HEILE DAS KIND IN DIR
Das Kind ruht noch immer in mir […] und manchmal gar nicht so ruhig.
FRED ROGERS
L eonardo da Vinci hatte schon immer etwas Kindliches an sich. Tatsächlich ist das der Grund, warum er so ein brillanter Künstler sein konnte: seine Verschmitztheit, seine Neugier, sein starkes Interesse für das Erfinden und Erschaffen. Doch hinter dieser Verspieltheit steckte eine tiefe Traurigkeit, ein Schmerz, der in frühkindlichen Erfahrungen wurzelte.
Leonardo wurde 1452 als unehelicher Sohn eines wohlhabenden Notars geboren. Obwohl sein Vater ihn, den Bastard, nach einiger Zeit einlud, in seinem Haushalt zu leben und ihm auch half, seine erste Lehrstelle als Künstler zu finden, blieb stets eine gewisse Distanz zwischen Leonardo und seinem Vater bestehen.
Damals war es üblich, dass der älteste Sohn eines bekannten Kaufmanns, wie Leonardos Vater es war, den gleichen Beruf wie sein Vater annahm und irgendwann dessen Stellung übernahm. Obwohl die Zunft der Notare technisch gesehen uneheliche Söhne nicht als rechtmäßige Nachfolger anerkannte, ist es doch überraschend, dass Leonardos Vater augenscheinlich noch nicht einmal versuchte, bei dem örtlichen Amtmann vorstellig zu werden und einen Antrag zu stellen, der seinen Sohn legitimieren würde.
Leonardos Vater bekam noch zwölf weitere Kinder, davon neun Söhne. Als er starb, hinterließ er kein Testament, was für einen Notar, der sich mit den Gesetzen auskannte, nur eines bedeuten konnte: Er schloss Leonardo offiziell aus der Erbengemeinde aus, zugunsten seiner »richtigen« Kinder. Wie Walter Isaacson später in einer Biografie von Leonardo bemerkte, führte die Tatsache, dass Piero da Vinci seinen Sohn Leonardo ausschloss und ihn niemals vollständig anerkannte, in erster Linie dazu, dass »sein Sohn den unstillbaren Drang nach einem Mäzen entwickelte, der ihn bedingungslos unterstützte«.
Tatsächlich findet man in Leonardos gesamtem künstlerischen Leben ein nahezu kindliches Streben nach Liebe und Anerkennung seitens der mächtigen Männer, für die er arbeitete. Seinem ersten Mentor, Andrea del Verrocchio, diente er mehr als elf Jahre lang mit großer Hingabe, bis Leonardo 25 war – eine unglaublich lange Zeit für ein dermaßen außergewöhnliches Talent (Michelangelo dagegen machte sich schon mit 16 selbstständig). Was konnte ein liebenswertes Wesen wie Leonardo bloß an Cesare Borgia gebunden haben, diesen mörderischen Psychopathen? Borgia war der einzige Mäzen, der sich bereitwillig Leonardos militärische Erfindungen ansah und sich mit ihnen auseinandersetzte – sie waren ein Langzeitprojekt, dem Leonardo sich mit großer Leidenschaft widmete. Im Laufe seiner Karriere reiste Leonardo viel und weit – von Mailand nach Frankreich und schließlich zum Vatikan, immer auf der Suche nach der finanziellen Unterstützung und der künstlerischen Freiheit, von der er hoffte, sie würden ihn erfüllen.
Fast ein halbes Duzend mal entwurzelte er sich und seine Werkstatt und zog beleidigt ab, wobei er oft halb fertige Auftragsarbeiten zurückließ. Manchmal war der Streit wegen einer Kleinigkeit entbrannt, bei der Leonardo sich übergangen fühlte. Meistens lag es daran, dass der Mäzen nicht alle Erwartungen Leonardos erfüllen konnte. Zwischen den Zeilen liest man in seinen wütenden Briefen und abgebrochenen Arbeiten die Stimme eines erbosten Teenagers heraus: Du bist nicht mein Vater. Du kannst mich nicht herumkommandieren. Du liebst mich überhaupt nicht wirklich. Dir werd ich’s beweisen.
Viele von uns tragen Blessuren aus Kindheitstagen mit sich herum. Vielleicht hat jemand uns ungerecht behandelt. Oder wir haben etwas Schreckliches erlebt. Oder unsere Eltern waren einfach viel zu beschäftigt oder sie waren zu kritisch oder sie hatten zu sehr mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, um all das für uns sein zu können, was wir brauchten.
Diese Wunden haben einen Einfluss auf unsere Entscheidungen und unser Handeln – selbst wenn wir uns dessen gar nicht immer bewusst sind.
