W
inston Churchill hatte ein ereignisreiches Leben. Mit 21 Jahren erlebte er zum ersten Mal Kriegsgefechte und schrieb kurze Zeit später seinen ersten Buchbestseller darüber. Mit 26 Jahren wurde er erstmals in ein öffentliches Amt gewählt und stand für die nächsten sechseinhalb Jahrzehnte im Dienst der Regierung. Er schrieb ungefähr zehn Millionen Wörter und über vierzig Bücher, malte mehr als 500 Bilder und hielt im Laufe seines langen Lebens etwa 2300 Reden. Zwischendurch gelang es ihm, die Ämter des Verteidigungsministers, des Ersten Lords der Admiralität, des Schatzkanzlers und natürlich des britischen Premierministers zu bekleiden, wo er dazu beitrug, die Welt vor der drohenden nationalsozialistischen Übermacht zu retten. Um das Ganze noch zu krönen, verbrachte er schließlich seinen Lebensabend damit, gegen totalitäre kommunistische Regimes zu kämpfen.
»Es ist ein Zeitalter der Tat«, schrieb der junge Churchill seiner Mutter, »und wir müssen uns unter die Tätigen mischen.« Man könnte durchaus behaupten, dass Winston Churchill einer der tatkräftigsten Männer der Geschichte überhaupt war. Sein Leben erstreckte sich vom letzten Kavallerieangriff des Britischen Empire, den er 1898 als junger Kriegskorrespondent miterlebte, und bis weit in das Atomzeitalter, ja ins Weltraumzeitalter hinein, die er beide mit einleitete. Seine erste Reise nach Amerika fand auf einem Dampfschiff statt (wo er während der Überfahrt sogar mit Mark Twain Bekanntschaft machte), und seine letzte in einer 800 Kilometer pro Stunde schnellen Boeing 707. Dazwischen lagen zwei Weltkriege, die Erfindung von Auto, Radio und Rock’n’Roll sowie unzählige Herausforderungen und Triumphe.
Ist hier noch innere Ruhe zu finden? Könnte jemand, der so aktiv, so heldenhaft in seiner Arbeit war, der jeden Streit und jede
Belastung annahm, jemals als still oder in sich ruhend beschrieben werden?
Seltsamerweise ja.
So schrieb Paul Johnson, einer der besten Biografen von Churchill: »Die Balance, die er zwischen kompromissloser Arbeit und kreativer und erholsamer Freizeit hielt, ist für jeden, der eine Spitzenposition einnimmt, eine genaue Betrachtung wert.« Johnson hatte als Siebzehnjähriger, Jahrzehnte vor seiner eigenen Karriere als Schriftsteller, Churchill auf der Straße getroffen und ihm zugerufen: »Sir, worauf führen Sie Ihren Erfolg im Leben zurück?«.
Churchill hatte umgehend geantwortet: »Man muss mit den Kräften haushalten. Steh nie, wenn du sitzen kannst, und sitze nie, wenn du liegen kannst.«
Churchill ging sparsam mit seinen Kräften um, damit er keiner Aufgabe aus dem Weg gehen und keine Herausforderung scheuen brauchte. Er achtete darauf, sich trotz aller Arbeit und Taten nie völlig zu verausgaben und nie die Freude am Leben zu verlieren. (In der Tat, wie Johnson bemerkte, bestanden die anderen vier Lektionen in Churchills bemerkenswertem Leben – neben der großen Bedeutung harter Arbeit – darin, sich hohe Ziele zu stecken, sich von Fehlern oder Kritik nicht runterziehen zu lassen, keine Energie auf Missgunst, Heuchelei und Machtspiele zu verschwenden sowie Platz für Lebensfreude zu lassen.) Selbst während des Kriegs verlor Churchill nie seinen Sinn für Humor, verlor nie den Blick für das Schöne in der Welt und wurde nie fahrig oder zynisch.
