Ein Geduldiger ist besser als ein Starker
und wer sich selbst beherrscht, ist besser als einer, der Städte erobert.
SPRÜCHE
16:32
I
m Jahr 2009 wurde Michael Jordan in die Basketball Hall of Fame aufgenommen. Es war die Krönung einer großartigen Karriere, die sechs NBA-Meisterschaften, vierzehn Berufungen zu den All-Star Games, zwei Olympische Goldmedaillen und die durchschnittlich meisten Scorer-Punkte in der Geschichte dieser Sportart umfasste.
Schon als Michael in einem silberfarbenen Anzug und mit seinem zum Markenzeichen gewordenen Creolen-Ohrring die Bühne betrat, standen ihm Tränen in den Augen. Er scherzte, dass sein ursprünglicher Plan darin bestanden habe, die Ehre einfach anzunehmen, Danke zu sagen und dann auf seinen Platz zurückzukehren. Aber er konnte es einfach nicht.
Er hatte etwas auf dem Herzen.
Was folgte, war eine seltsame und surreale Rede, in der Michael Jordan, ein Mann, der niemandem mehr etwas beweisen musste und der für so vieles dankbar sein sollte, eine halbe Stunde damit verbrachte, jede kleinste Kränkung aufzuzählen, die ihm in seiner Karriere jemals widerfahren war, und darauf zu reagieren. Auf dem Podium stehend, in einem Tonfall, der Leichtigkeit vortäuschte, aber aus tiefstem Herzen und mit Wut im Bauch daherkam, beschwerte er sich über die ewigen Nörgler in den Medien und darüber, dass Dean Smith, sein College-Trainer in North Carolina, ihn 1981 in einem Interview für Sports Illustrated
nicht als vielversprechenden Freshman protegiert hatte. Er erwähnte sogar, wie viel ihn die
Tickets für seine Kinder bei dieser Veranstaltung gekostet hatten.
Nach ein paar liebevollen Bemerkungen zu seiner Familie richtete sich Jordan an einen Mann im Publikum namens Leroy Smith, ein Spieler, der 31 Jahre zuvor Michaels Spielzeit bekommen hatte. Jordan wusste, dass viele Leute annahmen, dass es ein Mythos sei, dass er an der Highschool nicht berücksichtigt worden war. »Leroy Smith war der Typ, der es ins Team – in die Schulauswahl – schaffte, als ich ausgeschlossen wurde – und er ist heute Abend hier«, erklärte Michael. »Er ist noch immer derselbe zwei Meter große Kerl – er ist kein bisschen größer – und vielleicht ist sein spielerisches Können noch immer genauso gut. Aber er hat bei mir den ganzen Prozess ins Rollen gebracht, denn als er es ins Team schaffte und ich nicht, wollte ich es nicht nur Leroy Smith beweisen, nicht nur mir selbst, sondern auch dem Coach, der Leroy statt mich ausgewählt hatte, und ich wollte sichergehen, dass man es versteht – Junge, du hast einen Fehler gemacht.«
Dies ist aus unterschiedlichen Gründen ein bemerkenswerter Einblick in Michaels Denkweise. Zunächst einmal zeigt es, wie er eine vorhersehbare Entscheidung als tiefe Kränkung seines Selbstwertgefühls auslegte. Jordan war aus keinem Team ausgeschlossen
worden. Er und Leroy hatten sich beide um den einzigen verbliebenen Platz im Universitätsteam bemüht. Einer hatte es geschafft. Das ist nicht »ausgeschlossen«, sondern es war zu erwarten, dass es ein Studienanfänger nicht ins Senior-Team schafft! Auch standen seine Fähigkeiten nicht zur Disposition. Leroy war zwei Meter groß, Michael damals 1,80 Meter. Es ist auch auf kindische Art selbstbezogen. Als ob Leroy und sein Coach nicht frei und selbstständig wären; ein Mannschaftskamerad, für den er sich hätte freuen können, ein Mentor, von dem er viel hätte lernen können.
Doch Jordan hatte sich entschieden, jahrzehntelang darüber gekränkt zu sein.
