Schon als ich Lena auf der Bühne gesehen hatte, war ich erschrocken ob ihrer Ähnlichkeit mit Magdalena. Aber als sie aus dem Hotel trat und nur wenige Meter von mir entfernt stehen blieb, verschlug es mir den Atem, und ich war für einen Moment wie gelähmt. Sie zögerte kurz und schaute die Straße hinauf und hinunter, dann ging sie scheinbar aufs Geratewohl, aber zielstrebig los in Richtung Innenstadt. Sie lief ziemlich schnell, und, ohne lange nachzudenken, folgte ich ihr. Sie sah genauso aus wie meine Magdalena, als sie mich vor sechzehn Jahren nach Stockholm begleitet hatte, ging federnd, fast hüpfend wie sie, hatte denselben Gesichtsausdruck, eine Mischung aus Erstaunen und Belustigung. Manchmal reckte sie plötzlich den Hals und schaute nach oben, als habe sie von dort etwas vernommen oder halte nach etwas Ausschau, dann wurde ihr Gesicht ernst, und es schien für einen Moment, als lauschte sie angestrengt auf etwas, was nur sie hören konnte.
Wir waren seit drei Jahren zusammen, ich hatte irgendwann meine Wohnung aufgegeben und war zu ihr gezogen. Sie spielte inzwischen in einer freien Truppe, und ich textete nur noch selten für die Werbeagentur und begann stattdessen für Zeitungen und Zeitschriften zu arbeiten. Den Wunsch, literarisch zu schreiben, hatte ich nie ganz aufgegeben, aber ich tat nicht viel dafür, ihn Wirklichkeit werden zu lassen. Der Text über Magdalena und mein Leben hatte nirgendwohin geführt. Ich hatte ihr irgendwann davon erzählt, aber behauptet, es passiere zu wenig in unserem Leben, um Literatur daraus zu machen. Warum soll ich das alles aufschreiben?, sagte ich, wir leben es ja. In Wirklichkeit fürchtete ich mich davor, dass Magdalena mir wieder fremd werden, dass die fiktive die reale Figur endgültig verdrängen könnte. Magdalena schien es recht zu sein, dass ich das Projekt aufgegeben hatte. Sie ermunterte mich, dramatische Texte zu schreiben, Rollen, die sie spielen könnte. Aber auch das gelang mir nicht. Am liebsten bist du mir, wenn du keine Rolle spielst, sagte ich. Ich sah sie tatsächlich nicht gern auf der Bühne, vielleicht, weil ich nicht sehen wollte, dass sie auch eine ganz andere sein konnte, dass unsere Liebe nicht die einzige Möglichkeit war, die in ihr steckte.
Auch wenn sie mit mir zusammen war, kam es mir manchmal vor, als spiele sie eine Rolle, nicht mit Absicht, sondern weil sie nicht anders konnte. Vielleicht war es gerade das, was mich an ihr nicht losließ, das Gefühl, ihr nie ganz nah zu kommen, sie nie zu durchschauen, nie ganz zu besitzen. Ich rätselte darüber, was sie für mich empfand. Der einzig sichere Beweis ihrer Liebe war, dass sie bei mir blieb. Wenn wir zusammen Partys oder Premierenfeiern besuchten, wurde sie umschwärmt von Männern, die besser aussahen als ich, die witziger und intelligenter und vor allem erfolgreicher waren, die ihr mehr hätten bieten können als ich. Sie flirtete ein wenig mit dem oder jenem, aber immer war sie es, die irgendwann sagte, sie wolle jetzt nach Hause gehen. Meine Liebe zu ihr hatte etwas Schmerzhaftes, Verzehrendes. Selbst als wir schon zusammenwohnten, hatte ich manchmal noch Herzklopfen, wenn sie etwas später als angekündigt nach Hause kam und plötzlich in der Wohnung stand, als sei sie noch nie zuvor da gewesen.
Eines Tages zeigte mir Magdalena ein Inserat in der Zeitung. Das Fernsehen suchte Drehbuchautoren für neue Serien. Das wäre doch etwas für uns, sagte sie. Du schreibst die Drehbücher, und ich spiele die Hauptrolle. Wir werden reich und berühmt wie Marilyn Monroe und Arthur Miller. Diese Geschichte ging aber schlecht aus, sagte ich und bewarb mich trotzdem. Ich entwarf ein paar Ideen, schrieb einige Probeszenen und schickte sie an die Redaktion. Ich wurde zu einem Gespräch eingeladen, in dem man mir mitteilte, dass meine Ideen sich nicht umsetzen ließen, aber dass man in meinen Texten ein gewisses Potential sehe. Ich machte mich noch einmal an die Arbeit und schlug dem Sender eine Serie vor, die in einer meteorologischen Forschungsanstalt in den Bergen spielte. Einige Monate lang war ich in regelmäßigem Kontakt mit den Fernsehleuten. Sie drängten mich zu immer massentauglicheren Texten, schickten mir Beispiele von Drehbüchern, die sie für gut hielten, und eliminierten nach und nach alles aus meinen Dialogen, was ich für originell und witzig hielt. Immerhin wurde ich für meine Arbeit nicht schlecht bezahlt und bekam schließlich sogar eine Einladung, mit einem Redakteur und einem Regisseur an einem Drehbuchworkshop in Stockholm teilzunehmen, der von einem amerikanischen Fernsehautor geleitet wurde.