Unterschiedliche philosophische Schulen und Traditionen bieten unterschiedliche Rezepte für das gute Leben. Die Stoiker forderten Zielstrebigkeit und eisernen Willen. Die Epikureer predigten Entspannung und einfache Freuden. Die Christen sprachen von der Rettung der Menschheit und der Lobpreisung Gottes; die Franzosen von einer gewissen Lebensfreude, der joie de vivre
. Die glücklichsten und widerstandsfähigsten von uns schaffen es, ein wenig von jedem dieser Ansätze in ihr Leben zu integrieren, und das galt sicherlich auch für Churchill. Er war ein Mann von großer Disziplin und Leidenschaft. Er war ein Soldat. Er war ein Büchernarr, er glaubte an Ruhm und Ehre. Ein Staatsmann, im wahrsten Sinne ein Maurer und
Wegbereiter, und ein Maler. Wir sind alle Würmer, scherzte er einmal gegenüber einem Freund – einfache Organismen, die essen und ihren Darm entleeren und sterben, wobei er sich selbst gern als Glühwürmchen
betrachtete.
Neben seinen beeindruckenden intellektuellen Fähigkeiten und mentalen Stärken war Churchill auch überraschenderweise – in Anbetracht seines beträchtlichen Leibesumfangs – ein Meister der dritten und letzten Domäne der inneren Ruhe, der körperlichen.
Kaum jemand hätte vorhersehen können, dass er sich auf diesem Gebiet auszeichnen würde. Churchill war mit einer schwächlichen Konstitution zur Welt gekommen und klagte als junger Mann, dass er »mit einem so schwachen Körper gestraft ist, dass ich den täglichen Anstrengungen kaum etwas entgegenzusetzen habe«. Doch wie Theodore Roosevelt vor ihm entwickelte er in diesem schwachen Körper eine unbezwingbare Seele und einen entschlossenen Geist, mit denen er seine körperlichen Grenzen überwand.
Es ist ein Balanceakt, den jeder, der nach nachhaltigem inneren Frieden strebt, bewältigen muss. Mens sana in corpore sano
– ein gesunder Geist ist in einem gesunden Körper. Denk daran: Wenn wir sagen, jemand »habe viel Herz bewiesen«, sprechen wir nicht von Gefühlen. Wir meinen, diese Person hat Hartnäckigkeit und Schneid an den Tag gelegt. Wenn man darüber nachdenkt, ist die Metapher eigentlich irreführend, denn es ist in Wirklichkeit das Rückgrat
– die Wirbelsäule des Körpers –, das hier die ganze Arbeit übernimmt.
Der junge Churchill liebte das geschriebene Wort, aber er wich vom traditionellen Pfad eines Schriftstellers ab und schloss sich nicht mit Büchern in einer staubigen alten Bibliothek ein. Er setzte seinen Körper in Bewegung. In drei Kriegen diente er oder war Augenzeuge. Er machte sich einen Namen als Chronist der Errungenschaften des Empire, zuerst als Kriegskorrespondent in Südafrika während des Burenkriegs, wo er 1899 in Gefangenschaft geriet und knapp mit dem Leben davonkam.
Im Jahr 1900 wurde er in sein erstes politisches Amt gewählt. Als er 33 Jahre alt war, stellte er fest, dass man wahre Größe nicht allein erreicht, und versprach sich einem anderen Menschen. Er heiratete Clementine, die einen brillanten und beruhigenden Einfluss auf ihn
hatte und seine schlimmsten Eigenschaften ausglich. Es war eine der bemerkenswertesten Ehen jener Zeit – sie nannten sich »Mops« und »Kätzchen« –, geprägt von wahrer Zuneigung und Liebe. »Meine Fähigkeit, meine Frau davon zu überzeugen, mich zu heiraten«, sagte er, war »sicher meine brillanteste Leistung […] Natürlich wäre es für einen normalen Menschen unmöglich gewesen, das zu überstehen, was ich in Frieden und Krieg durchmachen musste, ohne die hingebungsvolle Hilfe dessen, was wir in England die bessere Hälfte nennen.«
So arbeitsam und ehrgeizig Churchill auch war – ein überaus tatkräftiger Mann –, wurde er doch selten hektisch und duldete keine schlechte Organisation. Es nimmt einem fast ein wenig den Spaß, wenn man weiß, dass Churchills berühmte Bonmots und Einzeiler gut vorbereitet und einstudiert waren. Niemand könne ahnen, sagte er, wie viel Arbeit darin stecke, noch wie viel Mühe es koste, sie mühelos wirken zu lassen. »Jeden Abend«, so erzählte er, »gehe ich mit mir selbst ins Gericht, um zu überprüfen, ob ich im Laufe des Tags irgendetwas Sinnvolles gemacht habe. Ich meine, nicht einfach mit den Hufen scharren – das macht jeder automatisch –, sondern etwas wirklich Effektives.«
Als Schriftsteller war er atemberaubend produktiv. Obwohl er ein politisches Amt bekleidete, gelang es Churchill, allein zwischen 1898 und dem Ende des Ersten Weltkriegs sieben Bücher zu veröffentlichen. Wie machte er das? Wie schaffte er es, so viel aus sich herauszuholen? Die einfache Antwort: körperliche Routine.
