AKZEPTIERE EINE HÖHERE MACHT
Mittelmaß kennt nichts Höheres als sich selbst.
ARTHUR
CONAN
DOYLE
S
eit fast einhundert Jahren gibt es das Zwölf-Schritte-Programm zur »Genesung«, das einem viele schwierige Schritte abverlangt. Dabei ist es NICHT einer der schwierigsten, eine gnadenlose moralische Bestandsaufnahme der eigenen Verfehlungen zu machen oder Wiedergutmachung zu betreiben. Und ebenso wenig zuzugeben, dass man Probleme hat, oder einen Mentor zu finden oder an entsprechenden Treffen teilzunehmen.
Der Schritt, mit dem viele Süchtige – insbesondere diejenigen, die sich einbilden, Denker
zu sein – ganz heftig zu kämpfen haben, ist, die Existenz einer höheren Macht
anzuerkennen. Sie wollen einfach nicht zugeben, dass sie »zu der Überzeugung gekommen sind, dass eine Macht, die größer ist als sie selbst, sie wieder zur Vernunft bringen könnte«.
Dieser scheinbar einfache Schritt ist schwer, aber nicht, weil die Welt seit der Gründung der Anonymen Alkoholiker im Jahre 1935 sich immer mehr von der Religion abgewandt hat. Tatsächlich war einer der Gründer der Selbsthilfeorganisation nach eigenem Bekunden ein »militanter Agnostiker«. Eine höhere Macht anzuerkennen, ist deshalb so schwierig, weil es für die »pathologische Selbstzentriertheit der Sucht« ein Gräuel ist, sich etwas anderem zu unterwerfen als seinen eigenen Begierden, wie es ein Abhängiger beschrieb.
»Ich glaube nicht an Gott«, ist der häufigste Einwand gegen Schritt 2. »Es gibt keine Beweise für eine höhere Macht«, heißt es dann. »Schau dir die Evolution an. Schau dir die Naturwissenschaft
an.« Oder die Betroffenen fragen, was zum Teufel das alles mit einem erfolgreichen Entzug zu tun habe. Können sie nicht einfach aufhören, Drogen zu nehmen und die anderen Schritte vollziehen? »Was hat Religion oder Glaube überhaupt mit irgendetwas zu tun?«
Das sind durchaus berechtigte Fragen. Und doch sind sie unwichtig, weil es bei Schritt 2 nicht wirklich um Gott geht. Es geht darum, sich hingeben
zu können. Es geht um den Glauben.
Denk daran, dass die einzige Möglichkeit, den unbedingten Willen zu überwinden – die Kraft, von der Awa Kenzo glaubte, dass sie alle, nicht nur Süchtige, dazu bringe, die Ziele zu verfehlen, die sie anstreben – darin besteht, dass wir tief in uns, auf der seelischen Ebene, loslassen.
Während Sucht zweifellos eine physische Krankheit ist, ist sie auch, in einem praktischeren Sinne, ein Prozess der absoluten Besessenheit vom eigenen Selbst und die Vorherrschaft der eigenen Triebe und Gedanken. Daher ist es ein wichtiger Fortschritt, wenn man zugibt, dass es etwas Größeres als einen selbst gibt. Es bedeutet, dass ein Süchtiger endlich versteht, dass er nicht Gott ist, dass er nicht die Kontrolle hat und wirklich nie hatte. Übrigens, keiner
von uns hat das.
Das Zwölf-Schritte-Programm an sich bewirkt keine Verwandlung. Es ist die Entscheidung aufzuhören, zuzuhören und die Schritte zu befolgen
, die die ganze Arbeit leistet.
Wenn man sich die Lehren genau anschaut, sagen die Anonymen Alkoholiker nicht, dass man an Jesus glauben oder in die Kirche gehen muss. Nur, dass man »Gott, wie wir ihn verstehen«, annehmen soll. Das bedeutet, es liegt an dir, ob du an Mutter Erde, Vorsehung, Schicksal, Karma oder an glückliche Zufälle glaubst.