Es war fast spürbar, wie unangenehm es dem Publikum war, als die Beschwerden immer persönlicher und kleinlicher wurden. An einem Punkt kam Jordan auf eine Bemerkung zu sprechen, die Jerry Krause 1997 fallengelassen hatte, bei der er vermeintlich gesagt
hatte, »Vereine gewinnen Meisterschaften«, nicht nur einzelne Spieler. Michael, der über diese kleine, aber wahrheitsgetreue Beobachtung des General Managers der Chicago Bulls nur verächtlich grinste, erklärte, dass er Krause, um sich zu revanchieren, ausdrücklich nicht zu dieser Feier eingeladen habe. Er berichtete mit Stolz von dem einen Mal, als er Pat Riley, den Trainer der Los Angeles Lakers, der New York Knicks und später von Miami Heat, aus einer Hotelsuite auf Hawaii geworfen hätte, weil er selbst dort bleiben wollte.
Seine Freunde begriffen, dass Michael mit seiner Rede eigentlich hilfreich hatte sein wollen. Statt ein paar Plattitüden von sich zu geben, wollte er zeigen, was genau es war, das eine Siegermentalität hervorbrachte. Wie hart es war. Was es erforderte. Er wollte veranschaulichen, wie produktiv Wut sein konnte – wie er jedes Mal, wenn er gekränkt wurde, jedes Mal, wenn er unterschätzt wurde, jedes Mal, wenn jemand sich nicht nach ihm
richtete, zu einem besseren Spieler wurde.
Das Problem ist, dass er fast genau die entgegengesetzte Botschaft vermittelte.
5
Ja, er hatte gezeigt, dass Wut ein mächtiger Antrieb ist. Er hatte auch gezeigt, wie wahrscheinlich es ist, dass man sich selbst und die Menschen um sich herum mitreißen kann.
Es gab zweifellos Momente in Jordans Karriere, in denen Ressentiments ihm zum Vorteil reichten und ihn dazu brachten, besser zu spielen. Es war aber auch eine Form des Wahnsinns, die ihn und seine Mitspieler verletzte (wie Steve Kerr, Bill Cartwright und Kwame Brown, die er körperlich hart anging oder beschimpfte). Mit seiner Unbeherrschtheit ruinierte er auf übelste Weise das Selbstvertrauen eines Gegenspielers, in diesem Fall Muggsy Bogues: »Wirf doch, du verdammter Zwerg«, hatte er während der 1995er Playoffs seinem 1,60 Meter großen Gegner zugerufen und ihn frei werfen lassen. Es wurde ein Fehlwurf und Bogues kam danach nach eigenem Bekunden nicht mehr so richtig auf die Beine. In einem Trainingslager im Jahr 1989 verpasste Jordan einem Neuling namens Matt Brust einen so bösen Ellbogencheck, dass dieser bewusstlos wurde und seine Hoffnung auf eine Karriere in der NBA ein jähes Ende fand.
Jordans Spiel war eine Augenweide, aber sein Verhalten war ungezügelt und hässlich.
War Wut wirklich das Geheimnis hinter Michael Jordans Meisterschaften? (Hat seine Wut ihm den Platz im Universitätsteam verschafft, den er im darauffolgenden Jahr bekam, oder halfen die zehn Zentimeter, die er gewachsen war?) Oder könnte sie in Wirklichkeit ein störendes Nebenprodukt gewesen sein, das ihn daran hinderte, das Erreichte zu genießen? (Tom Brady gewinnt auch häufig, ohne gemein oder wütend zu sein.)
Wenn Geschichte ein Indikator ist, neigen Staatsführer, Künstler, Generäle und Sportler, die in erster Linie von Wut getrieben werden, nicht nur dazu, auf lange Sicht zu scheitern, sondern sie neigen auch dazu, unglücklich zu sein, selbst wenn sie nicht scheitern. So richtete Nixon – der Absolventen der Ivy League hasste, Journalisten hasste, Juden hasste und etliche andere Menschen – in seinen letzten Tagen im Weißen Haus diese hochgesinnten Worte an seine treuen Mitarbeiter: »Denkt immer daran, dass andere euch hassen mögen, aber diejenigen, die euch hassen, gewinnen nicht, es sei denn, ihr hasst sie zurück. Und dann zerstört ihr euch selbst.«
Er hatte recht. Sein eigener Niedergang war der beste Beweis.
