Angesichts des Erhabenen fühlen wir einen Schauer […] es ist zu groß, als dass unser Verstand es ermessen könnte. Für einen Moment schüttelt es uns aus unserer Selbstzufriedenheit und befreit uns aus den todesgleichen Klauen von Gewohnheit und Banalität.
ROBERT
GREENE
F
rüh an einem Mittwoch, am 23. Februar 1944, kletterte Anne Frank auf den Dachboden oberhalb des Anbaus, in dem sie sich seit zwei langen Jahren mit ihren Eltern versteckt gehalten hatte, um Peter zu besuchen, den jüdischen Jungen, der auch bei ihnen wohnte. Nachdem Peter seine Aufgaben erledigt hatte, setzten sich die beiden auf Annes Lieblingsfleck auf dem Boden und schauten durch das kleine Fenster hinaus auf die Welt, die sie hatten hinter sich lassen müssen.
Die beiden starrten in den blauen Himmel hinauf, auf den Kastanienbaum unter ihnen, der alle Blätter abgeworfen hatte, auf die Vögel, die durch die Luft schwebten und sich sturzartig fallen ließen, und sie waren so fasziniert, dass es ihnen die Sprache verschlug. Im Vergleich mit ihren eigenen beengten Verhältnissen war es hier so ruhig, so friedlich, so offen.
Fast war es so, als befände sich die Welt gar nicht im Krieg, als habe Hitler nicht bereits Millionen von Menschen getötet und als liefen deren Familien nicht jeden Tag aufs Neue Gefahr, ebenfalls zu sterben. Trotz all dem schien die Schönheit die Vorherrschaft zu haben. »Solange es das noch gibt«, dachte Anne bei sich, »diesen wolkenlosen blauen Himmel, darf ich nicht traurig sein.«
Später sollte sie in ihrem Tagebuch vermerken, dass Natur eine
Art Allheilmittel sei, ein Trost, der für jeden, der litt, zugänglich war. Tatsächlich gelang es Anne immer wieder, in der Natur etwas zu finden, das ihre Gedanken aufmunterte und ihr half, sich zu zentrieren, egal, ob es die ersten Frühjahrsblüten waren oder ein klarer, kalter Wintertag, selbst wenn es dunkel und verregnet war oder wenn es zu gefährlich war, das Fenster zu öffnen, und sie in dem stickigen, unerträglich heißen Raum sitzen musste. »Die Schönheit bleibt bestehen, selbst im Unglück«, schrieb sie. »Wenn man nur danach Ausschau hält, entdeckt man immer mehr Glück und dann findet man seine innere Ausgeglichenheit wieder.«
Wie wahr. Und was für eine Quelle von Frieden und innerer Stärke es sein kann.
Ein Wald ohne jegliche Spuren von Menschen. Ein Kind, das auf einem Buch liegt und in aller Ruhe liest. Der Flügel eines Flugzeugs, der aus den Wolken hervortritt, während die erschöpften Fluggäste schlafen. Ein Mann, der dasitzt und liest. Eine Frau, die schläft. Eine Flugbegleiterin, die ihre Füße ausruht. Die rosigen Fingerspitzen des Sonnenaufgangs, die langsam über die Bergkuppe krabbeln. Ein Song in Dauerschleife. Der Beat jenes Songs, dessen Rhythmus genau dem der Geschehnisse entspricht. Die Freude darüber, wenn man einen Auftrag schon vor der Deadline fertiggestellt hat. Die zwischenzeitliche Ruhe eines leeren Posteingangs.
Das ist Stille.
Die Schriftstellerin Rose Lane Wilder beschrieb einmal, wie es ist, wenn man in Tiflis, der Hauptstadt von Georgien, über das von Gras bewachsene Plateau hinwegschaut:
Hier gab es nur den Himmel, und eine Stille, die das trockene Gras hörbar machte. Die Leere um mich herum war so vollkommen, dass ich mich wie ein Teil davon fühlte, ebenso leer; es gab einen Moment, in dem ich selbst nichts war – fast nichts.
Man bezeichnet solch einen Augenblick als Exstasis
– ein himmlisches Erlebnis, das es uns ermöglicht, aus uns selbst herauszutreten. Und diese wunderschönen Augenblicke können wir erleben, wann immer wir wollen. Wir brauchen bloß eines tun: ihnen
unsere Seele öffnen.