Jeden Morgen stand Churchill gegen 8 Uhr morgens auf und nahm sein erstes Bad, das er bei 36 Grad bestieg und auf 40 Grad aufheizen ließ, während er im Wasser saß (und gelegentlich plantschte). Frisch gebadet, verbrachte er die nächsten zwei Stunden mit Lesen. Dann erledigte er seine tägliche Korrespondenz, die hauptsächlich seine politischen Aufgaben betraf. Gegen Mittag schaute er zum ersten Mal am Tag bei seiner Frau vorbei, um Hallo zu sagen – er glaubte sein Leben lang, dass das Geheimnis einer guten Ehe darin bestünde, dass sich die Eheleute nicht vor mittags sehen sollten. Dann nahm er das gerade anstehende Schreibprojekt in Angriff – wie etwa einen Artikel, eine Rede oder ein Buch. Bis zum
frühen Nachmittag schrieb er in atemberaubendem Tempo und unterbrach dann seine Arbeit abrupt, um zu Mittag zu essen (für das er sich endlich anzog). Nach dem Mittagessen machte er einen Spaziergang durch Chartwell, sein Anwesen auf dem Land, und fütterte seine Schwäne und Fische – für ihn der wichtigste und angenehmste Teil des Tags. Dann setzte er sich auf die Terrasse, genoss die frische Luft, dachte nach und sinnierte vor sich hin. Er rezitierte vielleicht ein Gedicht, um sich inspirieren zu lassen und innere Ruhe zu finden. Um 15 Uhr war es Zeit für ein Nickerchen. Danach widmete er seine Zeit der Familie und nahm dann noch ein zweites Bad, vor einem späten gemeinsamen Abendessen (nach 20 Uhr). Nach dem Dinner und den Drinks wurde vor dem Schlafengehen noch eine schnelle Schreibsession eingeschoben.
An diese Routine hielt er sich sogar an Weihnachten.
Churchill arbeitete hart und war äußerst diszipliniert – aber ebenso wie wir war auch er nicht perfekt. Er arbeitete häufig mehr, als gut für ihn war, gewöhnlich, weil er mehr Geld ausgab, als nötig war (und er brachte am Schreibtisch einiges hervor, was besser unveröffentlicht geblieben wäre). Churchill war ungestüm, liebte das Glücksspiel und neigte dazu, Schulden zu machen. Es waren nicht die unermüdlich ausgeführten Kriegspflichten, die dazu führten, dass er sich einmal in einer Zeichnung als Schwein mit einer Last von 20 000 Pfund darstellte. Es waren seine Schwächen, die dies verursachten.
Sein Leben war auch keine endlose Serie von Triumphen. Churchill machte viele Fehler, in der Regel waren es durch übermäßigen Stress hervorgerufene Fehlurteile. So kam er mit einer durchwachsenen Bilanz aus dem Ersten Weltkrieg. Sein Dienst in der Kriegsverwaltung war von einigen großen Misserfolgen geprägt, doch konnte er sich durch seinen Rücktritt und den anschließenden Dienst an der Front bei den Royal Scots Fusiliers rehabilitieren. Nach dem Krieg wurde er zum Kriegs- und Luftfahrtminister und anschließend zum Kolonialminister berufen.
