Arbeit ist das, woran Pferde sterben.
Jeder sollte sich dessen bewusst sein.
ALEXANDER
SOLSCHENIZYN
I
m Vergleich zu den meisten königlichen Paaren waren Königin Victoria und Prinzgemahl Albert von Sachsen-Coburg und Gotha außergewöhnlich. Sie liebten einander tatsächlich und gaben sich die größte Mühe, ihre Arbeit als Staatoberhäupter ernst zu nehmen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber man könnte auch behaupten, dass jede gute Eigenschaft – selbst harte Arbeit –, die bis zum Exzess betrieben wird, zu einem Laster wird.
In beiden Fällen, als Paar, für das aufgrund der Natur ihres Berufs auch nur die Vorstellung einer »Work-Life-Balance« unmöglich war, wurde die Tugend ihrer Selbstdisziplin und ihres Engagements zu einem verhängnisvollen Laster.
Albert, ein bayerischer Prinz, der in die britische Königsfamilie einheiratete, war von dem Tag an, als er Victoria heiratete, ein harter Arbeiter. Er brachte die dringend benötigte Ordnung und Routine in das Leben seiner Königin. Er straffte die Abläufe und übernahm einen Teil der leidigen Pflichten, die zuvor Victoria allein auferlegt worden waren. Tatsächlich gehen viele der sogenannten Merkmale des Viktorianischen Zeitalters auf ihn zurück. Er war diszipliniert, penibel, ehrgeizig und konservativ.
Unter seiner Ägide bestand ihr Zeitplan aus einem Termin, einer Depesche und einem gesellschaftlichen Empfang nach dem nächsten. Albert war fast ständig beschäftigt und arbeitete so viel, dass er sich gelegentlich vor lauter Stress übergeben musste. Er scheute keine Verantwortung und ließ keine Gelegenheit ungenutzt, jedes bisschen
von der Last der Macht auf sich zu nehmen, die seine Frau zu teilen bereit war. Gemeinsam wiederum nutzten sie jeden formalen und informellen Einfluss, der sich damals der Monarchie im britischen Empire bot. Sie waren regelrechte Workaholics, und sie waren stolz darauf.
Wie Albert an einen Berater schrieb, verbrachte er täglich Stunden damit, Zeitungen auf Deutsch, Französisch und Englisch zu lesen. »Man sollte nichts einfach außer Acht lassen«, sagte er, »sonst verliert man den Anschluss und zieht in der Folge die falschen Schlüsse.« Er hatte recht, es stand sicherlich zu viel auf dem Spiel. So halfen ihm beispielsweise seine umfangreichen geopolitischen Kenntnisse zu vermeiden, dass Großbritannien in den US-amerikanischen Bürgerkrieg mit hineingezogen wurde.
Aber in Wahrheit stürzte sich Albert ebenso energisch auf Projekte von viel geringerer Bedeutung. Die Organisation der Great Exhibition, der ersten Weltausstellung im Jahr 1851, die wie ein fast sechsmonatiges Volksfest anmutete, bei dem die Wunder und Errungenschaften des Britischen Empire präsentiert wurden, kostete ihn Jahre seines Lebens. Ein paar Tage, bevor die Ausstellung eröffnete, schrieb er an seine Stiefmutter: »Ich bin vor lauter Überarbeitung mehr tot als lebendig.« Es war mit Sicherheit ein wunderbares und denkwürdiges Ereignis, aber seine Gesundheit erholte sich nie wieder.
Er war wie Winston Churchill, nur dass er und seine Frau keine Mäßigung kannten und wenig Spaß hatten. »Ich arbeite weiterhin in meiner Tretmühle, wie es das Leben mir vorgibt«, sagte Albert einmal. Es ist keine schlechte Beschreibung des anstrengenden und sich wiederholenden Lebens, das er und Victoria führten. Ab 1840 gebar Victoria in siebzehn Jahren neun Kinder, von denen vier in aufeinanderfolgenden Jahren zur Welt kamen. In einer Zeit, in der Frauen noch regelmäßig während der Geburt eines Kinds starben (Anästhesie – Chloroform – stand erst ab ihrer achten Schwangerschaft zur Verfügung), war Victoria, die gerade mal 1,50 Meter groß war, ständig schwanger. Trotz der Vorteile grenzenloser Unterstützung im Haushalt trug sie neben ihren Pflichten als Königin eine enorme körperliche Belastung. Nach ihrem Tod wurde
festgestellt, dass sie an einem Gebärmuttervorfall und einem Leistenbruch gelitten hatte, was ihr kontinuierlich enorme Schmerzen verursacht haben muss.
