GEH SPAZIEREN
Nur die Ideen, die man beim Wandern hat, sind wirklich etwas wert.
FRIEDRICH NIETZSCHE
F ast jeden Abend konnten die Einwohner von Kopenhagen dem kuriosen Schauspiel zusehen, wenn Søren Kierkegaard durch die Straßen spazierte. Der streitlustige Philosoph schrieb meist morgens an seinem Stehpult und gegen Mittag begab er sich dann in die geschäftigen Straßen der Stadt.
Er spazierte auf den neu eingeführten Fußgängerwegen, die gerade erst für den modernen Bürger als Flaniermeile entworfen worden waren. Er spazierte durch die Parks der Stadt und entlang der Wege des Assistens Friedhofs, auf dem er selbst später begraben wurde. Ab und an lief er über die Stadtgrenzen hinaus und in die ländliche Umgebung. Kierkegaard schien nie geradeaus zu laufen – er lief hin und her, überquerte die Straßen, ohne nach links oder rechts zu sehen, immer in dem Bemühen, im Schatten zu bleiben. Wenn er sich entweder müde gelaufen hatte oder aber das Problem, mit dem er sich gerade beschäftigte, sich gelöst hatte, oder wenn er einen Geistesblitz hatte, kehrte er um und lief nach Hause, wo er dann für den Rest des Tags weiterschrieb.
Den Einwohnern von Kopenhagen war es eine besondere Überraschung, Kierkegaard so bei seinen Spaziergängen zu sehen, weil er – zumindest, wenn man von seinen Schriften ausging – solch ein angespannter Mensch zu sein schien. Und sie hatten recht: Das Spazieren war sein Weg, um den Stress und die Frustrationen abzubauen, die seine philosophischen Erkundungen zwangsläufig verursachten.
In einem wunderschönen Brief an seine Schwägerin, die oft bettlägerig und in Folge dessen depressiv war, beschrieb Kierkegaard, wie wichtig ihm das Spazieren war. »Vor allem«, so schrieb er 1847, »solltest du nicht deinen Wunsch nach einem Spaziergang verlieren: Jeden Tag laufe ich so lange, bis es mir gut geht und ich entferne mich dabei von jeder Krankheit; ich bin durch das Laufen auf meine besten Gedanken gekommen und ich kenne keine noch so belastenden Gedanken, die man nicht wegspazieren kann.«
Kierkegaard war der Meinung, dass das Stillsitzen eine Brutstätte für Krankheiten sei. Doch das Laufen, die Bewegung , waren ihm nahezu heilig. Es reinigte die Seele und pustete ihm das Gehirn frei, sodass er sich dann ganz seinen philosophischen Gedankengängen widmen konnte. Das Leben ist ein Pfad, sagte er oft: Wir müssen ihn gehen.
Auch wenn Kierkegaard sich in seinen Schriften besonders viel und eloquent über das Laufen äußerte, war er mitnichten der Einzige, der sich dieser Übung so überzeugt verschrieben hatte – und auch nicht der Einzige, der davon so stark profitierte. Nietzsche sagte, die Ideen zu Also sprach Zarathustra seien ihm bei einem langen Spaziergang in den Sinn gekommen. Nikola Tesla entdeckte das rotierende Magnetfeld, eine der wichtigsten naturwissenschaftlichen Entdeckungen aller Zeiten, während er 1882 durch einen Stadtpark in Budapest lief. Als er in Paris lebte unternahm Ernest Hemingway immer dann lange Spaziergänge entlang der Quais an der Seine, wenn er mit dem Schreiben nicht mehr weiterkam und seine Gedanken klären musste. Charles Darwin hatte Spaziergänge als festen Punkt seiner täglichen Routine – ebenso wie Steve Jobs und die wegweisenden Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman. Letzterer stellte fest: »Die besten Gedanken meines ganzen Lebens hatte ich bei gemächlichen Spaziergängen mit Amos.« Kahneman betonte, dass es die physische Aktivität seines Körpers sei, die sein Gehirn in Gang brachten.
Als Martin Luther King Jr. als Seminarist in Crozer studierte, lief er jeden Tag eine Stunde durch den Wald am Campus, um »mit der Natur« zu kommunizieren. Walt Whitman und Ulysses S. Grant begegneten einander häufig auf ihren jeweiligen Spaziergängen außerhalb Washingtons, die sie unternahmen, um einen klaren Kopf zu bekommen und besser nachdenken zu können. Vielleicht war es dieses Erlebnis, über das Whitman dann in »Song of Myself« folgende Zeilen schrieb:
Kennst du die Freuden versonnener Gedanken? Freuden des freien und einsamen Herzens, des zärtlichen, des düsteren Herzens? Freuden des einsamen Wanderns, den Geist gebückt doch stolz, das Leiden und das Kämpfen?
