Wie seltsam, sagte Lena, ich habe Sie gestern im Museum nicht gesehen. Auch den Rest des Tages habe ich nicht gemerkt, dass mir jemand folgte. Eigentlich hätte ich allen Grund, wütend auf Sie zu sein, sagte sie, aber ich schaffe es nicht, Ihnen irgendetwas übelzunehmen, ich weiß auch nicht, weshalb. Manchmal kommt es mir tatsächlich vor, als würden wir uns schon lange kennen. Was hat Sie an diesen Jagdbildern so interessiert?, fragte ich. Ich weiß nicht, sagte sie, vielleicht die Ruhe, die sie ausstrahlen? Die Stille nach der Jagd. Die Stille nach dem Tod?, fragte ich. Sie schien nachzudenken. Nach einer Weile sagte sie, aber wie kann das sein? Wenn er ist wie Sie und ich wie Ihre Magdalena und wenn wir dasselbe Leben führen wie Sie beide vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, dann müssten doch auch unsere Eltern dieselben sein und unsere Freunde, die Häuser, in denen wir leben, die Inszenierungen, in denen ich und Ihre Magdalena aufgetreten sind, die Texte, die Chris und Sie schreiben. Dann müsste die ganze Welt sich verdoppelt haben. Und das hat sie nicht. Nein, sagte ich, das hat sie nicht. Es gibt Unterschiede, Abweichungen. Es sind die Fehler, die Asymmetrien, die unser Leben überhaupt erst möglich machen. Ich habe einmal mit einem Physiker gesprochen, der mir erklärt hat, das ganze Universum basiere auf einem kleinen Fehler, einem winzigen Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie, das beim Urknall entstanden sein muss. Hätte es diesen Fehler nicht gegeben, hätten sich Materie und Antimaterie längst wieder aufgehoben und es existierte gar nichts. Müsste denn nicht jede kleinste Abweichung sich vervielfältigen?, fragte Lena, jede Entscheidung, die er oder ich anders treffen als damals Sie und Magdalena, zu wieder und wieder anderen führen? Das würde man denken, sagte ich, aber Sie kommen immer wieder auf den richtigen Weg zurück. Als hätte, was Sie tun, keinen Einfluss auf das, was geschieht. Es ist, wie wenn ein Stück von verschiedenen Regisseuren inszeniert wird. Die Bilder sind andere, sogar der Text kann geändert oder gekürzt werden, aber die Handlung nimmt ihren unabwendbaren Lauf.
Lena blieb stehen und zog ihr Handy heraus. Ich muss mich kurz bei Chris melden, sagte sie und tippte eine Nachricht. Ich schreibe ihm, dass ich im Theater bin. Der Abend gestern mit den Drehbuchautoren war wirklich todlangweilig. Er wird Ihnen nicht glauben, sagte ich, er wird eifersüchtig sein. War das damals so?, fragte sie und steckte das Handy wieder ein. Damals hatten wir noch keine Handys, sagte ich. Magdalena war nicht da, als ich zurück ins Hotel kam. Wir hatten uns am Morgen gestritten, und wenn sie wütend auf mich war, zog sie sich oft zurück. Wenn sie dann wieder auftauchte, tat sie, als sei nichts geschehen.
Es ist wahr, sagte Lena, ich habe Fräulein Julie gespielt, und er hat mir beim Lernen der Rolle geholfen, und da haben wir uns zum ersten Mal geküsst. Ich wandte mich ihr zu. Sie vermied es, mich anzuschauen, aber trotz des schwachen Lichts der Straßenlampen sah ich, dass sie errötet war. Mir ist gerade eingefallen, was Sie alles von mir wissen müssten, wenn Ihre Geschichte wirklich stimmt. Ich meine … nicht nur, wohin wir in die Ferien gefahren sind, worüber wir geredet haben, was wir erlebt haben. Sondern auch ganz private, intime Dinge. Dass Sie die Zahnpastatube nicht richtig ausdrücken? Noch ein bisschen intimer, sagte Lena.
Ich schwieg, ich wollte sie nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. Ich musste daran denken, wie wir uns an jenem Nachmittag zum ersten Mal geliebt hatten. Magdalena war seltsam spröde gewesen. Ihre Lippen waren trocken, vielleicht wegen des Fiebers, und sie erwiderte meine Küsse kaum, wehrte sich aber auch nicht gegen sie. Als ich ihr das Nachthemd auszog, wirkte sie teilnahmslos, ließ es geschehen wie eine unabänderliche Notwendigkeit. Nach einer Weile sagte sie, komm mit ins Bett, das geht besser.
Später ließen wir manchmal ganze Nächte lang nicht voneinander ab. Dabei schien es nicht um den Sex zu gehen, es war, als empfänden wir beide eine Art Hunger, der nicht zu stillen war, das Bedürfnis, uns ganz nah zu sein, ineinander aufzugehen. Wir lagen völlig erschöpft nebeneinander auf dem Bett, Magdalena stützte den Kopf auf eine Hand und betrachtete mich mit neugierigem Blick. Ich zog sie an mich und küsste sie, und wir fingen von neuem an, uns zu lieben, bis einer von uns irgendwann wegdämmerte.