Für die Stoiker war die höhere Macht das Logos
– der Weg des Universums. Sie erkannten Schicksal und Glück ebenso an wie die Macht, die diese Kräfte über sie hatten. Und indem sie diese höheren Mächte anerkannten, erlangten sie eine Art Stille und inneren Frieden (vor allem, weil es weniger Kämpfe um die Kontrolle bedurfte!), die ihnen halfen, Imperien zu führen, Sklaverei oder Exil zu überleben und schließlich sogar dem Tod mit großer Gelassenheit zu begegnen. In der chinesischen Philosophie ist das Dào
– der Weg
– die natürliche Ordnung des Universums, der Weg eines höheren Bewusstseins. Die Griechen glaubten nicht nur an viele verschiedene Götter, sondern auch daran, dass die einzelnen Menschen von einem Dämon
begleitet wurden, einem leitenden Geist, der sie zu ihrem Schicksal führte.
Die Konfuzianer glauben an Tian, 天 – ein Konzept des Himmels, das uns führt, während wir hier auf Erden sind, und uns eine Rolle oder eine Bestimmung im Leben zuteilt. Die Hindus glauben, dass Brahman die höchste allgegenwärtige Realität ist. Im Judentum ist Jahweh (יהוה) das Wort Gottes. Jeder der großen Stämme der amerikanischen Ureinwohner hatte sein eigenes Wort für den Großen Geist, der ihr Schöpfer und ihre leitende Gottheit war. Epikur war kein Atheist, sondern er lehnte die Vorstellung von einem herrischen oder verurteilenden Gott ab. Welche Gottheit würde wollen, dass die Welt in Angst lebt? In Angst zu leben, sagte er, ist unvereinbar mit ataraxia
, seinem Ideal der Seelenruhe.
Wenn Krishna von dem »Geist, der in der Stille des Gebets des Yoga ruht« spricht, ist es dasselbe. Die Christen glauben, dass Gott die Quelle der inneren Ruhe in unserem Leben ist, die uns wie ein Fluss Frieden und Trost bringt. »›Schweig! Sei Still!‹, sagte Jesus zu dem See. Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein.«
Wer nur an sich selbst denkt, dessen Geist wird nicht zur Ruhe kommen, und wer jedem Drang nachgibt und nichts als sich selbst schätzt, wird weder körperlich noch geistig Frieden finden.
Der Fortschritt von Wissenschaft und Technologie ist von enormer Bedeutung. Aber viele von uns modernen Menschen haben dadurch die Fähigkeit verloren, Ehrfurcht zu entwickeln und Kräfte anzuerkennen, die über unser Verständnis hinausgehen. Dieser Fortschritt hat uns den Zugang zu spiritueller Stille und Frömmigkeit verbaut.
Wollen wir allen Ernstes behaupten, dass ein einfacher, gottesgläubiger Bauer, der täglich in einer schönen Kathedrale betete, die der Größe des Heiligen Geistes eine wundersame Herrlichkeit zu verleihen schien, schlechter dran war als wir, weil ihm unsere Technologie oder ein Verständnis für den Fortschritt fehlte? Wenn wir einem Zen-Buddhisten aus dem Japan des zwölften
Jahrhunderts gesagt hätten, dass in Zukunft jeder mit mehr Reichtum und einem längerem Leben rechnen könne, dass aber in den meisten Fällen auf diese Wohltaten ein Gefühl völliger Sinnlosigkeit und Unzufriedenheit folgen würde, glaubst du, dass er mit uns hätte tauschen wollen?
Denn das klingt fürwahr nicht nach Fortschritt.
In seiner Rede an die Studenten der Harvard-Universität – anlässlich der Abschlussfeierlichkeiten im Jahr 1978 – sprach Alexander Solschenizyn über eine moderne Welt, in der alle Länder – kapitalistische und kommunistische – von einem »despiritualisierten und irreligiösen menschlichen Bewusstsein« durchdrungen seien.
