unterscheiden kann. Niemand ist erschöpfter als derjenige, der sich in Ermangelung eines Moralkodex jede Entscheidung hart erkämpfen muss und jeder Versuchung als mögliches Opfer gilt. Niemand hat weniger Selbstwertgefühl als der Betrüger oder der Lügner, selbst wenn – oder gerade wenn – er für sein Lügen und Betrügen mit Belohnungen überhäuft wird. Das Leben hat
keinen Sinn für denjenigen, der findet, dass seine Entscheidungen bedeutungslos sind.
Wie aber steht es mit demjenigen, der genau weiß, was ihm oder ihr wichtig ist? Der einen starken Sinn dafür hat, was sich gehört, der prinzipientreu ist und sich entsprechend verhält? Dem es nicht schwerfällt, sich moralisch zu verhalten, der sich getrost auf seine eigene Güte verlassen kann, Tag für Tag? Diese Person hat innere Ruhe gefunden. Eine Art seelische Stärke, aus der sie sich nähren kann, wenn sie Herausforderungen, Stress oder sogar angsteinflößenden Situationen ausgesetzt ist.
Da gab es zum Beispiel die Reaktion des kanadischen Politikers Jagmeet Singh, der während einer Wahlkampfveranstaltung von einer wütenden Demonstrantin angegriffen wurde. Als die aufgebrachte Frau auf ihn zukam und anfing, ihn und den Islam zu beschimpfen (und das, obwohl er ein gläubiger Sikh ist), antwortete er mit zwei Attributen für sich selbst: »Liebe und Mut«. Bald fingen die ganzen Menschen an, sein Mantra aufzugreifen und verfielen in einen Sprechgesang: »Liebe und Mut. Liebe und Mut. Liebe und Mut.«
Er hätte auf die verbalen Angriffe der Frau mit einer Retourkutsche antworten können. Er hätte einfach gehen können. Er hätte verbittert und aggressiv werden können – nur in dem Augenblick oder auch allgemein für den Rest seines Lebens. Es hätte gut sein können, dass irgendeine dieser Reaktionen ihm verlockend erschienen wäre. Doch stattdessen blieb er gefasst, und diese zwei
Worte halfen ihm, sich wieder zu zentrieren, und das, obwohl dieser Augenblick nicht nur ein entscheidender Punkt in seiner politischen Karriere war, sondern es sich für ihn sicherlich auch wie eine lebensbedrohende Situation angefühlt hat.
Natürlich müssen wir in unterschiedlichen Momenten auf unterschiedliche Tugenden zurückgreifen und brauchen andere Losungen für uns selbst. Wenn es darum geht, eine schwierige Aufgabe zu meistern, können wir immer wieder diese Worte vor uns hinsprechen: »Bleib stark und mutig.« Wenn wir uns auf ein heikles Gespräch mit einem wichtigen Gesprächspartner vorbereiten, greifen wir auf diese Worte zurück: »Bleib geduldig und gütig.« Wenn wir Korruption und Bösem begegnen: »Sei gütig und ehrlich.«
Der freie Wille ist ein Geschenk, das zur Folge hat, dass wir in unserem Leben die Wahl haben, gut oder böse sein zu wollen. Wir haben die Wahl, an welchen Standards wir uns orientieren wollen und was für uns als wichtig, ehrbar und bewundernswert gelten soll. Welche Entscheidungen wir in Bezug auf diese Fragen fällen, hat einen direkten Einfluss darauf, ob wir inneren Frieden finden oder nicht.
Deswegen muss jeder Einzelne von uns sich hinsetzen und sich einer Selbstanalyse unterziehen. Wofür stehen wir? Was ist unserer Meinung nach grundlegend und wichtig? Wofür leben
wir wirklich? Tief im Mark unserer Knochen, in den Kammern unserer Herzen, wissen wir die Antwort schon. Das Problem ist, dass die tägliche Betriebsamkeit, der Berufsalltag und das Überleben-Müssen in dieser Welt zwischen uns und der Selbsterkenntnis stehen.
Konfuzius beschrieb die Tugend als eine Art Polarstern. Sie dient nicht nur dem Steuermann zur Orientierung, sondern sie erregt auch das Interesse der Mitreisenden. Epikur, der unfairerweise von der Nachwelt als Hedonist abgestempelt wurde, wusste, dass die Tugend den Weg aufweist zu Gelassenheit und Glück. Tatsächlich war er der Meinung, dass Tugend und Freude zwei Seiten der gleichen Münze seien. Er beschrieb das so:
Aus ihr [der guten Einsicht] entspringen alle übrigen Tugenden, und sie lehrt, dass es nicht möglich ist, lustvoll zu leben, ohne verständig, schön und gerecht zu leben, noch
auch verständig, schön und gut, ohne lustvoll zu leben. Denn die Tugenden sind von Natur verbunden mit dem lustvollen Leben, und das lustvolle Leben ist von ihnen untrennbar.
Wo Tugend ist, da sind auch Glück und Schönheit.
