SUCH DIE EINSAMKEIT
In einer überfüllten Welt denkt jeder,
allein zu sein sei gleichbedeutend
mit Einsamkeit und dass es pervers sei,
danach zu streben.
JOHN GRAVES
E s gehörte zu den Gewohnheiten Leonardo da Vincis, sich selbst kleine Fabeln in sein Notizbuch zu schreiben. Die eine handelt von einem recht großen Stein, der in einem sehr hübschen Wäldchen lag, umringt von Blumen und mit Blick auf eine belebte Landstraße. Trotz seiner friedlichen Existenz wurde der Stein rastlos. »Was mache ich hier, zwischen all diesen Kräutern?«, dachte er sich. »Ich will in der Gesellschaft anderer Steine leben, die so sind wie ich.«
So unglücklich und einsam war der Stein, dass er beschloss, den Hügel hinunter und auf die Straße zu rollen, wo er unter zahlreichen anderen Steinen sein würde. Doch diese Veränderung war nicht ganz so wunderbar, wie er erwartet hatte. Unten, im Straßendreck, wurde der Stein von Pferden getreten, von Wagen überrollt, von Menschen getrampelt. Der Stein war voller Matsch und Fäkalien, ihm wurden Stückchen abgeschlagen, er wurde dauernd angestoßen und weiterbewegt – diese schmerzhaften Augenblicke waren umso schlimmer, als dass der Stein ab und zu sein altes Zuhause und den einsamen Frieden erblickte, den er zurückgelassen hatte.
Doch Leonardo wollte die Geschichte nicht so belassen, sondern wollte noch genauer darauf eingehen. »Das passiert«, schrieb er – für sich selbst und uns alle – »all denen, die das einsame und kontemplative Leben hinter sich lassen und es vorziehen, in der Stadt zu leben, mit all diesen Menschen und zahllosen Übeln.«
Natürlich wiesen die Biografen von Leonardo immer wieder darauf hin, dass der Autor sich selbst ja auch nicht an die Moral seiner Fabel gehalten habe. Er verbrachte den Großteil seines Lebens in Florenz, Mailand und Rom. Er malte in einer sehr betriebsamen Werkstatt, er besuchte jede Menge Veranstaltungen und Festivitäten. Selbst in seinen letzten Jahren lebte er nicht in einsamer Zurückgezogenheit, sondern am Hofe des französischen Königs Franz I.
Sein Beruf erforderte das. So geht es vielen von uns.
Darum ist es umso wichtiger, die Augenblicke der Einsamkeit zu kultivieren. Es geht darum, eine Einsamkeit zu finden, so wie sie laut Eugen Herrigel von den Buddhisten ausgeübt wird: »nicht weit weg an irgendwelchen menschenleeren Orten; die Einsamkeit schöpft er aus sich selbst heraus, er verbreitet sie um sich, wo immer er auch ist, weil er sie liebt.«
Als Leonardo an seinem Abendmahl arbeitete, stand er regelmäßig früh auf und ging schon vor seinen Gehilfen oder den Schaulustigen ins Kloster, damit er allein sein konnte, in Ruhe, nur mit seinen Gedanken und der gigantischen schöpferischen Aufgabe, die vor ihm lag. Er war auch bekannt dafür, dass er die Werkstatt verließ und allein lange Spaziergänge unternahm, wobei er stets ein Notizheft dabeihatte und sich einfach nur umsah, alles anschaute und beobachtete, um zu sehen, was wirklich um ihn herum vor sich ging. Sehr gern besuchte er den Bauernhof seines Onkels, wo er Inspiration und Einsamkeit fand.
In einem Raum voller Menschen ist es nicht leicht, klar zu denken. Es ist nicht einfach, sich selbst zu verstehen, wenn man nie mit sich allein ist. Es ist nicht einfach, Klarheit und Erkenntnisse zu erlangen, wenn das Leben eine einzige Party und dein Zuhause eine einzige Baustelle ist.
Manchmal muss man alle Verbindungen abschalten, damit man besser mit sich selbst verbunden ist und mit den Menschen, denen man dient und die man liebt.
