GEH BEZIEHUNGEN EIN
Man kann keinen wertvollen Besitz genießen, wenn man ihn nicht mit jemandem teilen kann.
SENECA
N ach dem Scheitern seiner ersten Ehe in den 1960ern zog der Songwriter Johnny Cash von Südkalifornien nach Tennessee. Am ersten Abend in seinem neuen Zuhause lief er einsam und deprimiert die gesamte Wohnfläche in seinem Erdgeschoss auf und ab. Das Haus war riesig, aber es hatte keinerlei Möbel. Es lag eingekeilt zwischen einer steilen Anhöhe hinter dem Haus und dem Old Hickory Lake davor. Während er von einem Ende des Hauses zum anderen schritt, vom Berg zum See, fühlte er, fast panikartig überkam es ihn, dass etwas fehlte.
Was fehlt denn? , dachte er. Wo ist es? , wiederholte er immer wieder. Hatte er irgendetwas vergessen einzupacken? Gab es noch etwas, das er erledigen musste? Was stimmte bloß nicht?
Dann erkannte er es plötzlich. Was fehlte, war nicht etwas , sondern jemand .
Seine kleine Tochter Rosanne. Sie war nicht da. Sie war bei der Mutter in Kalifornien geblieben. Ein Haus ohne Familie ist kein Zuhause. Johnny Cash blieb stehen, schrie ihren Namen so laut er nur konnte und brach dann weinend auf dem Fußboden zusammen.
In mancher Hinsicht mag es einem so vorkommen, als sei dies genau die Art von Angstzustand, die zu verhindern die Philosophie uns hilft, indem wir einen gewissen Abstand und eine Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen entwickeln. Wenn du nicht mehr von anderen abhängig bist, wenn du nicht mehr verletzbar bist, kannst du sie nie verlieren und bist vor solchen Schmerzen gefeit.
Es gibt Menschen, die versuchen, nach diesen Prinzipien zu leben. Sie legen Keuschheitsgelübde oder Einsamkeitsschwüre ab oder aber sie versuchen, jegliche Beziehung auf das Minimum an Kontakt zu reduzieren. Oder sie bauen Mauern auf, weil sie schon einmal verletzt wurden. Oder sie widmen sich einzig und allein ihrer Arbeit, weil sie zum Beispiel außergewöhnlich talentiert sind. Sie sagen, das sei notwendig, weil sie zu Höherem berufen seien. Der Buddha, zum Beispiel, verließ seine Ehefrau und seinen jungen Sohn, ohne sich auch nur zu verabschieden, weil die Erleuchtung für ihn wichtiger war.
Natürlich sollte jeder Einzelne die Entscheidungen treffen, die in seinem oder ihrem Leben wichtig und richtig sind. Und dennoch ist ein Leben, das man allein führt, furchtbar fehlgeleitet – und furchtbar traurig.
Natürlich kosten Beziehungen Zeit. Sie können uns auch bloßstellen und ablenken, können Schmerzen verursachen und kosten Geld.
Doch ohne zwischenmenschliche Beziehungen sind wir nichts.
Schlechte Beziehungen findet man oft, und gute Beziehungen sind harte Arbeit. Sollte uns das überraschen? Einem anderen Menschen nahe zu sein und sich mit ihm oder ihr zu verbinden, ist eine Herausforderung, die jede Facette unserer Seele beansprucht.
Vor allem, wenn dann auch noch das innere Kind in uns mitmischt und sich aufspielt. Oder wenn wir von erotischem Verlangen und Begierden weggelockt werden. Oder wenn wir so selbstbezogen sind, dass kaum Platz bleibt für andere Menschen.
Die Verlockungen der Welt führen uns in die Irre und unsere Launen verletzen die Menschen, die uns lieb sind.
Eine gute Beziehung setzt voraus, dass wir tugendhaft, treu, präsent, empathisch, großzügig, offen und bereit sind, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Um eine Beziehung wachsen zu lassen, muss man sich also ein Stück weit unterordnen.
Keiner könnte behaupten, dass das einfach ist. Aber wenn wir uns dieser Herausforderung stellen, selbst wenn wir es auch nur versuchen, verwandeln wir uns – wenn wir das zulassen.
Jeder kann reich sein oder berühmt. Doch nur du kannst für die Menschen in deinem Leben Papa oder Mama sein; Tochter oder Sohn oder Seelenverwandter .
Es gibt viele Formen von Beziehungen. Mentor. Schützling. Eltern. Kind. Ehepartner. Bester Freund.
Und selbst wenn es stimmte, wie manche behaupten, dass ein Aufrechterhalten dieser Beziehungen für einen selbst einen materiellen oder kreativen Verlust bedeuten könnte – wäre es den Tausch nicht wert?
