Es gibt eine Zeit für viele Worte
und es gibt eine Zeit für den Schlaf.
HOMER
A
merican Apparel war ein milliardenschweres Unternehmen, das aus diversen Gründen scheiterte. Sie nahmen zu hohe Kredite auf. Die Arbeitsplatzbedingungen waren fragwürdig. Sie mussten sich um eine ganze Lawine von Klagen kümmern. Sie eröffneten zu viele Filialen. All dies wurde vielfach geschrieben, als die Firma 2015 in den USA Insolvenz anmeldete.
Doch ein Grund für ihr Scheitern – ein wesentlicher Grund, warum mehr als 10 000 Menschen ihren Job verloren und warum eine Firma mit einem jährlichen Umsatzvolumen von mehr als 700 Millionen US-Dollar sich einfach in Luft auflösen konnte – wurde von den meisten Außenstehenden schlichtweg übersehen.
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Als Dov Charney American Apparel gründete, hatte er das Ziel, als Chef der Firma jederzeit und für jeden ansprechbar zu sein. Auch als die Firma wuchs – von einer Klitsche, die aus dem Studentenwohnheim geführt wird, bis zu einem global operierenden Geschäft mit einer der größten Bekleidungsmanufakturen der Welt –, hielt er daran fest. Tatsächlich war es so, dass sein Ego erfüllt war von dem Gedanken, das Herzstück in jedem Bereich seiner Firma zu sein.
Das war tatsächlich gelebte Open-Door-Policy. Und nicht nur die sprichwörtliche Tür war auf, sondern er war auch per Telefon und E-Mail zu erreichen. Jeder seiner Angestellten, aus jedem Bereich des Unternehmens, sei es der Näher, der die Ärmel anbringt, eine Mitarbeiterin im Verkauf oder der Fotograf, sie konnten sich an ihn
wenden, wann immer sie ein Problem hatten. Und damit nicht genug: Bei einer der vielen Krisen, als die Firma wieder in Erklärungsnot geriet, stellte Charney seine Telefonnummer online, falls irgendein Journalist oder Kunde ebenfalls eine Frage hatte.
Am Anfang hatte diese Herangehensweise Vorteile. Charney wusste immerzu, was in seiner Firma gerade los war, und er konnte die typischen bürokratischen Strukturen verhindern, die sich manchmal einschleichen und in denen die Mitarbeiter dann steckenbleiben. Doch es war nicht nur so, dass die Vorteile nicht lange überwogen, sondern auch, dass der Preis für diese Strategie letztlich zu hoch war.
Du kannst dir sicher vorstellen, was passierte, als das Unternehmen plötzlich 250 Geschäfte in 20 Ländern hatte. 2012 konnte Charney immerhin noch wenige Stunden pro Nacht schlafen, aber schon 2014 schlief er so gut wie gar nicht mehr. Wie denn auch? Immer hatte irgendjemand irgendwo ein Problem und irgendjemand irgendwo in einer anderen Zeitzone
nahm ihn und seine Politik der offenen Tür beim Wort. Dass wir Menschen älter werden, half dabei auch nicht.
Dieser extreme, langanhaltende Schlafmangel war die Wurzel vieler der katastrophalen Fehler dieser Firma. Wie könnte es auch anders sein? Studien haben bewiesen, dass wir nach etwa 20 Stunden ohne Schlaf kognitiv so stark eingeschränkt sind wie jemand, der betrunken ist. Unser Gehirn reagiert langsamer und unsere Urteilskraft wird maßgeblich beeinträchtigt.
Im Jahre 2014, während eines schwierigen Wechsels zwischen zwei Auslieferungslagern, zog Charney in das Lagerhaus, von wo aus die Waren verladen und die Bestellungen bearbeitet wurden und baute sich in einem kleinen Büro ein schmales Bett und eine Dusche ein. Ihm und einigen seiner loyalsten Anhänger schien dies ein Beweis seiner heldenhaften Hingabe für das Unternehmen zu sein. In Wirklichkeit jedoch hatten Fehleinschätzungen den gesamten Ablauf des Wechsels von vornherein beeinträchtigt und seine ständige Anwesenheit und sein Bedürfnis, über die kleinsten Kleinigkeiten vor Ort zu entscheiden, verkomplizierten die Abläufe nur noch mehr, zumal seine Entscheidungen immer sprunghafter wurden, je länger
er ohne Schlaf auskam.
