HÜTE DICH VOR DEM ESKAPISMUS
Ich Elender! Wohin soll ich fliegen –
unendlicher Zorn und unendliche Verzweiflung?
Wohin ich auch fliege, dort ist die Hölle;
die Hölle bin ich selbst.
JOHN
MILTON
N
ach der großen Enttäuschung, als sein großer Roman Ask the Dust
sich wider Erwarten als Flop erwies, brauchte der Autor John Fante dringend eine Ablenkung. Er wäre gern einfach verreist, hätte die Stadt und das Land, in dem sein Herz gebrochen wurde, gern verlassen, aber es ging nicht. Fante hatte nicht genug Geld und hatte zudem als Drehbuchautor zu viel zu tun, um Hollywood einfach den Rücken zu kehren. Und wenig später war er zu verheiratet und musste sich um zu viele Kinder kümmern.
Im Laufe der Jahre entwickelte er viele Methoden, um den Schmerz, den er verspürte, zu betäuben. So spielte er zum Beispiel stundenlang am Flipperautomaten (sein Suchtverhalten am Flipper wurde vom Theaterautor William Saroyan in dem Stück The Time of Your Life
verewigt). Er verbrachte Stunden in den Bars von Hollywood und trank – in der Gesellschaft von F. Scott Fitzgerald und William Faulkner. Er verbrachte so viele Stunden auf dem Golfplatz, dass er seine überaus geduldige Frau Joyce zu einer Golf-Witwe machte.
Fante suchte nicht nach Erholung oder nach Freizeit; er wollte bloß der Lebensrealität entfliehen
.
In anderen Worten: Fante vergeudete Jahrzehnte mit Golf, Lektüre und Alkohol, anstatt seine Romane zu schreiben. Denn was er vor allem vermeiden wollte, war, immer und immer wieder eine
Absage zu bekommen. Nichts war schwieriger für ihn, als allein zu Hause zu sitzen, in seinem Schreibzimmer, und mit den Dämonen zu kämpfen, die sein Werk erst zu dem Kunstwerk machten, das es ist.
Der Unterschied zwischen Freizeit und Eskapismus ist die Intention. Reisen ist wunderbar. Aber hat die Geschichte von Johnny Cashs Leben nicht etwas Trauriges, als seine erste Ehe in die Brüche ging und seine Musik wie nach Schema A komponiert klang und einen weniger berührte? Wenn er nach einer langen Tour endlich wieder in L. A. landete, ging er nicht schnurstracks nach Hause zu seiner Familie, sondern er ging gleich zum Schalter und kaufte ein neues Ticket. Wohin? »Wohin auch immer der nächste Flieger mich mitnimmt«, antwortete er der Stewardess.
Verzweiflung und Ruhelosigkeit passen zusammen.
Das Problem ist, dass man der Verzweiflung nicht entkommen kann. Man kann – rein körperlich – nicht einem Problem entkommen, das nur im Kopf und in der Seele existiert. Man kann nicht vor einer Entscheidung davonlaufen – man kann sie nur mit besseren Entscheidungen wettmachen.
Nichts spricht gegen schöne Ferien (vor allem, wenn man Ruhe und Einsamkeit anstrebt) oder eine Runde Golf, und es spricht auch nichts gegen ein paar Bier, um sich ein bisschen zu entspannen. Churchill jedenfalls liebte es zu reisen und er liebte Champagner, auch wenn er ein miserabler Golfspieler war.
Doch allzu oft denken diejenigen, die überreizt oder verzweifelt sind, dass eine Flucht – sei sie physischer oder chemischer Natur – etwas wahrhaft Gutes sei. Natürlich kann einen die Aufregung einer Reise, der Kick beim Surfen oder das veränderte Bewusstsein nach der Einnahme von Drogen ein bisschen den Druck nehmen, den man so im Leben aufbaut. Vielleicht kommen dabei ein paar schöne Bilder raus, oder man kann seine Freunde mit pseudo-klugen Sprüchen beeindrucken.
Aber wenn die erste Euphorie vorbei ist, was bleibt dann?
Während seiner Zeit im Weißen Haus schaute Nixon sich fast fünfhundert
Spielfilme an. Wir kennen die Dunkelheit, der er zu entkommen versuchte. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Süchte von Tiger Woods zumindest teilweise von dem Drang
verursacht wurden, den Schmerzen zu entfliehen, die noch aus seiner Kindheit widerhallten. Doch jedes Mal, wenn er einen Privatjet nach Las Vegas betrat, anstatt sich seiner Frau zu öffnen (oder, so lange er noch lebte, mit seinem Vater zu sprechen), schuf er eigentlich die Grundvoraussetzungen für noch mehr Leid auf seinem weiteren Weg. Jedes Mal, wenn Fante den Golfschläger malträtierte statt die Tasten seiner Schreibmaschine, oder wenn er Trinken ging, anstatt zu Hause zu bleiben, mochte er vielleicht für kurze Zeit seiner Realität entflohen sein, aber er musste dafür einen hohen Preis zahlen.