»Gibt es jemanden, der lieber von allen Reichtümern der Welt umgeben wäre und lieber allen Überfluss des Lebens genießen würde, ohne aber zu lieben oder von jemandem geliebt zu werden?«, fragte Cicero vor mehr als 2000 Jahren. Diese Frage hallt noch immer nach und ist ewig gültig.
Selbst die größten Vorbilder der Stille haben damit zu kämpfen, was zwischenmenschliche Verbindungen und Abhängigkeiten für ihre Karriere bedeuten könnten. Marina Abramović gab 2016 ein sehr umstrittenes Interview, indem sie erläuterte, warum sie sich entschlossen hatte, Single zu bleiben und keine Kinder zu bekommen. Sie sagte, das hätte für ihre Kunst katastrophale Folgen gehabt. »Man hat nur eine begrenzte Energie im Körper, und die hätte ich aufteilen müssen.«
Unfug.
Dieser Unfug ist von zahlreichen ehrgeizigen Menschen verinnerlicht worden. Es täte ihnen gut, wenn sie auch nur einen kurzen Blick auf die Geschichte und die Literatur werfen würden. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wird unermüdlich von ihrem Ehemann unterstützt; sie hat ihn als maßgebliche Hilfe für ihren Erfolg gelobt, auf dessen Ratschläge sie viel Wert legt. Auch Gertrude Stein wurde unermüdlich von ihrer Lebenspartnerin, Alice B. Toklas, unterstützt. Madame Curie äußerte sich sehr zynisch über die Liebe, bis sie Pierre begegnete, den sie dann heiratete und mit dem sie zusammenarbeitete und mit dem sie gemeinsam schlussendlich einen Nobelpreis gewann. In der Widmung zu seinem größten Werk, On Liberty , bezeichnet John Stuart Mill seine Gattin als »Inspiration, und zum Teil Autor all dessen, was an meinen Schriften gut ist.« Der Rapper J. Cole stellte einmal fest, dass es das Beste war, was er als Musiker jemals getan habe, Ehemann und Vater zu werden. »Ich hätte keine bessere Entscheidung treffen können«, sagte er, »als mir selbst diese Disziplin aufzuerlegen, als ich die Verantwortung übernahm, einem anderen menschlichen Wesen – meiner Frau – Frage und Antwort stehen zu müssen.«
Die innere Ruhe sucht man am besten nicht allein. Wie Erfolg ist sie etwas, das man am besten teilt. Wir brauchen alle jemanden, der uns besser versteht als wir selbst, und sei es nur, damit wir ehrlich bleiben.
Beziehungen sind natürlich kein Zaubertrick, um die Produktivität zu steigern, aber es ist schon ein wichtiger Schritt getan, wenn man erkennt, dass sich Liebe und Familie durchaus mit jeder Karriere vereinbaren lassen. Es ist die beste Entscheidung im Leben – und zwar ebenso bezogen auf das Privatleben wie auf das Berufsleben –, einen Partner zu finden, der einen unterstützt und ergänzt, der einem hilft, besser zu werden und dem man selbst ebenso helfen kann, sich zu verbessern. Im Gegenzug aber kann die falsche Wahl bei Partnern und Freunden einen negativen Effekt sowohl auf den Beruf als auch auf das persönliche Glücksgefühl zur Folge haben.
Ein Leben ohne Beziehungen, in dem man nur auf Leistung fixiert ist, ist leer und bedeutungslos (außerdem ist es fragil und labil). Ein Leben, das nur aus Arbeit und nochmals Arbeit besteht, ist furchtbar aus dem Gleichgewicht geraten – da muss man dann tatsächlich immer mehr Bewegung und Beschäftigung investieren, damit nicht alles auseinanderbricht.
Im hohen Alter sprach der Schriftsteller Philip Roth mit Stolz davon, dass er allein lebe und für niemanden als sich selbst und seine Bedürfnisse verantwortlich und zuständig sei. Er erzählte einem Interviewer, dass sein Lebensstil es ihm ermögliche, jederzeit für seine Arbeit zur Verfügung zu stehen, niemals auf irgendjemanden warten zu müssen und niemandem als sich selbst zu dienen. »Es ist, als sei ich der Arzt in einer Notfallpraxis«, sagte er, »und ich bin auch der Notfall«.
Das kann gut und gern das Traurigste sein, was ein Mensch je gesagt hat, ohne sich dessen gewahr zu werden.
Die katholische Ordensschwester Dorothy Day sprach von der langen Einsamkeit, die wir alle erleben: eine Art Leiden, das nur mit Liebe und Beziehungen geheilt werden kann. Und dennoch gibt es Menschen, die sich dieses Leiden absichtlich selbst zufügen! Sie berauben sich selbst des himmlischen Gefühls, wenn man jemanden im Leben hat, für den man etwas empfindet und der das Gleiche für einen empfindet.