Freud war bekannt dafür, dass er nach dem Abendmahl flotten Schritts die Wiener Ringstraße entlangzulaufen pflegte. Der Komponist Gustav Mahler lief bis zu vier Stunden am Tag und benutzte diese Zeit, um seine Arbeit durchzugehen und Ideen zu notieren. Ludwig van Beethoven führte aus demselben Grund bei seinen Spaziergängen immer Notenblätter und Schreibmaterialien mit sich. Dorothy Day liebte das Laufen ihr ganzes Leben lang – als sie in den 1920ern am Strand von Staten Island spazieren ging, spürte sie zum ersten Mal die starke Präsenz Gottes in ihrem Leben und die ersten Funken jener Erleuchtung, die sie dann auf den Pfad zur späteren Seligsprechung lenkten. Es ist sicher kein Zufall, dass Jesus Christus selbst ein Wanderer – ein Reisender – war, der wusste, wie himmlisch und erquickend es sein konnte, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Wie kann das Laufen uns der Ruhe näherbringen? Ging es nicht die ganze Zeit darum, dass wir unsere Aktivitäten reduzieren wollen, anstatt sie noch zu forcieren? Ja, wir bewegen uns, wenn wir laufen, aber es ist keine Hast darin, ja es ist noch nicht einmal eine sehr bewusste Bewegung – sie wiederholt sich, ist wie ritualisiert. Sie ist bedacht. Sie ist eine Übung im Frieden.
Die Buddhisten sprechen von einer »bewegten Meditation«, auch kinhin, wobei die Bewegung nach einer langen Phase des Sitzens, besonders Bewegung durch eine als schön empfundene Umgebung, eine andere Art der Stille und der inneren Ruhe hervorrufen kann als die traditionelle Meditation. Tatsächlich kann man etwa ein Bad im Wald – und den Großteil natürlicher Schönheit – nur erreichen, wenn man sein Haus, sein Büro oder sein Auto verlässt und zu Fuß hinauswandert, in den Wald.
Der Schlüssel zu einem guten Spaziergang liegt darin, dass man aufmerksam ist. Dass man vollkommen anwesend ist und offen für die Erfahrung. Steck dein Telefon weg. Schieb die drängenden Probleme in deinem Leben zur Seite oder, besser noch, lass sie dahinschmelzen, während du dich bewegst. Blick auf deine Füße. Was tun sie? Fällt dir auf, wie mühelos sie sich bewegen? Liegt das an dir? Oder bewegen sie sich irgendwie wie von selbst? Hörst du, wie die Blätter unter deinen Schuhen rascheln? Spürst du, wie der Boden gegen dich drückt?
Atme ein. Atme aus. Denk darüber nach, wer vielleicht vor vielen Hundert Jahren auch genau hier langgelaufen sein könnte. Stell dir vor, wer wohl den Weg, auf dem du stehst, geebnet hat. Was ging wohl in dessen Leben vor? Wo sind diese Menschen jetzt? Woran glaubten sie? Welche Probleme hatten sie?
Wenn du das Gefühl hast, dass die vielen Dinge, um die du dich kümmern musst oder dein Verlangen nach Kontakt mit der Welt dich zurückhalten, dann geh dagegen an und lauf noch ein Stückchen weiter. Wenn du einen Weg entlanggehst, den du schon kennst, nimm eine Abzweigung, die du noch nicht kennst – den Berg hoch oder ins Tal hinunter. Spüre dem Unbekannten nach, wie neu sich diese Umgebung jetzt anfühlt, sauge das in dir auf, was dir bis jetzt noch unbekannt war.
Verlier dich. Sei unerreichbar. Beweg dich langsam .
Dies ist ein Luxus, den sich jeder leisten kann und der jedem zur Verfügung steht. Selbst der ärmste Bettler kann einen schönen Spaziergang machen – in einem öffentlichen Park oder einer einsamen Straße.