Mitte der 1920er-Jahre fungierte Churchill als Schatzkanzler (eine Position, der er überhaupt nicht gewachsen war), während er zugleich einen Vertrag unterschrieb, eine sechsbändige, dreitausend Seiten umfassende Schilderung des Kriegs mit dem Titel
The World Crisis
zu verfassen. Wäre er sich selbst überlassen geblieben, hätte er vielleicht versucht, diese unglaubliche Arbeitslast zu bewältigen. Aber die Menschen um ihn herum erkannten den hohen Preis, den seine Verpflichtungen forderten, und fürchteten, dass er sich überfordern könne. Also drängten sie ihn, ein Hobby zu finden, das ihm ein wenig Freude, Vergnügen und Ruhe bieten könnte. »Erinnern Sie sich daran, was ich über die Erholung von aktuellen Problemen gesagt habe«, schrieb Premierminister Stanley Baldwin an ihn. »Ein großes Jahr steht an und viel hängt davon ab, dass Sie sich fit halten.«
In der für Churchill typischen Art wählte er eine unerwartete Form der Freizeitgestaltung: das Maurerhandwerk. Beigebracht worden war ihm das Handwerk von zwei Arbeitern in Chartwell und er hatte sich sofort in den langsamen methodischen Prozess des Mörtelmischens, Verputzens und Ziegelstapelns verliebt. Im Gegensatz zu seinen anderen beruflichen Tätigkeiten, dem Schreiben und der Politik, erschöpfte die Maurerei seinen Körper nicht, sie stärkte ihn. Churchill konnte bis zu 90 Ziegel in der Stunde legen. So schrieb er 1927 an den Premierminister: »Ich hatte einen wunderbaren Monat, in dem ich ein Häuschen gebaut und ein Buch diktiert habe: 200 Steine und 2000 Wörter pro Tag.« (Er verbrachte auch mehrere Stunden am Tag mit seinen Aufgaben als Minister.) Ein Freund beobachtete, wie gut es für Churchill war, auf dem Boden zu knien und mit der Erde in Kontakt zu kommen. Dies war auch eine kostbare Zeit, die er mit seiner jüngsten Tochter Sarah verbrachte, die pflichtbewusst die Ziegel für ihren Vater trug – eine süße und geliebte Assistentin.
Ein dunkler Moment im Ersten Weltkrieg hatte ihn zudem zu einem anderen Hobby inspiriert: Ölmalerei. Daran herangeführt wurde er von seiner Schwägerin, die, als sie spürte, dass Churchill durch den Stress zu einem Pulverfass wurde, ihm ein kleines Set Farben und Pinsel gab, mit denen ihre kleinen Kinder gern spielten. In einem schmalen Buchband mit dem Titel Painting as a Pastime
– Malerei zum Zeitvertreib – äußerte sich Churchill eloquent über das Vertrauen in neue Aktivitäten, die andere Teile unseres Geistes und
unseres Körpers ansprechen, um jene Bereiche zu entlasten, in denen wir überarbeitet sind. »Die Pflege eines Hobbys und neuer Interessen ist daher eine Vorgehensweise, die für einen Mann der Öffentlichkeit von höchster Bedeutung ist«, schrieb er. »Um wirklich glücklich und wirklich selbstsicher zu sein, sollte man mindestens zwei oder drei Hobbys haben, und sie müssen alle ernst genommen werden.«
Churchill war kein besonders guter Maler (auch seine Maurerarbeiten wurden häufig von Profis verbessert), aber schon ein Blick auf seine Bilder zeigt, wie sehr er die Arbeit genossen haben muss. Es ist in den Pinselstrichen spürbar. »Einfach nur zu malen, macht großen Spaß«, sagte er einmal. »Die Farben sind schön anzusehen und es ist ein Vergnügen, sie auszupressen.« Schon früh wurde Churchill von einem bekannten Maler geraten, nie vor der Leinwand zu zögerlich zu sein (das heißt zu lange nachzudenken
), und er nahm es sich zu Herzen. Er ließ sich von seinem Mangel an Geschick nicht einschüchtern oder entmutigen (nur das könnte die Kühnheit erklären, die nötig war, um eine Maus zu einem unbezahlbaren Gemälde von Peter Paul Rubens hinzuzufügen, das in einer der Residenzen des Premierministers hing). Beim Malen ging es für Churchill um den Ausdruck der Freude. Es war ein Freizeitvergnügen
, keine Arbeit.