Konfuzius schrieb: »Der Ehrenmann ist selbstbeherrscht und entspannt, doch der unbedeutende Mann ist ständig voller Sorgen«. Es lohnt sich auch, bei Seneca nachzulesen, einem weiteren stoischen Philosophen, der, ebenso wie Marc Aurel, als Politiker tätig war. Seneca war voller Widersprüche – genau wie wir. Einerseits enthalten seine Schriften mit die schönsten Gedanken über Moral und Selbstdisziplin, die jemals zu Papier gebracht wurden, und es ist offensichtlich, dass sie das Ergebnis unglaublicher Konzentration und mentaler Klarheit sind. Doch andererseits war Seneca auch ein Streber – er war ein sehr ehrgeiziger Autor und Politiker, dem es ebenso wichtig war, für seine Prosaschriften in Erinnerung zu bleiben, wie für seine politischen Taten.
Auf der Höhe seiner Karriere finden wir ihn als Mittelsmann des Kaisers Nero. Nero hatte zwar sehr vielversprechend angefangen, als er noch der Schüler Senecas war, aber er machte seinem Lehrer das Leben nicht leicht. Er war geistig verwirrt, selbstbezogen, leicht abzulenken, paranoid und kaltherzig. Stell dir vor: Du verbringst deine Nächte damit, darüber zu schreiben, wie wichtig es ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen, wie wichtig Besonnenheit und Weisheit sind, aber tagsüber musst du deinem übermächtigen Chef helfen, sich zu rechtfertigen, warum er versucht hat, seine eigene Mutter zu ermorden. Seneca wusste, dass es besser wäre, diese Position zu beenden, es ist auch wahrscheinlich, dass er sich das wünschte, aber er tat es nicht.
Was ist Tugend? fragte Seneca. Seine Antwort: »Ein ehrliches und unerschütterliches Urteil.« Und aus der Tugend heraus folgen gute Entscheidungen, Glück und Frieden. Sie strahlt aus der Seele ab und leitet Verstand und Körper.
Doch wenn wir Senecas Leben betrachten, haben wir fast das Gefühl, dass er die Art von Mann war, dem sein Ehrgeiz nicht viel Frieden erlaubte, sondern der stattdessen seine Entscheidungsprozesse verzerrte. Seneca schrieb wortreich und
elegant über die Bedeutungslosigkeit von Reichtum, doch gleichzeitig kam er durch höchst fragwürdige Kanäle zu überwältigendem Reichtum. Er war ein Verfechter von Gnade, Güte und Mitleid, doch er diente folgsam zwei verschiedenen Kaisern, die wir heute wohl beide als Psychopathen klassifizieren würden. Es kommt einem so vor, als habe er seiner eigenen Philosophie nicht genug geglaubt, um sie auch wirklich voll und ganz umzusetzen – er konnte es nicht ganz glauben, dass die Tugend ihm wirklich genug bieten würde, um davon zu leben.
Geld, Macht und Ruhm – das alles erschien ihm noch etwas dringlicher.
Seneca kannte den Pfad der Tugend, aber er jagte stattdessen den Verlockungen hinterher, die ihn von jenem Pfad abbrachten. Diese Entscheidung kostete ihn viele schlaflose Nächte und führte bei ihm zu zahlreichen ethischen Konflikten. Am Ende bezahlte er dafür mit seinem Leben. Im Jahre 65 nach Christus wandte Nero sich gegen seinen ehemaligen Lehrer und zwang ihn, Selbstmord zu begehen – das Böse, das Seneca so lange versucht hatte zu rationalisieren, kostete ihn letzten Endes alles.
Es steht völlig außer Frage, dass man im Leben erfolgreich sein kann, indem man lügt, betrügt und sich einfach anderen Menschen gegenüber schrecklich verhält. Vielleicht kommt man so auch sehr schnell an die Spitze. Doch man zahlt dafür nicht nur mit dem Verlust seines Selbstrespekts, sondern auch mit der eigenen Sicherheit.
So verrückt das klingen mag: Die Tugendhaftigkeit ist dagegen ein viel einfacherer und nachhaltigerer Weg zum Erfolg.
Wie kann das sein? Anerkennung hängt von anderen Menschen ab. Um reich zu werden, braucht man die wirtschaftlichen Gelegenheiten. Das Wetter kann einem auf der Reise zum Ziel ebenso im Weg stehen wie ein Diktator. Aber Tugend? Niemand kann dich davon abbringen zu wissen, was richtig ist. Nichts steht zwischen dir und der Tugend – außer du selbst.
Jeder von uns muss sich einen moralischen Kodex erarbeiten, einen höheren Standard, der für uns fast wichtiger sein sollte als das Leben an sich. Jeder von uns muss sich hinsetzen und in sich gehen:
Was ist mir wichtig? Für was würde ich lieber sterben, als es zu verraten? Wie werde ich leben – und warum?
Das sind keine müßigen Fragen oder banales Geplänkel eines Persönlichkeitstests. Wir brauchen diese Antworten, wenn wir die innere Ruhe (und die Stärke) finden wollen, die von der Zitadelle unserer eigenen Tugend ausgehen.
In den schwierigen Momenten im Leben – jenen Wegkreuzungen wie der, als Seneca sich entscheiden musste, in Neros Dienste zu treten – können wir uns auf die Tugend berufen. Heraklit sagte, Charakter sei eine Frage des Schicksals. Er hat recht. Wir wollen einen guten Charakter entwickeln, uns selbst starke Beinamen geben, damit wir, wenn es darauf ankommt, nicht zurückschrecken.
Damit wir, wenn alle anderen Angst haben oder der Versuchung verfallen, stark und tugendhaft bleiben können.
Wir werden ruhig und gelassen bleiben.