Die Welt schleudert so viele Stürme auf uns. Diejenigen, die beschlossen haben, als einsame Insel durchs Leben zu gehen, sind den Gewittern und Wirbelstürmen gnadenloser ausgesetzt und werden stärker zerstört.
Brian Sweeney war einer der Fluggäste, die am 11. September 2001 in dem gekidnappten United Airlines Flug Nummer 175 festsaßen. Die Maschine steuerte geradewegs auf den südlichen Turm des World Trade Centers zu. Er nutzte eines der Bordtelefone, um seine Frau anzurufen und ihr mitzuteilen, dass die Lage nicht gut aussähe. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich über alles liebe«, sprach er auf den Anrufbeantworter. »Ich will, dass es dir gutgeht, und dass du schöne Zeiten erlebst, und dasselbe wünsche ich auch meinen Eltern. Wir sehen uns dann auf der anderen Seite.«
Stell dir vor, welche furchtbaren Ängste er ausgestanden haben muss, und doch hört man in seiner Stimme nicht den Anflug von Angst. Dieselbe Seelenruhe findet man in dem Abschiedsbrief von Major Sullivan Ballou aus dem Jahr 1861, geschrieben in den Tagen bevor das Regiment der Föderierten nach Manassas in Virginia marschierte – ein Feldzug, von dem er zu wissen schien, dass er ihn nicht überleben würde. »Sarah«, schrieb er, »meine Liebe für dich kennt keinen Tod. Sie scheint mich mit starken Fesseln zu binden, die nichts als der Allmächtige zu trennen vermag, und doch überkommt mich die Liebe für mein Vaterland wie ein kräftiger Wind und trägt mich mit all diesen Ketten unbezwingbar davon, zum Schlachtfeld hin. Die Erinnerungen an all die köstlichen Augenblicke, die ich mit dir verbracht habe, dringen auf mich ein, und ich bin äußerst dankbar – gegenüber Gott und dir – dass ich sie für so lange Zeit genießen durfte.«
Fjodor Dostojewski beschrieb seine Frau Anna einmal als Fels, auf den er sich stützen und an dem er sich ausruhen könne, als eine Wand, die ihn niemals fallenlasse und ihn vor der Kälte schütze. Es gibt keine bessere Beschreibung für die Liebe, sei sie zwischen Eheleuten, Freunden oder Eltern und Kind. Die Liebe ist laut Freud der große Erzieher . Wir lernen, wenn wir Liebe geben. Wir lernen, wenn wir Liebe bekommen. Durch die Liebe nähern wir uns an die innere Ruhe an.
Wie bei jeder guten Erziehung ist es nicht einfach. Überhaupt nicht einfach.
Es heißt, es gebe verschiedene Arten, das Wort »Liebe« zu buchstabieren. Manchmal schreibt man es Z-E-I-T. Manchmal schreibt man es A-R-B-E-I-T oder O-P-F-E-R oder S-C-H-W-I-E-R-I-G-K-E-I-T, mal H–I-N-G-A-B-E und ganz selten auch mal V-E-R-R-Ü-C-K-T-H-E-I-T.
Aber am Satzende steht immer B-E-L-O-H-N-U-N-G. Selbst bei
Beziehungen, die zu Ende gegangen sind.
Die gelassene Ruhe, die zwischen zwei Menschen herrscht, die gemeinsam auf einer Verandaschaukel sitzen; die Stille einer Umarmung, eines Abschiedsbriefs, einer Erinnerung, eines Telefonats kurz vor dem Absturz eines Flugzeugs; die Ruhe, wenn man in die gemeinsame Zukunft blickt, wenn man lehrt und lernt, wenn man beisammen ist.
Die Vorstellung, dass die Isolation, die vollständige Konzentration auf sich selbst, einen in einen Zustand der höheren Erleuchtung versetzen könne, ist nicht nur falsch, ihr entgeht auch das ganz Offensichtliche: Wen soll es denn interessieren, was du alles erreicht hast? Dein Haus ist vielleicht ruhiger ohne Kinder, und es ist vielleicht einfacher, viele Stunden am Stück zu arbeiten, wenn zu Hause niemand mit dem Essen wartet, aber das ist eine hohle Stille und eine leere Leichtigkeit.
Wollen wir alle Tage leben, ohne uns um irgendjemand anderen als uns selbst zu kümmern? Denken wir, dass wir das alles allein schaffen müssen? Wollen wir Meister und Genies werden, reich und mächtig sein, und das alles nur zu unserem eigenen Wohl? Was ist der Sinn dahinter?
Allein sind wir nur ein Bruchteil dessen, was wir sein könnten.
Wenn wir allein sind, fehlt etwas – und was schlimmer ist: Wir spüren den Verlust in unseren Knochen.
Deswegen brauchen wir andere Menschen, um innere Ruhe zu erlangen; tatsächlich brauchen wir diese Ruhe auch für andere Menschen.