»Wenn ich das größte Problem benennen sollte, mit dem Menschen in gehobenen Führungspositionen in unserem Informationszeitalter zu kämpfen haben«, hat der Vier-Sterne-General der US-Marineinfanterie und ehemalige US-Verteidigungsminister James Mattis einmal gesagt, »so ist es der Mangel an Reflexion. Die Einsamkeit erlaubt es einem, die Dinge zu überdenken, während andere bloß reagieren. Wir brauchen die Einsamkeit, um uns wieder auf vorausschauende Entscheidungsprozesse konzentrieren zu können, anstatt immer bloß auf Probleme zu reagieren, sobald sie sich auftun.«
Viele Menschen haben in ihrem Leben nicht genug innere Ruhe, weil sie nicht genug Einsamkeit erleben. Und sie erleben keine Einsamkeit, weil sie die Stille nicht suchen oder pflegen. Das ist ein Teufelskreis, der zunächst keine Stille und innere Einkehr möglich macht und dann auch noch jene guten Ideen verhindert, die man entwickelt, wenn man allein ist.
Wie oft hat man unter der Dusche oder bei einer langen Wanderung einen plötzlichen Gedankenblitz? Wo hat man keinen Gedankenblitz? Wenn man laut schreien muss, damit man in der Kneipe Gehör findet. Wenn man drei Stunden lang wie besessen vor dem Fernseher hängt. Niemandem fällt auf, wie wichtig seine liebsten Menschen ihm sind, wenn sein Terminkalender einen Termin gleich nach dem nächsten vorsieht.
Der Historiker Edward Gibbon hat die Einsamkeit einmal als Schule für Genies bezeichnet. Wenn dem so ist, dann ist die überfüllte, betriebsame Alltagswelt die Vorhölle des Dummkopfs.
Wer ist nicht morgens ruhiger, ganz früh, bevor die anderen wach geworden sind, bevor das Telefon klingelt und die tägliche Fahrt zum Arbeitsplatz beginnt? Kann man in einer besseren Lage sein, die Bedeutung eines einzelnen Augenblicks zu erfassen als in einem ruhigen Moment, wenn man seinen persönlichen Raum ganz für sich hat? In der Einsamkeit verlangsamt sich der Lauf der Zeit – es kann gut sein, dass wir diese Langsamkeit am Anfang kaum aushalten können, aber irgendwann merken wir, wie sehr wir diesen Gegenpol zum schnellen Lebens- und Arbeitsrhythmus brauchen, und dass wir ohne ihn verrückt würden. Und selbst, wenn wir nicht verrückt würden, würden wir zweifellos etwas verpassen.
Die Einsamkeit ist nicht bloß etwas für Einsiedler, sondern auch für gesunde Menschen, die mitten im Leben stehen. Trotzdem gibt es hinsichtlich der Einsamkeit ein, zwei Dinge, die wir von den selbst erwählten Profis lernen können.
1941, im Alter von gerade 26 Jahren, wurde Thomas Merton in der Trappistenabtei Unserer Lieben Frau von Gethsemani in Bardstown, Kentucky vorstellig und begann seinen ersten von vielen Aufenthalten in mönchischer Einsamkeit, die er weitere 27 Jahre lang in verschiedenen Formen erlebte. Seine Einsamkeit war alles andere als untätige Ruhe, sondern ein aktives Erkunden seiner selbst, der Religion und des menschlichen Wesens. In späteren Jahren versuchte er dabei, Lösungen für ernste soziale Probleme wie Ungleichheit, Krieg und Ungerechtigkeit zu finden. In seinen wunderschön geschriebenen Tagebüchern finden wir Einsichten in das Menschsein, die nicht möglich gewesen wären, wenn Merton etwa als Zeitungsredakteur in einem Großraumbüro gearbeitet hätte oder auch an einer Universität.
Er bezeichnete die Einsamkeit als seine Berufung . Er beschrieb das so:
Morgens zu beten und zu arbeiten, nachmittags zu ruhen, dann abends wieder in stiller Meditation zu sitzen, wenn die Nacht sich langsam über das Land legt und wenn die Stille sich mit Dunkelheit und Sternen füllt. Dies ist eine wahrhaftige und besondere Berufung. Es gibt nur wenige, die bereit sind, sich vollständig solcher Stille hinzugeben, sie bis in ihre Knochen aufzusaugen, nichts als Stille einzuatmen, sich von Stille zu ernähren und die gesamte Substanz ihres Lebens in eine lebendige und wachsame Stille zu verwandeln.
Bill Gates, der als Philanthrop bekannte Gründer von Microsoft, hat Mertons Form des Rückzugs so umgestaltet, dass es einfacher nachzuahmen ist: Seit vielen Jahren schon macht er zweimal im Jahr eine sogenannte »Denkwoche«. Dabei verbringt er sieben Tage allein in einer Hütte im Wald. Abgeschieden von all den täglichen Unterbrechungen, die seine Arbeit sonst mit sich bringt, kann er sich hier hinsetzen und ganz in Ruhe nachdenken.