Die Führungspersönlichkeiten, die wir tief respektieren, die dem Rest haushoch überlegen sind, werden durch etwas anderes motiviert als durch Wut oder Hass. Von Perikles bis Martin Luther King Jr. können wir feststellen, dass große Anführer von Liebe angetrieben werden. Oder von ihrem Land, von Mitgefühl, vom Schicksal, von der Versöhnung, der Überlegenheit, vom Idealismus und der Familie.
Selbst in Jordans Fall war er vor allem dann inspirierend, wenn er nicht versuchte, jemanden zu dominieren, sondern wenn er aus Liebe zum Spiel
spielte. Und seine NBA-Championship-Ringe gewann er alle unter der Obhut und der Anleitung des Trainers Phil Jackson, der in Basketballkreisen »Zen-Meister« genannt wurde.
Es wäre unfair zu behaupten, dass Michael Jordan genauso gequält oder geplagt war wie Richard Nixon oder dass er überhaupt keine Freude oder kein Glück empfinden konnte. Dennoch ist seine Rede bemerkenswert. Er hatte so viel Wut und Schmerzen in einer
dunklen Ecke seiner Seele versteckt, dass irgendwann die Dämme brachen und alles hochkam.
Senecas These war, dass Wut uns letztendlich von dem Ziel abhält, das wir zu erreichen versuchen. Während sie uns zeitweilig helfen kann, auf unserem bevorzugten Gebiet erfolgreich zu sein, ist sie auf lange Sicht destruktiv. Was nutzen uns die herausragendsten Leistungen, wenn wir uns nicht zufrieden, glücklich und erfüllt fühlen? Es ist ein seltsamer Handel, der uns, wie Jordan deutlich gemacht hat, dazu zwingen sollte, ständig an die Zeiten zurückzudenken, in denen wir uns wie ein Verlierer fühlen mussten. Der Preis dafür, internationale Spitzenklasse zu erreichen, sollte nicht darin bestehen, dass man eine wandelnde offene Wunde ist, an der tausend Mal am Tag gerührt wird.
Und was ist mit den Menschen, deren Wut eher einer Hitzewallung gleicht als einem Schwelbrand? Dazu noch einmal Seneca:
Es gibt nichts Verblüffenderes als Wut, nichts, das mehr auf seine eigene Stärke ausgerichtet ist. Wenn sie erfolgreich ist, ist sie nicht weniger arrogant. Wenn sie vereitelt wird, nicht weniger wahnsinnig – selbst in der Niederlage wird sie nicht müde und ließe sich abhalten, und wenn das Schicksal den Gegner wegnimmt, richtet sie sich gegen sich selbst.
Wut ist kontraproduktiv. Hier ein kurzer Wutausbruch, dort ein Wutanfall wegen all der Inkompetenz um einen herum – das mag einen kurzen Motivationsschub oder sogar ein Gefühl der Erleichterung hervorrufen, aber selten rechnen wir die Frustration mit, die der Wutanfall in der Folge verursacht. Selbst wenn wir uns entschuldigen oder wenn das Gute, das wir tun, den Schaden überwiegt, bleibt der Schaden doch bestehen – und das hat Konsequenzen. Die Person, die wir angeschrien haben, ist uns jetzt feindlich gesinnt. Die Schublade, die wir im Affekt kaputtgemacht haben, ist jetzt ein ständiges Ärgernis. Der hohe Blutdruck, das überarbeitete Herz, mit dem wir uns Schritt für Schritt dem Infarkt nähern, könnte uns ins Krankenhaus oder ins Grab bringen.