Es ist nichts falsch daran, eine große Familie zu haben – der Thron brauchte Erben –, aber es schien dem Paar nie in den Sinn gekommen zu sein, dass sie in dieser Angelegenheit ein Wörtchen mitzureden hatten. »Der Mensch ist ein Lasttier«, schrieb Albert an seinen Bruder, »und er ist nur glücklich, wenn er seine Last tragen kann und nicht zu entscheiden braucht. Meine Erfahrung hat mich gelehrt, diese Wahrheit mehr und mehr anzuerkennen.« Infolgedessen war seine und Victoria Existenz kaum von Privilegien, Entspannung oder Freiheit geprägt. Stattdessen war es ein endloser Kreislauf von einer Verpflichtung nach der nächsten, die in einem halsbrecherischen Tempo absolviert wurden, das sich die beiden selbst auferlegt hatten.
Es ist ein Beweis ihrer Zuneigung füreinander, dass ihre Ehe das überlebte. Victoria war sich zumindest der abträglichen Auswirkungen bewusst, die all die Arbeit auf Albert hatte. Sie beschrieb die Folgen seiner »Arbeitsbesessenheit« auf ihre Beziehung und bemerkte auch, dass seine Gesundheit nachließ. Nachts hielten ihn seine rasenden Gedanken wach, er hatte Magenkrämpfe und seine Haut war ganz matt.
Anstatt auf diese Warnzeichen zu hören, hielt er jahrelang mit eiserner Disziplin durch, arbeitete härter und härter und zwang seinen Körper, sich zu fügen. Und dann plötzlich, im Jahr 1861, war es mit einem Mal vorbei. Seine Kräfte versagten. Er konnte nicht mehr klar denken und am 14. Dezember um 22:50 Uhr atmete Albert noch dreimal und starb. Der Grund: Morbus Crohn, verschlimmert durch den anhaltenden Stress. Er hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode gearbeitet.
Die moderne Medizin hat uns vor solchen Tragödien bisher nicht bewahren können. In Japan haben sie ein Wort, karōshi
, was so viel bedeutet wie Tod durch Überarbeitung. Auf Koreanisch heißt es gwarosa
.
Willst du wirklich so sein? Ein Arbeitspferd, das seine Last zieht, bis es zusammenbricht und stirbt, noch an den Wagen gespannt und
im Geschirr? Ist es das, wofür du auf die Welt gekommen bist?
Denk daran, dass die Hauptursache für Verletzungen bei Spitzensportlern nicht das Stolpern oder Stürzen ist. Auch nicht die Zusammenstöße. Es ist die übermäßige Beanspruchung. Werfer beim Baseball und Quarterbacks beim Football überstrecken ihre Arme. Basketballern verreißt es das Knie. Andere haben einfach genug von dem zermürbenden Training und dem Erfolgsdruck. Michael Phelps beendete vorzeitig seine Schwimmkarriere wegen eines Burnouts – trotz aller Goldmedaillen wollte er nie wieder in einen Pool steigen. Man kann ihm da auch keinen Vorwurf machen; er hatte alles, einschließlich seiner geistigen und körperlichen Gesundheit, vernachlässigt, um sich selbst um ein paar Sekunden bei seinen Schwimmzeiten zu unterbieten.
Eliud Kipchoge, der vielleicht beste Langstreckenläufer aller Zeiten, arbeitet derweil aktiv daran, sich nicht zu verausgaben
. Er trainiert bewusst nicht mit vollem Einsatz und spart sich das für die paar Male im Jahr auf, in denen er Rennen läuft. Stattdessen zieht er es vor, mit 80 Prozent seiner Kapazität – manchmal bis zu 90 Prozent – zu trainieren, um seine körperliche Ausdauer (und geistige Gesundheit) als Sportler aufrechtzuerhalten. Als Michael Phelps nach seinem Zusammenbruch im Jahr 2012 wieder das Schwimmen aufnahm, war dies möglich, weil er bereit war, seinen Trainingsansatz neu zu überdenken und mit mehr Ausgeglichenheit anzugehen.