Er ist dort zwar allein, aber er ist alles andere als einsam. Gates sitzt da, mit Blick auf den See, und liest – stundenlang – manchmal Hunderte von Artikeln, manche in gedruckter Form und manche am Bildschirm. Er liest auch Bücher, die in einer Bibliothek stehen, in der ein Porträt des französischen Romanciers Victor Hugo hängt. Er schreibt lange Mitteilungen an alle möglichen Mitarbeiter in seinem Unternehmen. Er macht nur ab und an Pausen, um spazieren zu gehen. In diesen einsamen Tagen in seiner Hütte ist Gates quasi die Verkörperung von Thomas von Kempens berühmtem Ausspruch: »In omnibus requiem quaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro« (»Überall habe ich den Frieden gesucht und nicht gefunden, außer in einem stillen Winkel, mit einem Buch.«)
Denk nicht, dass dies wie eine Art Ferien sei. Das ist harte Arbeit – lange Tage, manchmal ganz ohne Schlaf. Es bedeutet, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen, mit widersprüchlichen Vorstellungen, mit Konzepten, die unsere Identität infrage stellen. Doch trotz dieser Anstrengungen kommt Gates aufgeladen und hoch konzentriert zurück. Er kann weiter in die Ferne blicken. Er weiß, welche Prioritäten er setzen möchte, welche Aufgaben und Projekte er seinen Mitarbeitern geben will. Er bringt die stille Ruhe der Wälder mit sich in die komplexe Welt, der er als Unternehmer und philanthropischer Wegbereiter ausgesetzt ist.
Jeder von uns muss sich physisch in die Lage versetzen, solch tiefgängige Arbeit tun zu können. Wir müssen unserem Körper das bieten, was die Schriftstellerin Virginia Woolf als »Ein Zimmer für sich allein« bezeichnete – und sei es auch nur für ein paar Stunden am Tag, die wir woanders abknapsen –, um nachzudenken, ganz in Ruhe, ganz allein. Buddha brauchte auf seiner Suche nach Erleuchtung die Abgeschiedenheit. Er musste sich von der Welt zurückziehen, allein losziehen und sich hinsetzen.
Meinst du nicht, dass dir das auch guttäte?
Es ist nicht einfach, die Zeit dafür zu finden. Wegzukommen ist schwierig (und auch teuer). Wir haben unsere Pflichten. Aber wir werden ihnen besser nachkommen, wenn wir zwischendurch mal weg sind. Wenn wir zurückkommen, tragen wir in uns jene Ruhe und Gelassenheit aus unserer Einsamkeit – sie zeigt sich in unserer Geduld, unserem Verständnis, unserer Dankbarkeit und unserer Erkenntnis.
In Leonardos Fabel verließ der Stein die friedliche Einsamkeit der Wiese zugunsten der Straße – und er bereute es. Dagegen bereute Merton manchmal seine kompromisslose Einsamkeit. Hätte er als Mann von Welt mehr tun können? Hätte er mehr Einfluss gehabt, wenn er die Einsamkeit hinter sich gelassen hätte?
Tatsächlich haben nur wenige den Wunsch und das Durchhaltevermögen, ihre gesamte Existenz der Einsamkeit zu widmen, und das muss auch gar nicht sein. (Die Tänzerin Twyla Tharp hat einmal festgestellt, dass »Einsamkeit ohne Ziel« jegliche Kreativität abtötet). Selbst Merton bekam die Sondererlaubnis seines Kirchenoberen, durch Briefe und andere Schriften mit der Welt außerhalb seines Klosters zu kommunizieren, und schließlich begann er sogar, herumzureisen und vor großen Menschenmengen Vorträge zu halten. Seine Arbeit war zu wichtig und seine Erkenntnisse waren zu elementar, als dass man sie in einem winzigen Backsteinhäuschen am Rande eines Waldes in Kentucky unter Verschluss hätte halten sollen.
Merton verstand schließlich, dass er nach so vielen Jahren der Einsiedelei im Wald die Einsamkeit tief in sich trug – und dass er jederzeit Zugang zu ihr hatte. Auch wer weise und vielbeschäftigt ist, weiß, dass man Einsamkeit und Stille griffbereit zur Verfügung hat, wenn man sie braucht. Ein paar Minuten, bevor man auf die Bühne geht, um einen Vortrag zu halten; ein paar Minuten im Hotelzimmer, bevor man in das Meeting geht. Die Minuten am Morgen, bevor die Familie aufwacht. Oder spät abends, wenn alle anderen schon schlafen gegangen sind.
Ergreif diese Momente. Plan sie ein. Pflege sie.