GEWÖHN DIR EINE ROUTINE AN
Wenn ein Mensch auch nur ein Mindestmaß
an Anstrengung in die Einhaltung eines Rituals
und der Grundsätze der Rechtschaffenheit investiert,
erhält er doppelt so viel zurück.
XUNZI
J eden Morgen wachte Fred Rogers um 5 Uhr morgens auf und verbrachte eine Stunde damit, in Ruhe nachzudenken und zu beten. Dann ging er in den Pittsburgh Athletic Club, wo er seine morgendlichen Runden schwimmen wollte. Auf dem Weg zum Pool stellte er sich jedes Mal auf die Waage – es war wichtig, dass sein Gewicht stets 65 Kilo betrug – und wenn er ins Wasser sprang, sang er »Jubilate Deo« vor sich hin. Er stieg jeden Tag aus dem Pool, als wäre er gerade getauft worden, erfrischt und bestens vorbereitet auf den vor ihm liegenden Arbeitstag.
Sobald er zum Set seiner Fernsehsendung kam, begann der nächste Teil des Rituals, das Jahr für Jahr in Hunderten von Episoden in gleicher Manier für die Nachwelt aufgezeichnet wurde. Der Titelsong ertönt. Das gelbe Ampellicht blinkt. Die Kamera schwenkt auf die Eingangstür. Mr Rogers tritt ein und kommt singend die Treppe herunter. Er zieht seine Anzugjacke aus und hängt sie ordentlich in den Garderobenschrank. Er streift sich eine Strickjacke über – die seine Mutter für ihn gemacht hat – und zieht den Reißverschluss hoch. Dann zieht er seine Schuhe aus und schlüpft in ein Paar bequeme Puschen. Jetzt, und erst jetzt, fängt er an zu reden und seinen Lieblingsmenschen in dieser Welt – den Kindern, die seine Sendung Mr. Rogers’ Neighborhood schauen – etwas beizubringen.
Einigen mag das monoton erscheinen. Tag für Tag die gleiche Routine, die weit über das »Cut!« am Ende jeder Sendung hinausging, bis hin zum Mittagschlaf, dem gemeinsamen Abendessen mit der Familie und einer ewig gleichen Bettzeit um 21:30 Uhr. Ein konstantes Körpergewicht. Das gleiche Essen. Der gleiche Beginn jeden Tags. Und das gleiche Ende. Klingt das langweilig? Die Wahrheit ist, dass eine gute Routine nicht nur eine Quelle für große Zufriedenheit und Stabilität ist, sondern auch die Plattform, von der aus eine anregende und erfüllende Arbeit möglich ist.
Eine Routine, die lange genug und mit Ernsthaftigkeit praktiziert wird, ist mehr als nur Routine. Sie wird zum Ritual – zu etwas Heiligem.
Vielleicht interessiert Mr Rogers dich nicht. Vielleicht schaust du dir lieber den langjährigen All-Star-Basketballer und Aufbauspieler Russell Westbrook an, der seine Routine exakt drei Stunden vor dem Anwurf eines Spiels beginnt. Zuerst wärmt er sich auf. Dann, eine Stunde vor dem Spiel, geht er in die Kapelle des Stadions. Danach isst er ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade (immer ein gebuttertes Weißbrottoast, Erdbeermarmelade, Skinny Erdnussbutter, in Dreiecke geschnitten). Genau sechs Minuten und 17 Sekunden vor dem Spiel beginnt er das letzte Aufwärmtraining mit der Mannschaft. Er hat besondere Schuhe für die Spiele, für das Training und für das Spielen auf der Straße. Seit der Highschool macht er immer genau dasselbe, wenn er einen Freiwurf bekommt: Er tritt ein paar Schritte von der Drei-Punkte-Linie zurück und geht dann für den nächsten Wurf wieder ein paar Schritte nach vorn. Auf dem Trainingsgelände hat er einen speziellen Parkplatz, und er zieht es vor, stets auf Trainingsplatz 3 zu üben. Er ruft seine Eltern jeden Tag zur selben Zeit an. Und so weiter und so fort.
Die Sportwelt ist voll von Geschichten wie die von Westbrook. Häufig sind Torhüter beim Hockey, Werfer beim Baseball, Quarterbacks und Kicker beim Football darunter – meistens Spieler in Schlüsselpositionen in den jeweiligen Sportarten. Spieler, die diese Art von Verhalten entwickeln, werden als schrullig bezeichnet und ihre Routinen als Aberglauben. Es erscheint uns seltsam, dass solche erfolgreichen Menschen, die mehr oder weniger ihr eigener Chef sind und zweifellos sehr talentiert, in der Reglementierung ihrer Routinen gefangen zu sein scheinen. Ist es nicht der Sinn von Größe, dass man von trivialen Regeln und Vorschriften befreit ist? Dass man tun kann, was man will?