Wenn du Dinge auf die lange Bank schiebst, häufen sich die Zinsen an. Die Rechnung kommt aber trotzdem irgendwann – und dann kann man sie sich noch weniger leisten als jetzt gerade.
Das Einzige, wovor du in deinem Leben nicht fliehen kannst, bist du selbst
.
Jeder, der lange genug gereist ist, weiß das. Schlussendlich wird einem klar, dass wir alle auf der Reise mehr Gepäck mit uns herumschleppen als die Objekte in unseren Koffern und Rucksäcken.
Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson, der in seinem Leben nicht nur die USA ausgiebig bereiste, sondern auch England, Italien, Frankreich, Malta und die Schweiz besuchte, wies einmal darauf hin, dass diejenigen Menschen, die die großen Sehenswürdigkeiten und Wunder erschaffen hatten, die Touristen sich so gern ansahen, dies ja nicht getan hatten, während sie reisten. Man kann nichts Großes erschaffen, wenn man dauernd unterwegs ist. Man muss dranbleiben
, unbeweglich wie die Erdachse. Emerson sagte, dass all jene, die denken, sie fänden eine Lösung für ihre Probleme, indem sie ihr Zuhause weit hinter sich ließen und sich stattdessen zum Beispiel das Kolosseum ansähen oder irgendeine gigantische, moosbewachsene Buddha-Statue, brächten nur Ruinen zu den Ruinen
. Wo auch immer sie hingehen, was auch immer sie tun: Ihr trauriges Selbst ist immer dabei.
Ein Flugticket, eine Pille oder irgendwelche pflanzlichen Mittel sind immer eine Tretmühle, keine Abkürzung. Was du suchst, wird nur zu dir kommen, wenn du dich hinsetzt und mit der Arbeit beginnst, wenn du dich mit ehrlicher Selbstbeobachtung und großer
Geduld selbst prüfst.
Um herausfinden zu können, was wirklich los ist, musst du genügend innere Ruhe haben. Du musst warten, bis sich das trübe Wasser geklärt hat. Das kann nicht passieren, solange du von einem Ort zum nächsten jettest, wenn du deinen Terminplaner randvoll packst mit jeder nur erdenklichen Aktivität, um bloß nicht ein paar Minuten mit dir und deinen Gedanken allein sein zu müssen.
Mengzi sprach schon im vierten Jahrhundert nach Christus davon, dass der Weg ganz nahe ist, die Menschen ihn aber in der Ferne suchen. Ein paar Generationen später wies Marc Aurel darauf hin, dass wir »nicht alles hinter uns lassen« müssen. Wir müssen bloß nach innen schauen
. »Es gibt für den Menschen keine geräuschlosere und ungestörtere Zufluchtsstätte als seine eigene Seele.«
Wenn wir das nächste Mal den Drang haben zu fliehen, einfach irgendwohin zu fahren oder uns in Arbeit oder andere Tätigkeiten zu stürzen, müssen wir uns selbst aufhalten. Anstatt quer über den Kontinent zu fliegen, kannst du lieber eine Runde wandern. Schieß dich nicht mit irgendwelchen Substanzen ab – such lieber die Einsamkeit und Ruhe. Solche Strategien sind viel einfacher, schneller umzusetzen und letzten Endes viel nachhaltiger, um auf die innere Ruhe, die uns angeboren ist, zuzugreifen. Reise ins Innere – in dein Herz und deine Gedanken, und lass den Körper einfach da, wo er ist. »Ein kurzer Besuch reicht schon, um alles andere abzuwehren«, schrieb Marc Aurel, »und dich dann zurückzuschicken – gewappnet, um dich dem zu stellen, was dich erwartet.«
Abschalten bringt gar nichts. Schalte ein
.
Wenn du in diesem Leben wahren Frieden und Klarheit erstrebst (und im Übrigen hast du sie voll und ganz verdient), dann sei dir dessen bewusst, dass du sie ganz in der Nähe finden wirst, nicht in weiter Ferne. Bleib stehen, hat Emerson geraten. Werde du selbst. Bleib auf der Stelle.
Bleib mal vor dem Spiegel stehen. Lern deine nächste Umgebung besser kennen.
Dir wurde, als du geboren wurdest, ein Körper gegeben – versuch nicht, jemand anderes zu sein oder irgendwo anders. Lern dich
selbst kennen.
Erschaff dir ein Leben, vor dem du nicht fliehen musst.