Ich weiß nicht, weshalb ich mich entschloss, meinem Doppelgänger die ganze Geschichte zu erzählen. Vielleicht, weil sie mir plötzlich selbst wie eine Anekdote vorkam, eine jener Stadtlegenden, die der Freund eines Freundes erlebt hat und die einer dem anderen weitererzählt, ohne dass irgendjemand daran glaubt. Als Chris an einer Ampel stehen blieb, trat ich neben ihn, grüßte und fragte, ob er etwas Zeit habe. Er schien zu erschrecken, in seinem Dialekt angesprochen zu werden, aber dann sagte er, ja, klar, er habe nichts Bestimmtes vor. Auch ich erschrak, nicht wegen der Ähnlichkeit, die er mit meinem früheren Ich hatte, sondern wegen der Unterschiede, die mir sofort auffielen. Es war weniger sein Aussehen als seine Art zu sprechen und sich zu bewegen, die etwas Künstliches hatte. Selbst seine Freundlichkeit schien nur gespielt, unter der Maske seines Lächelns sah ich etwas Verkniffenes, Verkrampftes, wie ich es von Menschen kannte, die ihre wahren Beweggründe verbargen, aber ihre Ziele ohne Rücksicht auf andere verfolgten. Ich konnte nicht glauben, dass mein Gesicht vor sechzehn Jahren so ausgesehen hatte. Er war mir auf Anhieb unsympathisch, aber es war zu spät, meinen Plan noch zu ändern.
Chris war unterwegs zur Barceloneta, einem alten Stadtviertel direkt am Meer, in dem früher vor allem Fischer und Fabrikarbeiter gewohnt hatten, das inzwischen aber fast so touristisch war wie die Altstadt um die Ramblas. Er sagte, er habe an den Strand gewollt. Ich bringe Sie hin, sagte ich, ich kenne mich hier aus. Ich führte ihn durch eine der langen, schmalen Straßen, die das Viertel in einem Raster durchziehen. Obwohl ich das Meer liebte, kam ich nicht oft hierher. Wenn ich an den Strand wollte, fuhr ich mit dem Zug in einen der kleinen Orte nördlich der Stadt, nach Mataró oder Caldetas, wo die Strände weniger belebt waren und wo vor allem Einheimische badeten.
Die Häuser sahen heruntergekommen aus, die meisten Fenster in den Erdgeschossen waren vergittert. Die Straße lag schon im Schatten, nur die obersten Stockwerke der Häuser wurden noch von der Sonne beschienen. Dort hing auf manchen Balkonen Wäsche zum Trocknen. In den Straßen vermischten sich Küchengerüche mit dem salzigen Wind, der vom Meer her wehte und über unsere Körper strich wie Hände, die nach uns griffen. Von der Promenade, die von zerzausten Palmen gesäumt war, führten Treppen hinunter zum Strand. Am Horizont war ein Kreuzfahrtschiff zu sehen.
Während wir gingen, erzählte ich Chris meine ganze Geschichte, unsere Geschichte. Irgendwann setzten wir uns in den Sand und tranken Bier, das wir unterwegs in einem kleinen Supermarkt gekauft hatten, und ich erzählte weiter. In unserem Rücken näherte sich die Sonne dem Horizont und ließ unsere Schatten immer länger werden. Die Hochsitze der Rettungsschwimmer waren verwaist, aber es waren immer noch Leute im Wasser, andere spielten Beachvolleyball oder spazierten hin und her. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass die Vögel, die im Sand nach Futter suchten, keine Möwen waren, sondern Tauben.
Nachdem ich geendet und Chris eine Weile lang nachgedacht hatte, begann er mir Fragen zu stellen über unsere Kindheit und Jugend, präzise Fragen über Dinge, die außer uns niemand wissen konnte. Gab ich die richtige Antwort, nickte er kurz und stellte die nächste Frage. Wenn ihn meine Antwort nicht befriedigte, schüttelte er den Kopf und sagte, sehen Sie! Es gibt Abweichungen, sagte ich, natürlich gibt es Abweichungen. Es ist nicht möglich, sagte er. Die Geschichte ist zu verrückt, und für einen Traum hat unser Gespräch schon zu lange gedauert. Wie soll dieses Buch noch mal heißen, das ich in ein paar Jahren schreiben werde und das Sie längst publiziert haben wollen? Ich nannte ihm den Titel, und er zog sein Mobiltelefon heraus, tippte darauf herum und sagte mit einem boshaften Lächeln, das Buch gibt es nicht. Dann ist es vergriffen, sagte ich, nach so vielen Jahren wäre das kein Wunder. Er tippte weiter auf dem Gerät herum. Auch antiquarisch ist es nicht erhältlich, sagte er schließlich, und im Katalog der Zentralbibliothek ist es ebenfalls nicht zu finden. Ich weiß, dass die Bibliothek das Buch angeschafft hat, sagte ich, sie kaufen alle Bücher, die in der Schweiz erscheinen. Ich war mit Magdalena einmal da. Wir haben es bestellt, und dann hat sie gemeint, ich solle es signieren. Eine Angestellte hat mich dabei erwischt und einen Riesenaufstand gemacht und gesagt, das sei Zerstörung öffentlichen Eigentums. Vielleicht wurde das Buch deshalb entfernt. Die Szene ist aus einem Film, sagte Chris.