Das Malen lehrte den Praktizierenden, wie alle guten Hobbys, ganz im Hier und Jetzt zu sein. »Dieses gesteigerte Gefühl der Naturbeobachtung«, schrieb er, »ist eine der größten Freuden, die ich durch den Versuch zu malen erlangt habe.« Er hatte vierzig Jahre lang auf dem Planeten Erde gelebt, völlig vertieft in seine Arbeit und seinen Ehrgeiz, aber durch die Malerei wurden sein Blick auf die Dinge und seine Wahrnehmung enorm geschärft. Da er gezwungen war, es ruhig angehen zu lassen, wenn er seine Staffelei aufstellte, seine Farben mischte und darauf wartete, dass sie trockneten, sah
er Dinge, die zuvor einfach an ihm vorübergegangen wären.
Dies war eine Fähigkeit, die er bewusst kultivierte – er steigerte so sein mentales Bewusstsein durch körperliche Übungen. Churchill ging in Museen, um sich Bilder anzusehen, dann wartete er einen Tag
und versuchte, sie aus der Erinnerung zu rekonstruieren. Oder er versuchte, eine Landschaft einzufangen, die er gesehen hatte, nachdem er sie hinter sich gelassen hatte. (Das war vergleichbar mit seiner Gewohnheit, Gedichte laut zu rezitieren.) »Die Malerei forderte seinen Intellekt heraus, appellierte an seinen Sinn für Schönheit und Proportion, entfesselte seinen kreativen Impuls und […] brachte ihm Frieden«, bemerkte seine lebenslange Freundin Violet Bonham Carter. Es war auch das Einzige, sagte sie, was Churchill jemals im Stillen tat. Seine andere Tochter Mary beobachtete, dass Malerei und körperliche Arbeit »die besten Mittel gegen das depressive Element in seiner Natur waren«. Churchill war froh, weil er seinen eigenen Gedanken entfliehen und sich körperlich betätigen konnte.
Wie notwendig dies war, stellte sich heraus, als seine eindrucksvolle politische Karriere 1929 plötzlich zu einem scheinbar schmachvollen Ende kam. Churchill, aus dem politischen Leben ausgeschlossen, verbrachte ein Jahrzehnt in Chartwell im Pseudo-Exil, während Neville Chamberlain und eine Generation britischer Politiker der wachsenden Bedrohung durch den Faschismus in Europa die Stirn zu bieten versuchten.
Das Leben kann so gnadenlos sein. Es tritt uns in den Hintern. Alles, wofür wir arbeiten, kann es uns wegnehmen. Alle unsere Kräfte können mit einem Mal wirkungslos werden. Was sich daraus ergibt, ist nicht nur eine Frage des Herzens oder des Verstands, es ist eine echt körperliche Frage: Was machst du nun mit deiner Zeit? Wie gehst du mit so einem Rückschlag um?
Marc Aurels Antwort war, dass man in solchen Situationen »auf die Disziplin, die man kennt, vertrauen und sich von ihr unterstützen lassen muss«. Als Churchill im Jahr 1915 mit der Royal Navy vor Gallipoli kläglich scheiterte, schrieb er, dass er sich fühle wie ein »Meerestier, das aus der Tiefe gefischt wurde, oder wie ein Taucher, der zu plötzlich hochgeholt wurde, meine Venen drohten, durch den Druckabfall zu platzen. Ich hatte große Angst und keine Mittel, um sie zu lindern; ich hatte gewaltige Überzeugungen und geringe Macht, sie zu verwirklichen.« Damals nahm er die Malerei auf, und 1929, als er einen ähnlichen Druckabfall erlebte, disziplinierte er
sich wieder und wandte sich erneut seinen Hobbys zu, um sich zu entspannen und nachzudenken.