Die Sache ist aber so: Große Persönlichkeiten wissen, dass komplette Freiheit ein Albtraum ist. Sie wissen, dass Ordnung eine Voraussetzung für hervorragende Leistungen ist und dass in einer unberechenbaren Welt gute Gewohnheiten ein sicherer Hafen sind, um zu überzeugen.
Eisenhower definierte Freiheit als die Möglichkeit zur Selbstdisziplin. Tatsächlich erfordern Freiheit, Macht und Erfolg Selbstdisziplin. Denn ohne sie ziehen Chaos und Selbstgefälligkeit ein. Disziplin ist also ein Mittel, um diese Freiheit zu bewahren.
Es geht auch darum, in die richtige geistige Verfassung zu kommen, um unsere Arbeit zu erledigen. Der Schriftsteller und Läufer Haruki Murakami erklärt, warum er jeden Tag derselben Routine folgt: »Die Wiederholung als solche ist das Wichtige«, sagt er, »es ist eine Form der Hypnose. Ich hypnotisiere mich selbst, um ein tieferes Bewusstsein zu erreichen.«
Wenn unsere Gedanken sich gelöst haben und unser Körper wie von selbst funktioniert, machen wir unsere Arbeit am besten.
Eine Routine kann auf Zeit basieren. Jack Dorsey, der Gründer und Geschäftsführer von Twitter, steht um 5 Uhr morgens auf, ohne Ausnahme. Der ehemalige Navy Seal Jocko Willink steht um 4.30 Uhr auf und postet jeden Morgen ein Bild von seiner Uhr, um es zu beweisen. Königin Victoria wachte um 8 Uhr auf, frühstückte um 10 und traf sich zwischen 11 Uhr und 11.30 Uhr mit ihren Ministern. Der Dichter John Milton stand um 4 Uhr morgens zum Lesen und Nachdenken auf, so dass er um 7 Uhr morgens bereit war, sich seinem Schreiben hinzugeben.
Eine Routine kann sich auch auf Ordnung oder eine bestimmte Anordnung konzentrieren. Konfuzius bestand darauf, dass seine Matte gerade lag, sonst setzte er sich nicht. Jim Schlossnagle, der Baseballtrainer, der das Team der Texas Christian University übernahm, nachdem es eine ganze Reihe mittelmäßiger Spiele absolviert hatte, brachte seinen Spielern bei, ihre Spinde sowie den Unterstand jederzeit makellos sauber und ordentlich zu halten (seitdem hat das Team keine schlechte Saison mehr gehabt und es viermal in Folge in die College World Series geschafft). Die richtige Anordnung spielt auch für Tennischampion Rafael Nadal eine Rolle, der während eines Spiels Wasser und einen Fitnessdrink immer in derselben Reihenfolge trinkt und die Flaschen dann wieder genauso hinstellt wie vorher.
Routine kann um ein Arbeitsgerät, einen Klang oder einen Duft herum aufgebaut werden. Rilke hatte zwei Schreibstifte und zwei Sorten Papier auf seinem Schreibtisch; eine wurde zum Schreiben verwendet, während die andere für Rechnungen, Briefe und weniger wichtige Dokumente geeignet war. Mönche werden durch das Läuten einer Klosterglocke zur Meditation gerufen; andere Mönche reiben sich vor Zeremonien und Meditationen das Duftpulver Zukoh auf die Hände.
Eine Routine kann auch religiöser Natur sein oder auf dem Glauben basieren. Konfuzius brachte vor jedem Essen eine Opfergabe dar, egal wie unbedeutend die Mahlzeit war. Die Griechen konsultierten vor jeder wichtigen Entscheidung das Delphische Orakel und brachten ihm vor dem Kampf Opfer dar. Die Juden haben sich seit Tausenden von Jahren an den Sabbat gehalten, sagte Ahad Ha’am einmal, so wie der Sabbat an sich die Juden erhalten hat.
Wenn eine Routine oft genug durchgeführt wird, mit Ernsthaftigkeit und Hingabe, wird sie zum Ritual. Die Regelmäßigkeit – der tägliche Rhythmus – erzeugt tiefgehende und sinnvolle Erfahrungen. Für manche Menschen ist die Pflege eines Pferds eine lästige Pflicht. Für Simón Bolívar war sie ein heiliger, wesentlicher Bestandteil seines Lebens. Wenn der Körper mit dem Vertrauten beschäftigt ist, kann sich der Geist entspannen. Die Monotonie prägt sich ein und führt zum Muscle-Memory-Effekt. Von der Routine abzuweichen, erscheint einem als gefährlich und falsch. Als ob man das Scheitern geradezu heraufbeschwört.