Dies zu wissen, sollte uns erleichtern: Die Quelle unserer Ängste und Sorgen, die Frustrationen, die manchmal in völlig unpassenden Momenten wie aus dem Nichts auftauchen, der Grund, warum wir keine festen Bindungen eingehen oder nicht gut mit Kritik umgehen können – das sind wir gar nicht. Nun ja, wir sind es schon, aber nicht wir als Erwachsene . Es ist das siebenjährige Kind in uns. Das Kind, das sich von Mama und Papa verletzt gefühlt hat, das nicht genug beachtet wurde.
Denken wir mal an Rick Ankiel, einem der von Natur aus begabtesten Werfer, die es jemals im Baseball gegeben hat. Er hatte eine brutale Kindheit hinter sich, mit einem Vater, der ihn misshandelte und einem Bruder, der als Drogendealer tätig war. Sein ganzes Leben lang unterdrückte er seinen Schmerz und seine Hilflosigkeit und konzentrierte sich einzig und allein auf seine Fähigkeiten als Werfer, bis er schließlich zum vielversprechendsten Pitcher der Minor League avancierte. Dann, ganz plötzlich, als seine Karriere gerade gut zu laufen schien, im ersten Spiel der Playoffs der Saison von 2000, verlor er vor Millionen von Zuschauern die Fähigkeit, seine Würfe kontrolliert durchzuführen.
Was war passiert? Nur wenige Tage zuvor waren sein Vater und sein Bruder wegen Drogendelikten zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden und Rick war in das Gerichtsgebäude gegangen, um sie zu sehen. Jahrelang war er vor dem Schmerz und der Wut davongelaufen, bis schließlich alles zerbarst und die feine Balance, die man beim Werfen eines Baseballs braucht, ins Ungleichgewicht brachte. Erst nach jahrelanger Therapie bei Harvey Dorfman, einem brillanten und sehr geduldigen Sportpsychologen, hatte Rick wieder Zugriff auf sein Talent. Und auch dann blieb eine feste Grenze bestehen. Im weiteren Verlauf seiner Karriere sollte Ankiel nur noch fünfmal als Werfer antreten, und nicht ein einziges Mal davon von Anbeginn. Er war für den Rest seiner Karriere im Outfield positioniert – meistens im Centerfield, der Position, die von der Abwurfstelle am weitesten entfernt ist.
Sigmund Freud schrieb bereits darüber, wie oft es vorkommt, dass Schwächen der Kindheit, sowohl kleinere als auch große, sich im Erwachsenenalter in extrem schädliche und destabilisierende Haltungen auswachsen können. Es ist nun einmal so, dass wir nicht reich genug, hübsch genug oder talentiert genug geboren wurden, und wir wurden nicht so sehr wertgeschätzt wie unsere anderen Klassenkameraden oder wir mussten schon früh eine Brille tragen oder waren gesundheitlich anfällig oder konnten uns keine schicke Kleidung leisten – und diesen Mangel tragen wir als Stigma mit uns herum. Manche von uns werden dann wie Richard III., der dachte, seine körperliche Unförmigkeit gäbe ihm das Recht, selbstsüchtig, gemein oder unersättlich ehrgeizig sein zu dürfen. Freud hat das so erklärt: »Wir alle verlangen Schadenersatz für die frühen Wunden an unserem Narzissmus« – wir meinen, wir hätten ein Recht auf Kompensation, weil uns Unrecht zugefügt oder etwas vorenthalten wurde (das entspricht ganz dem, was Tiger Woods umtrieb).
Es ist jedoch nicht ganz ungefährlich, wenn man ein Monster schafft, bloß um das verletzte Kind in sich zu beschützen.
Die verunsicherte Perspektive. Die ängstliche Perspektive. Die verfolgte Perspektive. Die »Ich werde allen beweisen, dass sie sich geirrt haben«-Perspektive. Die »Kannst du mein Vater sein?«-Perspektive, die Leonardo anwendete. All diese Anpassungsversuche werden früh entwickelt, um für sich einen Sinn im Leben zu finden, aber sie machen unser Leben nicht einfacher. Im Gegenteil.
Wer kann so schon glücklich sein? Würdest du einem Neunjährigen die Kontrolle geben, wenn es um etwas Beunruhigendes, Gefährliches oder Wichtiges geht?
Der Filmproduzent Judd Apatow berichtet, wie ihm einmal, nach einem großen Streit während der Dreharbeiten für einen seiner Filme, etwas klar wurde: Über Jahre hinweg hatte er jede Bemerkung, die das Filmstudio oder die Produktionsmanager hatten fallen lassen, jeden Versuch der Einflussnahme oder der Eingrenzung als das übergriffige Einschreiten seiner Eltern fehlinterpretiert. Instinktiv und rein emotional hatte er sich jeder Art von Einflussnahme widersetzt und dagegen angekämpft. Was denken diese Idioten, wer sie sind, dass sie sich so einmischen? Warum wollen die mich immer herumkommandieren? Warum sind sie so ungerecht?