Hier geht es nicht darum, Kalorien zu verbrennen oder den Puls zu steigern. Im Gegenteil, hier geht es darum, gar nichts zu erreichen. Es ist bloß eine Manifestation, eine Verkörperung von Konzepten der Anwesenheit. Es geht darum loszulassen, seinen Kopf freizubekommen, die Schönheit der Welt, in der wir uns bewegen, wahrzunehmen und wertzuschätzen. Beweg dich weg von den Gedanken, von denen du Abstand brauchst – geh zu auf die Gedanken, die gerade neu aufgetaucht sind.
Bei einem guten Spaziergang ist das Gehirn nicht völlig leergefegt. Das kann es auch gar nicht, denn sonst würde man über eine Wurzel stolpern oder von einem Auto oder Fahrrad angefahren. Es geht hier nicht, wie etwa bei der traditionellen Meditation, darum, jeden Gedanken oder jede Beobachtung auszublenden. Im Gegenteil: Hier geht es darum, wahrzunehmen, was um einen herum ist. Dabei ist dein Gehirn zwar aktiv, aber es bleibt innerlich ruhig. Wenn man es richtig macht, entwickelt man eine andere Art zu denken, eine, die gesünder ist. Eine Studie der New Mexico Highlands University hat nachgewiesen, dass die Kraft unserer Schritte die Blutzufuhr im Gehirn erhöhen kann. Forscher der Stanford University haben herausgefunden, dass Menschen, die viel gehen, in Tests, die »kreatives, abweichendes Denken« messen, sowohl während als auch nach den Spaziergängen besser abschneiden. Eine Studie der Duke University konnte eine Variante dessen nachweisen, was schon Kierkegaard seiner Schwägerin zu raten versucht hatte: Laufen kann sich bei manchen Patienten mit Depressionen als ebenso effektiv erweisen wie Medikamente.
Der Dichter William Wordsworth ist in seinem Leben fast 300 000 Kilometer gelaufen – im Schnitt zehn Kilometer am Tag, seit er fünf Jahre alt war! Viele seiner Kompositionen entwickelte er während des Laufens, üblicherweise in der Nähe von Grasmere, einem See im Lake District in Nordengland, oder am nahe gelegenen Rydal Water. Wenn ihm während dieser langen Wanderungen ein Gedicht in den Sinn kam, wiederholte Wordsworth die Zeilen immer und immer wieder, denn es konnte noch Stunden dauern, bis er die Gelegenheit bekäme, sie aufzuschreiben. Seine Biografen haben sich seitdem immer wieder die Frage gestellt: War es die Landschaft, die ihn zu den Bildern in seinen Gedichten inspirierte oder war es die körperliche Bewegung, die seine Gedanken befeuerte? Jeder Normalsterbliche, der während eines Spaziergangs schon einmal einen Geistesblitz hatte, weiß, dass diese beiden Kräfte gleichermaßen verantwortlich sind und dieses Wunder gemeinsam bewirken.
Es kann uns nichts schaden, auf unserer eigenen Suche nach Schönheit und dem Guten im Leben nach draußen zu gehen und ein wenig herumzuwandern. Wenn wir das Ziel haben, einen Zugang zu den tieferen Ebenen unseres Bewusstseins und den höheren Ebenen unseres Geistes zu erlangen, sind wir gut beraten, wenn wir unseren Körper in Bewegung setzen und unser Blut in Wallung bringen.
Stress und Schwierigkeiten können uns in die Knie zwingen. Wir sitzen am Computer, werden mit Information überfrachtet, mit E-Mails, mit laufend neuen Aufgaben. Sollen wir einfach sitzenbleiben und das alles aufnehmen? Sollen wir hier sitzen und uns schlecht fühlen und dieses Übel noch wachsen lassen? Nein. Sollen wir uns aufraffen und uns in irgendein anderes Projekt stürzen, etwas, das konstruktiv ist – wie Putzen –, oder kathartisch, wie eine Prügelei? Nein. Wir sollten keines von beidem tun.
Wir sollten loslaufen.
Kierkegaard erzählt, wie er eines Morgens vor lauter Verzweiflung und Frustration – er nannte das eine Krankheit – aus dem Haus lief. Nach eineinhalb Stunden hatte er endlich seinen inneren Frieden gefunden und war fast wieder zu Hause angekommen, als er auf einen freundlichen Herrn stieß, der unentwegt über seine diversen Probleme redete. Ist das nicht meistens so?
Macht nichts. »Für mich gab es hier nur noch eines zu tun«, schreibt Kierkegaard. »Anstatt nach Hause zu gehen, musste ich noch einmal eine Runde spazieren gehen.«
Und das müssen wir auch: laufen. Und noch mehr laufen.