Manche mögen sich über diese »abergläubischen« Verhaltensweisen lustig machen, aber es so zu betrachten, ist falsch. So erklärte etwa Rafael Nadal: »Wenn es Aberglaube wäre, warum würde ich dann immer wieder Dasselbe tun, egal, ob ich gewinne oder verliere? Es ist eine Art, mich in ein Spiel hineinzuversetzen und meine Umgebung so anzuordnen, dass sie der Ordnung entspricht, die ich in meinem Kopf suche.« Glaubten die Griechen wirklich, dass das Orakel von Delphi ihnen sagen könnte, was sie tun sollten? Oder ging es in Wirklichkeit um den Befragungsprozess, die Reise zum Berg Parnassus?
Soziologen haben herausgefunden, dass Inselstämme eher dazu neigen, Rituale für Aktivitäten zu schaffen, bei denen Glück ein wichtiger Faktor ist, als bei anderen Aktivitäten, wie etwa das Fischen auf offenem Meer im Vergleich zum Fischen in einer Lagune. Die Wahrheit ist, dass für uns immer Glück im Spiel ist. Glück ist immer ein Faktor.
Der Zweck eines Rituals ist nicht, die Götter für uns zu gewinnen (obwohl das nicht schaden kann!). Es geht darum, unseren Körper (und unseren Geist) zu beruhigen, wenn uns auf der anderen Seite des Spielfelds das Schicksal gegenübersteht.
Die meisten Menschen wachen auf und betrachten den Tag als eine endlose Flut von verwirrenden und überwältigenden Entscheidungen, eine direkt nach der anderen. Was soll ich anziehen? Was soll ich essen? Was soll ich zuerst tun? Was soll ich danach tun? Welcher Arbeit soll ich mich widmen? Soll ich erst dieses Problem lösen oder erst jenen Brand löschen?
Unnötig zu erwähnen, dass das enorm anstrengend ist. Es ist ein Wirbelwind aus widersprüchlichen Impulsen, Anreizen, Neigungen und Ablenkungen von außen. Es ist garantiert kein Weg, um zur Ruhe zu kommen, und nicht der Weg, das Beste aus sich herauszuholen.
Der Psychologe William James empfahl, Gewohnheiten zu unserem Verbündeten und nicht zu unserem Feind zu machen. Dass wir unsere Tage und unser Leben so gestalten, dass es moralisch, geordnet und ruhig ist – so könnten wir eine Art Bollwerk gegen das Chaos der Welt schaffen und für die anstehenden Aufgaben das Beste aus uns herausholen.
Dazu müssen wir so früh wie möglich so viele nützliche Verhaltensweisen wie möglich automatisieren und einstudieren und uns davor hüten, uns auf eine Weise zu entwickeln, die für uns von Nachteil sein könnte. Je mehr Dinge unseres täglichen Lebens wir mühelos dem Automatismus überlassen können, desto eher sind wir zu geistigen Höchstleistungen fähig. Es gibt kaum einen armseligeren Menschen als den, bei dem nur Unentschlossenheit die Gewohnheit ist, und bei dem das Anzünden jeder Zigarette, das Trinken jedes Kaffees oder Tees, die tägliche Zeit des Aufstehens und Zubettgehens und der Beginn jeder Arbeit zum Gegenstand einer ausdrücklichen Willensbekundung wird.
Wenn wir nicht nur die banalen Dinge des Lebens automatisieren und zur Routine machen, sondern auch automatisch gute und vorbildliche Entscheidungen treffen, setzen wir Ressourcen frei, um wichtige und sinnvolle Erkenntnisse zu gewinnen. Wir schaffen Raum für Frieden und innere Ruhe und ebnen so unweigerlich den Weg zu guter Arbeit und guten Gedanken.
Um dies zu ermöglichen, musst du zuerst dein Haus (oder deine Wohnung) aufräumen. Mach dir für diesen Tag einen genauen Zeitplan. Lass dich möglichst nicht unterbrechen, und begrenze die Zahl der Entscheidungen, die du treffen musst.
Wenn du das hinbekommst, werden dir Lust und Unruhe weniger Ärger bereiten. Denn die hast du gut abgeblockt.
Als Inspiration solltest du dir japanische Floristen zum Vorbild nehmen: Ordentlich. Ruhig. Fokussiert. Sauber. Frisch. Bewusst. Du wirst sie kaum in einem lauten Café antreffen, denn dort können sie ihr Handwerk nicht verrichten, und auch nicht mit geröteten Augen um 3 Uhr morgens, weil sie ihre Zeit schlecht geplant haben. Niemals würden sie die Gartenschere aus Jux und Tollerei an eine Pflanze anlegen und ebenso wenig würdest du sie jemals in Unterwäsche antreffen, wie sie mit einem alten Freund telefonieren. Dass hieße, zu viele Dinge dem Zufall zu überlassen, und das wäre für einen wahren Meister zu chaotisch.
Ein Meister hat alles unter Kontrolle. Ein Meister hat ein System. Ein Meister verwandelt das Gewöhnliche in etwas Außergewöhnliches, etwas Heiliges. Das sollten auch wir anstreben.