Churchill mag sich dessen Mitte der 1930er-Jahre nicht bewusst gewesen sein, aber während der Wiederaufrüstung Deutschlands selbst nicht an der Macht zu sein, war genau richtig. Es erforderte viel Kraft, sich zurückzuhalten und nicht wieder in die Politik einzusteigen, aber wenn er dies getan hätte, wäre er an der Inkompetenz seiner Kollegen in der Regierung gescheitert. Churchill war wahrscheinlich die einzige britische Führungspersönlichkeit, der sich die Zeit nahm und Hitlers Mein Kampf
komplett durchlas und auch die Konsequenzen verstand (wenn Chamberlain das getan hätte, hätte Hitler vielleicht früher gestoppt werden können). Die gewonnene Zeit nutzte Churchill, um aktiv seine Karriere als Buchautor weiterzuverfolgen, sowie als Radiosprecher, dessen Sendungen ihn in Amerika beliebt und berühmt machten (und das Land auf sein späteres Bündnis mit Großbritannien vorbereitete). Zudem verbrachte er Zeit mit seinen Kindern, seinem Goldfisch und seiner Malerei.
Außerdem musste er warten. Zum ersten Mal in seinem Leben, abgesehen von den Nachmittagen auf der Terrasse, musste er nichts
tun.
Wäre Churchill als Außenseiter zurückberufen worden, um Großbritannien in seiner glorreichsten Stunde zu führen, wenn er es in jenen Jahren zugelassen hätte, dass ihn die Demütigung seines politischen Exils übermannte, sich tief in sein Herz grub und er versucht hätte, sich wieder ins Rampenlicht zu kämpfen? Hätte er im Alter von sechsundsechzig Jahren die Energie und Kraft gehabt, das Land zu schultern und zu führen
, ohne jenes vermeintlich »verlorene« Jahrzehnt? Wenn er sein halsbrecherisches Tempo beibehalten hätte?
Das ist ziemlich unwahrscheinlich.
Churchill selbst schrieb, dass jeder Prophet in die Wildnis gezwungen werden sollte – wo er Einsamkeit, Entbehrung, Reflexion und Meditation durchlebt. Aus dieser Feuerprobe, sagte er, entstehe »psychisches Dynamit«. Als Churchill zurückberufen wurde, war er bereit. Er war ausgeruht. Er konnte erkennen, was niemand sonst
konnte oder wollte. Alle anderen kuschten aus Angst vor Hitler, aber nicht Churchill.
Stattdessen kämpfte er. Er stand allein da. So sagte er in einer Rede vor dem Unterhaus:
Auch wenn große Teile Europas und viele alte und berühmte Staaten gefallen sind oder in den Griff der Gestapo und aller verabscheuungswürdigen Instrumentarien der Naziregierung fallen, werden wir nicht nachlassen oder scheitern. Wir werden bis zum Ende gehen, wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen, wir werden mit wachsendem Vertrauen und wachsender Kraft in der Luft kämpfen, wir werden unsere Insel verteidigen, was auch immer es kostet, wir werden an den Stränden kämpfen, wir werden auf den Landungsplätzen kämpfen, wir werden auf den Feldern und auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen. Wir werden uns nie ergeben. Und selbst wenn, was ich nicht für einen Augenblick glaube, diese Insel oder ein großer Teil davon unterjocht und hungern würde, dann würde unser Königreich jenseits der Ozeane, bewaffnet und von der britischen Flotte bewacht, den Kampf weiterführen, bis in Gottes rechter Zeit die neue Welt hervortritt mit all ihrer Stärke und Macht zur Rettung und zur Befreiung der Alten Welt.