Ich hatte gehofft, ein bisschen etwas von der Stadt zu sehen, stattdessen saß ich den ganzen Tag mit Autorinnen und Autoren aus halb Europa im Sitzungszimmer eines anonymen Hotels und hörte mir an, wie der Amerikaner über story lines und plot points sprach und uns mit gespielter Begeisterung aufzubauen versuchte. Nichts kann euch aufhalten außer ihr selbst, sagte er und verteilte Merkblätter mit Tipps und Tricks und tat, als müsse man nur seinen Ratschlägen folgen, um zu einem gefeierten Fernsehautor zu werden. Ich fragte mich, weshalb er es nötig hatte, in schwedischen Mittelklassehotels Workshops zu leiten, wenn er die Geheimnisse des erfolgreichen Schreibens so gut kannte. Überhaupt deprimierte mich alles, der großmäulige Amerikaner, die eifrig mitschreibenden Teilnehmer, die zwei Fernsehleute, die mit mir da waren und mich behandelten wie der Anfänger, der ich ja war. Magdalena verbrachte die Tage in der Stadt und erzählte mir, wenn wir uns am späten Nachmittag trafen, was sie gemacht hatte. Abends gingen alle Teilnehmer und der Leiter des Workshops zusammen essen. Am ersten Abend kam Magdalena noch mit, aber sie schien sich noch mehr zu langweilen als ich mich und sagte, als wir um Mitternacht ins Zimmer zurückkamen, ein Autor sei mehr als genug für sie, sie werde morgen alleine essen und danach vielleicht ins Theater oder ins Kino gehen.
Während ich Lena gefolgt war, hatte ich mich gefragt, ob wohl auch meiner Magdalena vor sechzehn Jahren jemand nachgegangen war, ob ich nicht nur einen Doppelgänger hatte, sondern selbst einer war, Teil einer endlosen Kette immer gleicher Leben, die sich durch die Geschichte zog. Ich versuchte mich zu erinnern, was Magdalena mir damals von ihren Tagen erzählt hatte, ob sie auf dem Waldfriedhof gewesen war mit einem Mann, der ihr eine verrückte Geschichte erzählt hatte. Aber hätte sie das überhaupt zugegeben? Hätte sie ihm geglaubt? Glaubte Lena mir?
Sie ging in ein paar Geschäfte, schaute sich Kleider an, Schuhe, Wohnaccessoires. Sie kaufte ein rotbemaltes Holzpferd, zwei gläserne Windlichter und ein T-Shirt mit der Aufschrift, I love Swedish Girls. Mittags aß sie in einem kleinen Café. Aus Angst, sie aus den Augen zu verlieren, wartete ich vor dem Lokal und sah durch die großen Fenster, wie sie sich lachend mit der Bedienung unterhielt und diese mit den Armen gestikulierte, als erkläre sie ihr einen Weg. Nach dem Essen wählte Lena ihre Richtung noch zielstrebiger und führte mich zum Nationalmuseum, einem klassizistischen Gebäude, das direkt am Wasser stand.
Es waren kaum Besucher da, und ich folgte ihr durch die stillen Räume. Die Bilder hingen dicht, oft eines über dem anderen, und in einigen Räumen standen Skulpturen und Stellwände mit noch mehr Gemälden. Lena schien sich nicht sonderlich für die Kunst zu interessieren. Sie durchquerte die Säle, ohne anzuhalten, als müsse sie einen Parcours abschreiten oder als sei sie auf der Suche nach etwas oder jemand. Einzig bei einigen Stillleben blieb sie stehen. Nachdem sie weitergegangen war, betrachtete auch ich die Bilder, sie stammten von einem holländischen Maler des 17. Jahrhunderts und zeigten die kunstvoll angeordnete Beute von erfolgreichen Jagden, tote Füchse, Vögel und Hasen. Auf einem Bild waren zudem zwei Hunde zu sehen, auf einem anderen eine Katze, die ihre Krallen nach den toten Vögeln ausstreckte.
Lena war weitergegangen, aber ich holte sie schnell wieder ein. Sie hatte sich zwei Räume weiter auf eine Bank gesetzt und schaute gedankenverloren vor sich hin. Sie schien nicht bemerkt zu haben, dass ich den Saal betreten hatte. Ich verzog mich in eine Ecke und tat, als betrachte ich ein Bild, einen Frauenakt von Bonnard, dabei schielte ich immer wieder zu ihr hinüber. Endlich stand sie auf, drehte sich mit einer entschlossenen Bewegung um und ging schnellen Schrittes durch die Räume, aus denen sie gekommen war, aus dem Museum hinaus und zurück zum Hotel. Ich war völlig erschöpft, nicht vom schnellen Marsch durch die Stadt, sondern von meinen Gefühlen. Ich schrieb in der Lobby eine kurze Notiz und bat den Portier, sie auf Lenas Zimmer bringen zu lassen. Bitte kommen Sie morgen um vierzehn Uhr zum Waldfriedhof. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.