Wir können so tun, als hätten wir nichts gehört oder gesehen, was
uns beleidigen sollte. Wir können langsam reagieren und den heftigen Gefühlen Zeit geben, sich zu verflüchtigen. Wir können Situationen und Menschen (und sogar ganze Städte) vermeiden, von denen wir wissen, dass wir bei ihnen dazu neigen, uns aufzuregen oder sauer zu werden. Wenn wir merken, dass unsere Wut hochkocht, müssen wir nach etwas Ausschau halten, das wir dazwischen legen können, um den Raum zwischen Stimulus und Reaktion zu füllen. Momente, in denen wir aufstehen und weggehen können. In denen wir sagen können: »Ich würde mich sonst darüber ärgern und ich will mich nicht aus der Ruhe bringen lassen« oder »Dies hier spielt keine Rolle und ich werde mich nicht festbeißen«. Wir könnten sogar an die Liedstrophe über Wut von Mr Rogers denken:
It’s great to be able to stop
When you’ve planned a thing that’s wrong,
And be able to do something else instead
And think this song.
Es ist gut, wenn du aufhören kannst,
Wenn du etwas Falsches geplant hast,
Deine Aufmerksamkeit dann auf etwas anderes lenkst
Und dir diesen Song ausdenkst.
So albern uns diese Zeilen auch in dem Moment erscheinen mögen, wenn unser Temperament überkocht – gibt es etwas Schlimmeres, als einen erwachsenen Menschen, der wegen einer geringfügigen Beleidigung seine Contenance verliert? Gibt es Schlimmeres, als etwas zu sagen oder zu tun, das uns womöglich auf ewig verfolgen wird?
Es ist nicht so, dass wir unser Temperament einzig und allein deswegen kontrollieren wollen, weil wir unser Bedauern verringern möchten, obwohl es ein wichtiger Faktor sein mag. Es geht eher darum, dass Menschen, die sich von ihrer Wut leiten lassen, nicht glücklich sind. Sie sind nicht gelassen. Sie kommen sich selbst in die Quere. Sie schmälern ihre Vermächtnisse und schränken ihre Ziele ein.
Die Buddhisten glaubten, dass Wut eine Art Tiger in uns sei, einer, dessen Krallen an dem Körper zerren, der ihn beherbergt. Um eine Chance auf innere Ruhe zu haben – und das klare Denken und den weitreichenden Blick, der sie ausmacht –, müssen wir den Tiger zähmen, bevor er uns tötet. Wir müssen uns vor dem Verlangen hüten, aber die Wut müssen wir überwinden
, denn Wut verletzt nicht nur uns selbst, sondern auch viele andere Menschen. Obwohl die Stoiker oft für ihre strengen Regeln und ihre harsche Disziplin kritisiert werden, ist es genau das, was sie wollen: innere Würde und Anstand, die sie und ihre Lieben vor gefährlichen Leidenschaften schützen.
Offensichtlich war Basketball ein Zufluchtsort für Michael Jordan, ein Spiel, das er liebte und das ihm viel Befriedigung verschaffte. Aber in dem Streben nach Sieg und Überlegenheit verwandelte er das Spiel auch in eine Art rohe, offene Wunde, eine, die unaufhörlich zu bluten schien und unablässig Schmerzen verursachte. Eine Wunde, die ihn wahrscheinlich weitere Jahre erfolgreicher Siege und den einfachen Genuss eines besonderen Abends in der Hall of Fame in Springfield, Massachusetts kostete.
Das kannst du nicht wirklich wollen. So willst du nicht sein.
Deshalb müssen wir uns dafür entscheiden, die Wut zu vertreiben und sie durch Liebe und Dankbarkeit zu ersetzen – und zwar mit einem klaren Ziel. Unsere innere Ruhe hängt von unserer Fähigkeit ab, langsamer zu werden und uns dafür zu entscheiden, nicht
wütend zu werden, uns einen anderen Antrieb zu suchen. Einen Antrieb, der uns hilft zu gewinnen und Dinge zu entwickeln, und der andere Menschen, unser Anliegen oder unsere Chance auf Frieden nicht beeinträchtigt.