Vor den Augen seiner Angestellten wurde Charney im wahrsten Sinne des Wortes verrückt. Unrasiert, mit geschwollenen Augen, seinen eigenen Launen ausgeliefert, jenseits des grundlegendsten Urteilsvermögens oder Anstands. Er gab Anweisungen aus, die den nur Minuten zuvor gemachten Anweisungen widersprachen, es schien fast, als sei er auf Teufel komm raus auf seine eigene Zerstörung aus. Aber er war ja der Chef – was also sollten die Mitarbeiter machen?
Schlussendlich kontaktierte man seine Mutter und bat sie, ihn nach Hause zu holen, ihn davon zu überzeugen, dass er sich um sich selbst kümmerte, bevor es zu spät war. Doch er war nicht mehr zu retten. Selbst als er wieder in ein normales Büro zurückgekehrt war, rief er noch spät in der Nacht seine Mitarbeiter an, um mit ihnen über das Geschäft zu reden, bis er mitten im Gespräch einschlief, denn vor Erschöpfung umzufallen, war mittlerweile die einzige Möglichkeit für ihn einzuschlafen.
Nur wenige Monate nach dieser Episode im Lagerhaus stand Dov Charney kurz davor, die Kontrolle über seine Firma zu verlieren. Aufgrund diverser verzweifelter Finanzierungsversuche war er nicht mehr stark genug, sich gegen eine Übernahme zu wehren, aber er nahm die Finanzierungskonditionen an, ohne über die Konsequenzen nachgedacht zu haben. Er saß vor seinem handverlesenen Betriebsvorstand und mischte sich ein Tütchen Nescafé-Pulvers nach dem nächsten in kaltes Wasser – ohne Koffein schien er nicht wachbleiben zu können. Als das Meeting vorbei war, hatte er keinen Job mehr.
Nur wenige Monate später waren seine Aktienanteile an dem Unternehmen wertlos. Investoren und Schuldeneintreiber fanden kaum etwas Brauchbares, als sie sich durch die Trümmer der Firma arbeiteten. Heutzutage schuldet Charney einem Hedgefonds 20 Millionen US-Dollar, dabei kann er sich noch nicht einmal einen Anwalt leisten.
Der Zusammenbruch von American Apparel war spektakulär, aber die Gründe waren nicht ungewöhnlich. Ein Mensch, der völlig überarbeitet ist, versucht, eine Krise zu bewältigen, indem er noch
mehr arbeitet. Ein erschöpfter Mensch, der kaum mehr bei klarem Verstand ist, macht dann einen Fehler nach dem anderen. Je mehr man sich bemüht, desto schlimmer wird es und desto wütender wird dieser Mensch, weil niemand seine Opfer zu würdigen scheint.
Es gibt Menschen, die sagen: »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.« Tatsächlich aber führen sie dadurch ihren Tod nur noch viel schneller herbei. Sie opfern ihre Gesundheit für ein paar mehr Stunden bei der Arbeit. Sie opfern die Langzeitentwicklungsfähigkeit ihrer Firma oder ihrer Karriere für eine kurzfristige Krise, die dringender zu sein scheint.
Wenn wir den Schlaf so behandeln, als sei er ein Luxus, dann wird er als Erstes geopfert, sobald unsere Zeit knapp wird. Wenn Schlaf nur das ist, was wir tun, wenn wir alles andere erledigt haben, werden die Arbeit und andere Menschen immerzu in dein Privatleben eindringen. Irgendwann wirst du dich erschöpft und ausgenutzt fühlen, wie eine Maschine, die nie gewartet wird und von der man erwartet, dass sie immer funktionsfähig ist.
Der Philosoph und Schriftsteller Arthur Schopenhauer pflegte zu sagen: »Der Schlaf ist die Quelle aller Gesundheit und aller Energie.« An anderer Stelle formulierte er das noch spitzer zu: »Der Schlaf ist der einstweilige Zins des Todes, welcher selbst die Kapitalabzahlung ist. Diese wird umso später eingefordert, je reichlichere Zinsen und je regelmäßiger sie gezahlt werden.«
Arianna Huffington wachte vor ein paar Jahren blutüberströmt und mit schmerzendem Schädel auf dem Fußboden ihres Badezimmers auf. Sie war vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen und hatte sich den Wangenknochen gebrochen. Ihre Schwester, die zu der Zeit in der Wohnung war, erinnert sich an das furchterregende Geräusch, als der Körper auf den Boden aufschlug. Es war ein sprichwörtlicher Weckruf für die beiden. So konnte das Leben nicht weitergehen. Es war nicht bewundernswert, sich völlig abzuarbeiten, und anstatt zu schlafen, lieber noch eine Telefonkonferenz zu leiten, ein paar Minuten im Fernsehen aufzutreten oder eine wichtige Person zu treffen.