Jeder von uns hat das schon einmal erlebt, dass man auf einen ganz unschuldigen Kommentar von jemandem sehr extrem reagiert oder dass man eine Szene macht, wenn eine Autoritätsperson versucht hat, unser Handeln zu beeinflussen. Oder wir waren von der Art Beziehung angezogen, von der wir wissen, dass das nicht gut enden wird. Oder wir haben Verhaltensmuster an den Tag gelegt, von denen wir wissen, dass sie falsch sind. Diese Gefühle greifen unglaublich tief, bis in unsere Ursprünge – sie sind in unserer frühen Kindheit verwurzelt.
Apatow ging zur Therapie und dachte viel über sich selbst nach (und wahrscheinlich halfen ihm auch die Beobachtungen seiner Frau), bis er begriff, dass die Mitarbeiter im Filmstudio nicht seine Eltern waren. Stattdessen handelte es sich ebenso um eine geschäftliche Abmachung wie um eine kreative Auseinandersetzung – es war nicht wieder so ein Moment, wo ein talentierter kleiner Junge von seinen sonst meist abwesenden Eltern herumkommandiert wurde.
Doch nachdem er das erkannt hatte, kehrte Ruhe ein, einfach nur, weil die Diskussionen am Arbeitsplatz an Intensität verloren. Denk mal darüber nach: Wie viel besser – und weniger furchteinflößend – kann das Leben sein, wenn wir es nicht von der Warte eines verängstigten, verletzlichen Kindes aus sehen? Wie viel leichter wird unser Gepäck sein, wenn wir nicht noch extra Gewichte oben drauf laden?
Um die Wunden in deinem Leben verheilen zu lassen, brauchst du Geduld, Empathie und wahre Selbstliebe. Thích Nhất Hạnh hat das einmal so beschrieben:
Nachdem du dein inneres Kind erkannt und es angenommen hast, folgt die dritte Funktion von Achtsamkeit, in der es darum geht, dass wir unsere schwierigen Emotionen besänftigen und entlasten. Indem wir dieses Kind sanft in Armen halten, können wir unsere schwierigen Emotionen besänftigen und schon beginnen wir, uns entspannter zu fühlen. Wenn wir unsere starken Gefühle mit Achtsamkeit und voller Konzentration annehmen, können wir die Wurzeln dieser mentalen Ausformungen erkennen. Wir werden wissen, woher unser Leiden stammt. Wenn wir die Wurzeln der Dinge sehen, wird unser Leiden nachlassen. So ist es, dass Achtsamkeit erkennt, annimmt und versöhnt.
Nimm dir Zeit und denk über die Schmerzen nach, die du seit frühesten Kindheitserfahrungen in dir trägst. Denk darüber nach, welchem »Alter« bestimmte emotionale Reaktionen entsprechen, die du an den Tag legst, wenn du dich verletzt oder hintergangen fühlst oder wenn du dich plötzlich einer unvorhersehbaren Herausforderung stellen musst. Das ist das Kind in dir. Es braucht deine Umarmung. Es möchte hören, wie du mit ihm sprichst und sagst: »Hey, Kumpel, ist schon in Ordnung . Ich weiß, dass dir das wehtut, aber ich kümmere mich jetzt um dich.«
Der funktionale Erwachsene schreitet ein, um die Kontrolle zu übernehmen und Sicherheit zu schaffen. Um die Ruhe zu ermöglichen.
Wir schulden es uns selbst und den Menschen in unserem Umfeld, so zu agieren. Jeder von uns muss dieses Glied in der Kette aufbrechen, die die Buddhisten als samsara bezeichnen: Das Fortführen des Leidens von einer Generation zur nächsten.
Als der Comedian Garry Shandling zehn Jahre alt war, starb sein Bruder Barry an Mukoviszidose. Seine verzweifelte und kontrollsüchtige Mutter konzentrierte sich für den Rest ihres Lebens voll und ganz auf ihn. Der Tod ihres älteren Sohnes hatte sie so sehr erschüttert, dass sie Garry sogar verbot, an der Beerdigung teilzunehmen, weil sie nicht wollte, dass er sieht, wie sie weint.
Doch eines Tages, als er bereits im fortgeschrittenen Alter war, schrieb Garry einen Spruch in sein Tagebuch, der ihm helfen sollte, seinen Schmerz zu überwinden und nicht nur die Heilung des inneren Kindes voranzutreiben, sondern diese Lektion auch weiterzugeben an seine vielen »Ersatzkinder« – die Neulinge im Showbusiness, um die er sich als Mentor und graue Eminenz kümmerte. 4 Der Spruch war ganz einfach, aber er enthält den Schlüssel, um den Kreislauf zu durchbrechen und die tiefe Angst zu besänftigen, die wir alle in uns tragen:
Gib mehr. Gib das, was du selbst nie bekommen hast. Liebe mehr. Lass die alte Geschichte hinter dir.
Versuche es, wenn du kannst.