Mit zunehmendem Alter sind Sportler oft gezwungen, damit klarzukommen, dass sie sich dem Tempo anpassen müssen, während junge Sportler sich unnötig verausgaben, weil sie denken, dass sie über unerschöpfliche Energiereserven verfügen. Ja, es ist ehrenwert und sinnvoll, sein Bestes zu geben, egal, was man tut – aber das Leben ist eben eher ein Marathon als ein Sprint. In gewisser Weise ist das der Unterschied zwischen Selbstvertrauen und Selbstüberschätzung. Kannst du dir und deinen Fähigkeiten genug vertrauen, um etwas in Reserve zu halten? Kannst du die Stille und den inneren Frieden schützen, die notwendig sind, um auf Dauer den Lauf des Lebens zu gewinnen?
Es war eine böswillige Lüge, die die Nazis an den Toren von Auschwitz angebracht hatten:
Arbeit macht frei
.
6
Nein. Nein. Nein.
Das russische Sprichwort trifft es da schon besser: Arbeit bringt einen nur dazu, sich nach vorn zu beugen.
Der Mensch ist kein
Lasttier. Ja, wir haben wichtige Pflichten: gegenüber unserem Land, gegenüber unseren Mitarbeitern, gegenüber unseren Familien, die versorgt werden müssen.
Viele von uns haben Talente und Begabungen, die so außergewöhnlich sind, dass wir es uns und der Welt schulden, sie zum Ausdruck zu bringen und zu verwirklichen. Aber wir werden das nicht tun können, wenn wir nicht auf uns selbst aufpassen, sondern bis an die Grenze unserer Belastbarkeit gehen.
Die Moral der US-amerikanischen Legende über den Eisenbahner John Henry ist den Menschen oft gar nicht richtig bewusst. Er nahm es mit einem dampfbetriebenen Bohrhammer auf und durch schiere und unmenschliche Kraft gewann er gegen die Maschine. Eine großartige Geschichte. Inspirierend. Außer, dass er am Ende starb – vor Erschöpfung! »Im wirklichen Leben«, bemerkte George Orwell einmal, »ist es immer der Amboss, der den Hammer bricht.«
Arbeit wird dich nicht frei machen. Sie wird dich umbringen, wenn du nicht aufpasst.
Prinz Alberts Kinder hätten gern eine weniger aufregende Weltausstellung gehabt, um stattdessen Albert noch ein wenig länger zu haben, ebenso wie Königin Victoria und das britische Volk.
Die E-Mail, von der du denkst, dass du sie dringend beantworten musst, kann warten. Dein Drehbuch muss nicht auf die Schnelle fertigwerden, du kannst zwischen ihm und dem nächsten sogar eine Pause einlegen. Der einzige Mensch, der wirklich von dir verlangt, die Nacht im Büro zu verbringen, bist du selbst. Es ist okay, nein zu sagen. Es ist in Ordnung, auf dieses Telefonat oder diese Last-Minute-Reise zu verzichten.
Gute Entscheidungen werden nicht von Menschen getroffen, die ausgepowert sind. Wie sieht dein Innenleben aus, welchen klaren Gedanken kannst du fassen, wenn du vollkommen überarbeitet bist? Es ist ein Teufelskreis: Am Ende müssen wir mehr arbeiten, um die Fehler zu beheben, die wir gemacht haben. Dabei hätten wir uns
lieber ausruhen sollen, statt spontan ja und nicht bewusst nein zu sagen. Wir verdrängen letztendlich gute Leute (und verlieren Beziehungen), weil wir so angespannt sind und so wenig Geduld haben.
Möchtest du der Künstler sein, der seine Freude am Schaffensprozess verloren hat, der so sehr Raubbau an seiner Seele betrieben hat, dass es nichts mehr gibt, worauf er sich stützen kann? Burn out or fade away
– lodernd verbrennen oder langsam verglühen – das war die Frage, die Kurt Cobain in seinem Abschiedsbrief vor seinem Selbstmord stellte. Wie kann das überhaupt ein Dilemma sein?
Es heißt aus gutem Grund »human being
«, nicht »human doing«. Maßhalten. Präsent sein. Seine Grenzen kennen. Das ist der Schlüssel. Der Körper, den wir alle haben, ist ein Geschenk. Richte ihn nicht zugrunde. Verausgabe dich nicht völlig. Beschütze dieses Geschenk.