Wir liefen an einer sechsspurigen Straße entlang, einem Bretterzaun, hinter dem eine riesige Baustelle lag. Ein kalter Wind blies uns ins Gesicht, aber Lena beklagte sich nicht, sie ging neben mir her, als hätte sie nie etwas anderes getan. Endlich kamen wir zu einer hellerleuchteten Kreuzung, an der eine Tankstelle lag und gegenüber das Universitätsgelände. Die Gebäude der Universität hatten etwas seelenlos Modernes, aber das warme Licht in den Fenstern strahlte Geborgenheit aus. Wollen wir uns ein wenig aufwärmen?, fragte Lena, als wir vor dem Studentenhaus ankamen. Nicht hier, sagte ich und führte sie um den Gebäudekomplex herum. Von der Autostraße drang ein konstantes Rauschen herüber. Auf den Grünflächen des Campus lag etwas mehr Schnee als im Inneren der Stadt, aber die Wege waren geräumt.
Sie kennen sich hier aus?, fragte Lena. Natürlich, sagte ich, ich war schon einmal hier vor langer Zeit. Mit mir?, fragte sie. Nein, sagte ich und hielt ihr die Tür zur Bibliothek auf.
Der Eingangsbereich war menschenleer, nur am Informationsschalter saß ein Angestellter und spielte auf seinem Smartphone herum. Wir gingen eine breite Treppe hoch in den oberen Stock. Dort war die Freihandabteilung mit langen Holzregalen und Arbeitstischen. An den Wänden hingen Schilder, die zur Ruhe ermahnten. Nur noch wenige Arbeitsplätze waren besetzt. Keiner der Benutzer hatte ein Buch vor sich, alle arbeiteten an ihren Laptops, manche mit Kopfhörern, ihre Gesichter wirkten abwesend, als befände sich ihr Bewusstsein in einem anderen Raum. Als ich an der Uni war, ging man in die Bibliothek, um Leute kennenzulernen, sagte ich. Man tauschte Blicke, traf sich in der Cafeteria oder beim Rauchen vor der Tür.
Wir gingen durch die engstehenden Regale. Die Bücher waren nach einem schwer durchschaubaren System geordnet. Lena zog einen dicken Band aus einem der Regale, eine zerlesene Anthologie englischer Lyrik, und blätterte sie durch. Haben Sie jemals Gedichte geschrieben?, fragte sie. Jemand hat mal gesagt, Prosaautoren schrieben über die Welt, Lyriker über sich selbst, sagte ich. Glauben Sie, das stimmt?, fragte Lena. Ich zuckte mit den Schultern. Vielleicht stimmt auch das Gegenteil.
Ich nahm ihr den Band aus der Hand und suchte im Verzeichnis ein Gedicht von Robert Frost, das ich ihr vorlesen wollte, aber als ich es aufgeschlagen hatte, fiel mein Blick auf ein anderes, das mir noch passender erschien. Ich las für mich die ersten Zeilen. Als ich aufblickte, um Lena das Gedicht zu zeigen, war sie schon weitergegangen, und ich stellte den Band zurück ins Regal.
Lena ging vor mir her, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, hörte nur ihre zögernde Stimme. Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass alles nur Einbildung sein könnte? Ich habe längst aufgehört, mich das zu fragen, sagte ich. Ich glaube nicht, dass ich verrückt bin, aber wenn ich verrückt wäre, woher sollte ich es wissen? Ich tue, was ich zu tun habe. Ich möchte Ihnen gerne glauben, sagte sie. Ich will gar nicht wissen, was die Zukunft mir bringt, aber ich mag die Vorstellung, dass sie festgeschrieben ist, dass alles, was mir geschieht, schon einmal jemandem geschehen ist, einen Zusammenhang hat und einen Sinn ergibt. Als wäre mein Leben eine Geschichte. Ich glaube, das ist es, was ich an Büchern immer gemocht habe. Dass sie unabänderlich sind. Man muss sie gar nicht lesen. Es reicht, sie zu besitzen, sie in die Hand zu nehmen und zu wissen, dass sie immer so bleiben, wie sie sind. Sie setzte sich an einen der Arbeitsplätze, und ich setzte mich ihr schräg gegenüber. Wie spät ist es?, fragte sie. Ich glaube, die Bibliothek schließt bald, sagte ich und stand auf. Natürlich habe ich an mir gezweifelt. Diese ganze Geschichte macht mich verrückt. Aber was soll ich tun? Vermutlich waren es gerade diese Zweifel, die dazu führten, dass ich die Sache nicht auf sich beruhen ließ. Ich hatte Chris in Barcelona so viel von Magdalena erzählt, dass es für ihn ein Leichtes sein würde, Sie zu finden. Wenn er tatsächlich mein Doppelgänger ist, dann kann ich nichts tun, um ihn aufzuhalten. Aber wenn ich mir alles nur einbilde, dann habe ich Sie ihm ausgeliefert, als ich ihm Ihren Namen nannte. Dann bin ich verantwortlich für das, was geschehen wird.