Es gibt eine Geschichte über den Zen-Meister Hyakujo, der, als er morgens die Arbeiten auf der zu seinem Tempel gehörenden Farm verrichtete, von zwei Schülern angesprochen wurde. Als die Schüler ihn baten, ihnen etwas über »Den Weg« beizubringen, antwortete er: »Ihr übernehmt für mich die morgendlichen Arbeiten auf der Farm und ich werde euch etwas sagen über das große Prinzip des Zens.« Nachdem sie die Arbeiten verrichtet hatten und zum Meister gegangen waren, um seine Lektion zu hören, drehte er sich einfach in Richtung der Felder, über denen soeben die Sonne aufging, breitet die Arme in Richtung dieser stillen Weite aus, und sprach kein Wort.
Das war der Weg. Die Natur. Die kultivierte Erde. Die wachsenden Feldfrüchte. Die Befriedigung, die aus guter, harter Arbeit erwächst. Die Poesie der Erde. Wie im Anfang, so in alle Zukunft.
Es ist nicht so, dass jede Schönheit sofort als solche erkennbar ist. Wir sind nicht immer auf einer Farm oder am Strand oder haben einen weiten Blick über Canyons. Deswegen muss der Philosoph lernen, den Blick eines Dichters anzunehmen, muss die Fähigkeit entwickeln, überall die Schönheit zu erkennen, selbst im Banalen oder im Furchtbaren.
Marc Aurel, dieser angeblich düstere depressive Stoiker, liebte die Schönheit auf seine ganz eigene Art. Wie lässt es sich sonst erklären, dass er so lebhaft über Dinge des Alltags geschrieben hat, etwa darüber, wie »backendes Brot an manchen Stellen aufbricht und wie diese Risse, auch wenn sie nicht die Absicht der Bäckerskunst sind, unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und dazu dienen, unseren Appetit anzuregen«, oder über den »Charme und die Anziehungskraft« aller Prozesse der Natur, etwa die »Stängel von reifem Korn, die sich tief beugen«, die »grübelnde Braue des Löwen« oder »der Schaum, der vom Maul des Ebers tropft«. Selbst über das Sterben schreibt er: »Durchschreite diesen kurzen Zeitabschnitt im Einklang mit der Natur. Komm würdevoll zu deiner endgültigen Ruhestätte, so wie eine reife Olive, die vom Baum fällt und dabei die Erde lobpreist, die sie genährt hat, und dem Baum dankte, der sie wachsen ließ.«
Der Philosoph und der Dichter, sie sehen die Welt auf dieselbe Art
und Weise, sie sind beide gleichermaßen eingebunden in das, was Thomas von Aquin als das Studium des »Wunderns« bezeichnete.
Edward Abbey, der Autor und Umweltaktivist, sagte einmal, dass selbst das Wort Wildnis
wie Musik klinge. Es ist eine Musik, der wir lauschen können, wann immer wir möchten, wo auch immer wir leben, was auch immer wir arbeiten. Selbst wenn wir gerade nicht in einem Wald wandern können, können wir darüber nachdenken, wie es ist, über einen mit Piniennadeln bedeckten Waldboden zu laufen, langsam auf einem behäbig fließenden Fluss dahinzutreiben, oder wir denken daran, wie warm ein Lagerfeuer ist. Wir können auch, wie Anne Frank, einfach aus dem Fenster schauen und einen Baum betrachten. Wenn wir dies tun, wenn wir uns der Dinge gewahr
werden, öffnen wir uns der Stille.
Es ist nicht unbedingt ein Zeichen für eine gesunde Seele, wenn man sich auf die Schönheit von Oberflächlichem konzentriert – auf das, was die Massen anhimmeln, auf teure Autos, riesige Villen, glitzernde Pokale. Es ist auch nicht gesund, wenn man sich wegen all der hässlichen Dinge auf der Welt unglücklich fühlt – es gibt zu viele Kritiker und Schlechtredner, Unschuldige, die leiden, Verletzungen, Schmerzen und Verluste. Es ist besser, wenn man die Schönheit in Orten und Gegenständen sucht, denn diese umgeben uns. Und sie werden uns nähren, wenn wir es zulassen.
Der Abdruck von Katzenpfoten auf einer staubigen Motorhaube. Der heiße Dampf, der morgens in den Straßen von New York City von den Lüftungsanlagen aufsteigt. Der Geruch von Asphalt, wenn es gerade zu regnen beginnt. Das dumpfe Klatschen einer Faust, die perfekt in eine Handfläche passt. Das Geräusch eines Füllfederhalters, wenn man einen Vertrag unterschreibt, der zwei Parteien zusammenbringt. Der Mut einer Mücke, die sich traut, einem Menschen Blut abzusaugen, obwohl dieser sie so einfach zerquetschen könnte. Ein Korb voll frisch geerntetem Gemüse aus dem eigenen Garten. Die Art und Weise, wie Laster eine nahezu rechteckige Decke in Alleen schneiden, weil sie alle anderen Zweige abreißen. Ein Fußboden voller Kinderspielzeug, dessen chaotische Anordnung auf einen voll ausgeschöpften Spielenachmittag schließen lässt. Eine ähnlich angelegte Stadt, die auf Hunderte Jahre
voneinander unabhängiger Bautätigkeiten schließen lässt.