Churchill verlangte von seiner eigenen Familie den gleichen Mut. Auf die Frage seiner Schwiegertochter, was sie tun könnten, wenn die Deutschen in Großbritannien einmarschieren würden, knurrte er und antwortete: »Man kann immer ein Tranchiermesser aus der Küche holen und einen mitnehmen, nicht wahr?«
Das britische Empire war selbst auch für verabscheuungswürdige Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gewesen, aber Churchill erkannte das unsagbar Böse, als er es sah, und das war der Nationalsozialismus. Konzentrationslager und Völkermord lagen noch in weiter Ferne, aber Churchill erkannte, dass kein Anführer mit Selbstachtung, dass kein gesittetes Land ein Abkommen mit
Hitler schließen konnte. Auch wenn das einfacher wäre. Selbst wenn es Großbritannien vor einem Einmarsch geschützt hätte. Gleichzeitig achtete er darauf, die mit dem Krieg aufkommenden fanatischen Gefühle in Schach zu halten. »Ich hasse niemanden außer Hitler«, sagte er, »und das von Berufs wegen.«
Churchill war seit dem Tag, an dem Großbritannien im Jahr 1939 Deutschland den Krieg erklärte, bis zum Ende des Kriegs Mitte 1945 ein unermüdliches Arbeitspferd. Während des Kriegs entwarf Clementine einen speziellen Anzug, den ihr Mann tragen und
in dem er schlafen konnte. Sie wurden seine »Alarmanzüge« genannt – obwohl die britische Öffentlichkeit sie liebevoll als seine »Strampler« bezeichnete – und sie ersparten ihm kostbare Minuten beim Anziehen, so dass er seine dringend benötigten Nickerchen machen konnte.
Natürlich war er in diesen Jahren nicht in seinem Gleichgewicht – er arbeitete 110 Stunden die Woche und kam kaum zur Ruhe. Es wird angenommen, dass er allein zwischen 1940 und 1943 110 000 Meilen per Flugzeug, Schiff und Auto zurückgelegt hat. Während des Kriegs hieß es, Churchill sei »unberechenbarer als ein Waldbrand und rastloser als ein Hurrikan«. Aber andererseits hatte er sich für genau diesen Moment ausgeruht – und wenn es möglich war, behielt er seine Routine bei, auch wenn er wie ein Erdhörnchen in der unter der Erde liegenden geheimen Kommandozentrale lebte, in den Cabinet War Rooms. Während des Kriegs fand er nicht viel Zeit für die Malerei, aber wenn er sie fand, tat er es auch. (Ein Gemälde zeigt einen wunderschönen Sonnenuntergang in Nordafrika, für den er nach der Casablanca-Konferenz der alliierten Streitmächte eine fünfstündige Autofahrt auf sich genommen hatte.)
Es ist unwahrscheinlich, dass ein einzelner Mensch jemals mehr getan hat, um die Wertvorstellungen, die der östlichen oder westlichen Zivilisation heilig sind, zu retten oder zu verteidigen. Und wie wurde Churchill für seinen Einsatz gedankt, für alles, was er getan hatte?
Im Jahr 1945 wurde er aus dem Amt gedrängt. Als Clementine diese Nachricht vernahm, versuchte sie, ihren Mann zu trösten, indem sie ihm sagte: »Vielleicht ist das ein Glück im Unglück.« »Ich
kann darin kein Glück erkennen«, antwortete Churchill. Er lag falsch. Sie lag richtig. Wie so oft.
Denn es ermöglichte Churchill nicht nur, den letzten Teil seiner Memoiren, The Second World War
, zu schreiben, in denen er klare Lektionen erteilte, die die Welt hinterher davor bewahrten, sich in den Abgrund zu stürzen, sondern es erlaubte ihm einmal mehr, zur Ruhe zu kommen und seine innere Balance zu finden. Wir können ihn auf Fotos sehen, wie er 1948 in Marrakesch malt und in den 1950ern in Frankreich. Insgesamt malte er in seinem Leben 550 Bilder, 145 davon nach dem Krieg.
Es war am Ende ein Leben voller Kämpfe und Opfer, die ihm oftmals nicht gedankt und missverstanden wurden. Ein ereignisreiches Leben, für das er jedoch einen hohen persönlichen Preis zahlte. Die gleichen Aufgaben und Pflichten hätten ein Dutzend normaler Menschen überfordert und ausgebrannt.