Mit einem solchen Bewusstsein macht sich der Mensch selbst zum Maßstab, wenn es darum geht, über alles auf der Erde zu richten – ein unvollkommener Mensch, der nie frei von Stolz, Eigeninteresse, Neid, Eitelkeit und Dutzenden anderer Makel ist. Wir erleben jetzt die Folgen von Fehlern, die zu Beginn der Reise nicht bemerkt wurden. Auf dem Weg von der Renaissance bis in unsere Tage haben wir unseren Erfahrungsschatz erweitert, aber wir haben das Konzept einer höchsten, vollkommenen Instanz verloren, die unsere Leidenschaften und unsere Verantwortungslosigkeit gewöhnlich im Zaum hielt. Wir haben zu viel Hoffnung in politische und soziale Reformen gesetzt, nur um festzustellen, dass wir unseres wertvollsten Besitzes beraubt wurden: unseres spirituellen Lebens.
Realismus ist wichtig. Pragmatismus, Wissenschaftsgläubigkeit und Skepsis sind es auch. Sie alle haben ihren Platz. Aber trotzdem muss man an etwas
glauben. Man muss es einfach. Sonst ist alles kalt und leer.
Der Comedian Stephen Colbert durchlebte eine dramatische Kindheit, die von einem tiefen und ernsthaften katholischen Glauben geprägt war, den er bis heute pflegt (bis weit in seine Showbusiness-Karriere unterrichtete er in der Sonntagsschule). Seine Mutter, die die größte vorstellbare Bürde tragen musste, als sie ihren Mann und zwei Söhne bei einem Flugzeugabsturz verlor, war sein Vorbild. »Versuche, diesen Moment im Licht der Ewigkeit zu betrachten«, sagte sie zu ihm. Ewigkeit
. Etwas Größeres als wir. Etwas Größeres,
als wir vielleicht verstehen können. Etwas länger Währendes, als unser winziges Menschsein von Natur aus in Betracht ziehen kann.
Wir könnten eine ähnliche Geschichte für fast jeden Glauben, jede Religion finden.
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass, wenn man auf die Geschichte zurückblickt und sich über die unglaublichen Widrigkeiten und unvorstellbaren Schwierigkeiten wundert, die die Menschen durchlebt haben, man dazu neigt festzustellen, dass sie alle eines gemeinsam hatten: eine Art Glauben an eine höhere Gottheit. Einen Anker in ihrem Leben, den man als Glaube bezeichnet. Sie glaubten, dass eine unfehlbare Hand auf dem Rad des Lebens ruhte und dass hinter ihrem Leiden ein tieferer Zweck oder eine tiefere Bedeutung steckte, auch wenn sie es nicht verstehen konnten. Es ist kein Zufall, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen, die in der Welt Gutes getan haben, ebenfalls dieser Ansicht war.
Der Reformator Martin Luther wurde im Jahr 1521 vor Gericht gestellt und sollte unter Androhung einer Verurteilung und des möglichen Tods seinen Glauben widerrufen. Er verbrachte Stunden im Gebet, während er auf seine Vernehmung wartete. Er atmete tief ein und löste sich von allen Sorgen und Ängsten. Dann sprach er. »Ich kann und werde nichts widerrufen, weil es für einen Christen weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.«
Ist es nicht interessant, dass sich viele Staatsführer, die in turbulenten Zeiten auf die Probe gestellt werden, letztlich auf ein gewisses Maß an Glauben und Überzeugung verlassen, mit denen sie schwierige Zeiten überstehen?
So war es Lincoln ergangen. Wie viele aufgeweckte junge Menschen war er in frühen Jahren Atheist, doch die harten Prüfungen in seinem späteren Leben, besonders der Verlust seines Sohnes und die Schrecken des Bürgerkriegs, machten ihn zu einem gläubigen Menschen. Kennedy blickte die meiste Zeit seines Lebens etwas herablassend auf den katholischen Glauben seiner Eltern, aber höchstwahrscheinlich hat auch er im Angesicht einer drohenden nuklearen Vernichtung gebetet.
Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir.
Der Nihilismus ist eine fragile Angelegenheit. Es sind immer die Nihilisten, die durchzudrehen scheinen oder sich umbringen, wenn es im Leben hart auf hart kommt. (Oder die, wie jüngst, so viel Angst vor dem Sterben haben, dass sie davon besessen sind, ewig zu leben.)
Warum ist das so? Weil der Nihilist gezwungen ist, mit der immensen Komplexität, den Schwierigkeiten und der potenziellen Leere des Lebens und des Tods mit nichts anderem als seinem eigenen Verstand klarzukommen. Darin liegt komischerweise eine immense Diskrepanz.
Nochmals: Wenn fast alle Gelehrten der Geschichte einer Meinung sind, sollten wir innehalten und nachdenken. Es ist nahezu unmöglich, eine alte philosophische Schule zu finden, die nicht auf eine höhere Macht (oder höhere Mächte) verweist. Nicht, weil sie »Beweise« für deren Existenz hatten, sondern weil sie wussten, wie mächtig Glaube und Überzeugung sind, wie wichtig sie für das Erlangen von innerer Ruhe und innerem Frieden sind.
Fundamentalismus ist anders. Epikur hatte recht: Wenn Götter existieren, warum sollten sie dann wollen, dass man Angst vor ihnen hat? Und warum sollten sie sich darum kümmern, welche Kleidung man trägt oder wie oft man ihnen pro Tag Respekt zollt? Welches Interesse hätten sie an Denkmälern oder an ängstlichen Bitten um Vergebung? Im Grunde genommen ist das Einzige, was für jeden Vater oder jede Mutter – oder jeden Schöpfer – von Bedeutung ist, dass ihre Kinder Frieden finden, einen Sinn finden, eine Bestimmung finden. Sie haben uns sicherlich nicht auf diese Erde gesetzt, damit wir uns gegenseitig verurteilen, kontrollieren oder umbringen.
Aber das ist nicht das Problem, mit dem die meisten von uns zu kämpfen haben. Vielmehr kämpfen wir mit Skepsis, mit einem Egoismus, der uns selbst in den Mittelpunkt des Universums stellt. Deshalb bringt es der Satz des Philosophen Nassim Taleb genau auf den Punkt: »Es ist nicht so, dass wir glauben sollten, dass Gott groß ist, nur dass Gott größer ist als wir.«
Selbst wenn wir die Produkte von Evolution und Zufall sind, führt uns das nicht direkt zu der Haltung der Stoiker zurück? Akzeptieren
wir als Abhängige der Gesetze der Schwerkraft und Physik nicht bereits eine höhere, unerklärliche Macht?
Wir haben so wenig Kontrolle über die Welt um uns herum, so viele unerklärliche Ereignisse haben diese Welt geschaffen, dass sie fast genau so funktioniert, als gäbe es einen Gott.
In gewisser Weise ist der Sinn dieses Glaubens, den Verstand außer Kraft zu setzen. Ihn zu beruhigen, indem man ihn in die richtige Perspektive rückt. Die gemeinsame Sprache für die Annahme, dass es eine höhere Macht gibt, besteht darin, »Ihn oder Sie oder Es in sein Herz zu lassen«. Genau das ist der Punkt. Es geht darum, die Tyrannei unseres Intellekts, unserer auf direkter Beobachtung basierenden Erfahrung abzuschütteln und etwas Größeres zu akzeptieren, etwas, das sich unserem Zugriff entzieht.
Vielleicht bist du noch nicht bereit dafür, etwas in dein Herz zu lassen. Das ist in Ordnung. Es besteht keine Eile.
Du solltest nur wissen, dass dir dieser Schritt offensteht. Er wartet. Und er wird dir helfen, dass du wieder zur Vernunft kommst, wenn du dich dazu bereit fühlst.