Das ist nicht Erfolg, das ist Quälerei. Und das hält kein menschliches Wesen lange aus. Man kann weder mental noch
seelisch Frieden finden, wenn der Körper die ganze Zeit ums Überleben kämpft, wenn er seine Notreserven anbrechen muss, um überhaupt funktionieren zu können. Freude? Ruhe? Die Einsamkeit oder die Schönheit der Natur als Quelle nutzen? Das kommt für einen überarbeiteten und erschöpften Narren nicht infrage.
Ein schlafloser Ingenieur, der schon sechs Red Bull intus hat, kann niemals innerlich zur Ruhe kommen. Ebenso wenig die ehemalige Studentin, die nach ihrem Abschluss noch Monate später laut und lange feiert. Dasselbe gilt für einen Autor, der einen schlechten Zeitplan hat und meint, er könne sein Buch in einem Drei-Tage-Marathon fertig schreiben. Eine Studie von 2017 hat sogar nachweisen können, dass sich wiederholende negative Gedanken durch Schlafmangel verstärkt werden. Wenn man den Körper schlecht behandelt, beginnt der Geist, sich selbst ebenfalls schlecht zu behandeln.
Schlaf ist eine wichtige Komponente unserer Arbeit – Schlaf bedeutet, dass wir unsere inneren Akkus aufladen, deren Energie wir benutzen, um arbeiten zu können. Schlaf ist auch eine Form der Meditation. Schlaf ist Ruhe. Schlaf ist die Zeit, wenn wir abschalten
. Es gibt einen guten Grund, warum Schlaf Teil unserer Biologie ist.
Wir haben nur einen begrenzten Speicher an Energie, die wir für unsere Arbeit, unsere Beziehungen und uns selbst brauchen. Ein kluger Mensch versteht das und achtet darauf. Die großen Persönlichkeiten schützen ihren Schlaf, denn er ist es, auf den unsere hellsten Momente aufbauen. Sie sagen auch mal nein. Sie gehen zu Bett, wenn sie merken, dass sie ihre Grenze erreicht haben. Sie lassen es nicht zu, dass Schlafmangel ihr Urteilsvermögen beeinträchtigt. Sie wissen, dass es manche Menschen gibt, die mit sehr wenig Schlaf auskommen, aber sie sind auch klug und aufmerksam genug, um zu wissen, dass jeder
noch besser arbeitet, wenn er ausgeruht ist.
Anders Ericsson, der die berühmte 10 000-Stunden-Studie durchgeführt hat, fand heraus, dass die besten professionellen Violinisten im Schnitt nachts achteinhalb Stunden schlafen und tagsüber noch ein Nickerchen machen. (Ein Freund von Churchill sagte über ihn: »In Kuba entdeckte er etwas, das für sein späteres Leben viel wichtiger sein sollte als jede militärische Erfahrung: die
lebensspendenden Kräfte der Siesta.«) Laut Ericsson ruhen die großen Musiker ausgiebiger als die zweitrangigen.
Wie bereitete der Zen-Meister Hakuin sich auf seinen epischen Vortrag The Records of Old Sokko
vor? Er schlief. Viel. Er schlief so viel und so tief, dass einer seiner Schüler berichtete, sein Schnarchen sei im Haus widergehallt wie das Grollen eines Donners. So ging das einen Monat lang, wobei Hakuin nur ab und zu mal aufwachte, um einen Besucher zu empfangen. Jede restliche Minute verbrachte er bäuchlings, sich dem himmlischen, erholsamen Schlummer hingebend.
Seine Gehilfen, die noch nicht gelernt hatten, die Kraft des Schlafes zu würdigen, machten sich Sorgen. Der Tag des Vortrags rückte immer näher. Würde der Meister sich denn niemals ernsthaft damit beschäftigen? Oder würde er seine Zeit weiterhin im Schlaf verschwenden? Sie flehten ihn an, die ihm verbleibende Zeit zu nutzen. Er dreht sich einfach nur um und schlief weiter. Dann, als der Termin schon greifbar nahe war, stand Hakuin ohne große Eile auf. Er setze sich hin, rief seine Gehilfen und begann, ihnen in perfekter Klarheit den Vortrag zu diktieren.
Es war alles da. Die Rede war brillant.
Sie war das Ergebnis eines ausgeruhten Verstands, der sich um seinen Körper gekümmert hatte. Einer gesunden Seele, die tief schlafen konnte. Und sie hat über die Jahrhunderte nicht an Kraft verloren.
Wenn du dich nach innerer Ruhe sehnst, gibt es nur eine Sache, die du tun musst. Wenn du das Beste aus dir rausholen willst, gibt es nur eine Sache, die du tun musst.
Leg dich schlafen.