»War es das wert?«, hatte ein müder Held in Churchills einzigem Roman gefragt. »Der Kampf, die Arbeit, der ständige Druck und so viele Dinge zu opfern, die das Leben angenehm und leicht machen – wofür?« Er schrieb das, als er jung war, voller Tatendrang und Ehrgeiz, aber seine politische Karriere noch nicht wirklich begonnen hatte. Vor ihm lagen 55 Jahre im Parlament, davon 31 Jahre als Minister und 9 Jahre als Premierminister. Die vor ihm liegenden Jahre sollten ihm den wahren Sinn des Lebens zeigen und was es bedeutet, wirklich für die wichtigen Dinge zu kämpfen, die Dinge, die zählen. Er erlebte sowohl Triumphe als auch bittere Niederlagen. Und gegen Ende seines Lebens wurde ihm bewusst, dass es sich gelohnt hatte – und sicherlich sind wir alle, die wir heute leben, dankbar für seinen Einsatz.
In der Tat bestätigten Churchills letzte Worte dies:
Die Reise war ein Vergnügen und hat sich gelohnt – dies eine Mal zumindest!
Epikur sagte einmal, dass weise Menschen drei Dinge in ihrem Leben erreichen sollten: Sie hinterlassen ein schriftliches Werk, sie wirtschaften umsichtig und sorgen für die Zukunft vor und sie genießen das Leben auf dem Land. Das heißt, wir sollen nachdenken,
verantwortungsvoll und bescheiden sein und Zeit finden, uns in der Natur zu erholen. Man kann nicht behaupten, dass Churchill diese drei Dinge nicht gut umgesetzt hat (selbst wenn er zugab, dass er sie nur ausgelebt hat, wenn er es sich leisten konnte).
Vergleichen wir die Beschreibung einmal mit den drei Worten, mit denen Aristoteles das Leben der Sklaven zu seiner Zeit beschrieben hat: »Arbeit, Strafe und Nahrung.«
An welchen dieser Dinge sind wir in der modernen Welt näher dran? Welche von diesen sind der Weg zu Lebensglück und innerer Ruhe?
Niemand kann es sich leisten, diesen letzten Bereich auf unserem Weg zur inneren Ruhe zu vernachlässigen. Was wir mit unserem Körper machen. Was wir in
unseren Körper stecken. Wo wir leben. Welche Art von Routine und Zeitplan wir einhalten. Wie wir Freizeit und Entspannung finden.
Wenn wir nur halb so produktiv sein wollen wie Churchill und es schaffen, die gleiche Freude und Begeisterung und Gelassenheit zu gewinnen, die sein Leben prägten, gibt es Eigenschaften, die wir kultivieren müssen. Jeder von uns sollte
-
über seine körperlichen Grenzen hinauswachsen.
-
Hobbys pflegen, um sich zu entspannen und zu regenerieren.
-
eine zuverlässige und disziplinierte Routine entwickeln.
-
aktiv Zeit im Freien verbringen.
-
Einsamkeit suchen und neue Sichtweisen ausfindig machen.
-
Lernen zu sitzen – nichts zu tun, wenn es nötig ist.
-
genug schlafen und seine Arbeitssucht zügeln.
-
sich zu größeren Zielen als sich selbst bekennen.
Wie heißt es so schön: Der Körper merkt sich alles. Wenn wir uns nicht gut um unseren Körper kümmern, wenn wir nicht richtig im Einklang mit uns selbst sind, spielt es keine Rolle, wie stark wir geistig oder mental sind.
Das wird Mühe kosten. Weil wir uns nicht einfach unseren Weg zur inneren Ruhe herbeidenken
können. Wir können einen besseren Zustand unserer Seele nicht herbeibeten. Wir müssen in Bewegung
bleiben und darauf hinleben. Es wird unseren Körper – unsere Gewohnheiten, unsere Handlungen, unsere Rituale, unsere Selbstfürsorge – beanspruchen, um unseren Geist und unsere Seele am rechten Platz zu haben, so wie es unseren Geist und unsere Seele braucht, um unseren Körper am rechten Platz zu haben.
Es ist eine Trinität. Etwas Heiliges. Jeder Teil hängt mit den anderen beiden zusammen.