Beginnst du zu verstehen, wie das geht?
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Ruhe in unserem geschäftigen Leben so selten und flüchtig ist, obwohl die Welt uns doch eine schier unerschöpfliche Quelle von Ruhemomenten bietet. Die Sache ist nur, dass niemand hinsieht.
Wo fand John Stuart Mill nach seinem Zusammenbruch und nachdem er, bedingt durch Überreizung und zu viel Lektüre, fast zwei Jahre lang gelitten und mit Depressionen gekämpft hatte, endlich zum ersten Mal wieder etwas inneren Frieden? In den Gedichten von William Wordsworth. Und was war die wichtigste Inspiration von Wordsworths Lyrik? Die Natur.
Nach dem Tod seiner Mutter und seiner Ehefrau wurde Theodore Roosevelt von seinem Arzt in den Westen geschickt – in den Weiten der Dakota Badlands sollte er alles hinter sich lassen. Teddy war eindeutig ein Jäger, ein Farmer und ein Mann, der gern typisch männlichen Aktivitäten nachging, aber was waren seine zwei größten Leidenschaften? Ganz ruhig mit einem Buch auf der Veranda sitzen und Vögel beobachten
. In Japan gibt es ein besonderes Behandlungskonzept für Menschen mit mentalen und seelischen Leiden: shinrin yoku
– Waldbaden – benutzt die Natur als Heilmittel. Es verging kaum eine Woche, selbst als er Präsident der USA war, in der Roosevelt nicht irgendeine Art von Waldbad nahm.
Wie viel reiner würden wir uns fühlen, wenn wir mindestens so oft ein Waldbad nähmen, wie wir duschen! Wie viel präsenter wir wären, wenn wir sähen
, was uns umgibt.
Baden
ist ein wichtiges Wort. Wasser hat doch etwas ganz Besonderes, nicht wahr? Sein Anblick. Wie es klingt. Wie es sich anfühlt. Diejenigen, die Ruhe suchen, tun gut daran, mit Wasser die Sorgen und Unruhe ihres Alltags abzuspülen. Einfach mal in einen Fluss tauchen. Den plätschernden Springbrunnen in einem Zen-Garten betrachten. Das Glitzern des Lichts auf dem Wasserbecken einer Gedenkstätte. Selbst ein Audiogerät, welches das Geräusch von ans Ufer krachenden Wellen wiedergibt, hilft.
Für Menschen, die an einem Trauma leiden, die einen sehr aufreibenden Beruf ausüben oder die des modernen Lebens müde
geworden sind, hat Professor John Stilgoe einen sehr einfachen Ratschlag:
Gehen Sie jetzt raus. Nicht nur aus der Tür hinaus, sondern begeben Sie sich außerhalb der Falle unseres programmierten elektronischen Zeitalters, die so viele von uns in ihren sanften Fängen hält […] Gehen Sie raus, bewegen Sie sich bewusst, dann entspannen Sie, verlangsamen Sie sich, schauen Sie sich um. Joggen Sie nicht. Rennen Sie nicht […]
Achten Sie stattdessen genau auf alles, was Ihnen am Wegesrand einer Dorfstraße, in der Stadt oder in einer ruhigen Allee auffällt. Gehen Sie. Schlendern Sie. Spazieren Sie. Nehmen Sie ein Fahrrad und lassen Sie es rollen. Entdecken Sie.
Diese Aktivitäten tragen viel Frieden in sich. Sie stehen dir jederzeit zur Verfügung.
Verpass nicht die Schönheit des Lebens. Erkenne die Welt als das, was sie ist: ein Tempel. Lass jede Erfahrung so sein, als befändest du dich in einer Kirche. Staune darüber, dass all dies existiert – dass du
existierst. Selbst wenn wir in sinnlose Kriege eingebunden sind, in denen wir uns gegenseitig das Leben rauben; selbst wenn wir uns mit sinnloser Arbeit das Leben schwer machen, können wir jederzeit aufhören und ein Bad nehmen in der Schönheit, die uns umgibt. Jederzeit.
Lass dich von der Schönheit beruhigen. Lass sie dich reinigen.