Captain Mo und seine Fürchterlichen Fünf

»Was duftet denn hier so herrlich?«, fragte Leni, die gerade wieder in die Küche kam.

»Pfannkuchen!«, riefen Ida, Tilda, Mo und Fee wie aus einem Mund. Sie saßen gemütlich um den Küchentisch und in der Mitte stapelte sich ein riesiger Haufen Pfannkuchen. Daneben verschiedene Töpfe mit Honig in allen möglichen Honigfarben.

Frau Honig stand noch am Herd und goss immer wieder Teig in die Pfanne. Wie das Kindermädchen mit nur einem Ei so einen Berg Pfannkuchen hatte backen können, war den Kindern allerdings ein Rätsel. Und noch ein viel größeres Rätsel war die Tatsache, dass sie kurz nachdem sie in den Garten gegangen war, tatsächlich mit einem Ei, das Fräulein Omelett gelegt hatte, wieder in die Küche gekommen war. Es war das schönste und größte Ei, das die Kinder jemals gesehen hatten.

»Wie hast du das mit Fräulein Omelett gemacht, Frau Honig?«, fragte Tilda mit vollem Mund.

»Ich habe einfach nur mit ihr geredet«, antwortete diese.

»Ich rede auch mit ihr, jeden Tag von früh bis spät, und sie hat noch nie ein Ei gelegt«, sagte Tilda und biss erneut in ihren Pfannkuchen.

»Manchmal kommt es nicht darauf an, wie viel man sagt, sondern was man sagt. Oder anders: In der Kürze liegt die Würze oder auch: Mit vielen Worten legst du keine Eier!« Sie nahm einen extragroßen Teller, schichtete einen riesigen Pfannkuchenberg darauf und brachte ihn hinauf in den ersten Stock zu Frau Kramer.

Frau Kramer staunte nicht schlecht, als Frau Honig mit den duftenden Pfannkuchen in ihrem Zimmer erschien. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal Pfannkuchen gegessen hatte.

»Manchmal vergisst man, wie gut die einfachsten Gerichte schmecken«, sagte sie, schloss genießerisch die Augen und ließ ein weiteres Stück Pfannkuchen auf ihrer Zunge zergehen. Doch dann fuhr sie hoch. »Ach herrje, ich glaube, wir haben völlig vergessen einzukaufen. Ich schicke Leni direkt morgen los!«, sagte Frau Kramer entschuldigend, als sie an die Leere ihres Kühlschranks dachte. »Wann ist doch gleich der Erste des Monats?«, fragte sie dann, da sie wusste, dass gegen Monatsende das Geld knapp wurde. Denn Herr Kramer bekam sein Gehalt immer zum Monatsanfang. Er war Bäcker und musste täglich um ein Uhr nachts mit seiner Arbeit beginnen. Zur Mittagszeit hatte er Feierabend, legte sich dann allerdings ins Bett, um den versäumten Schlaf nachzuholen. Er schlief meist in einem der beiden Kinderzimmer, um seine Frau nicht zu stören oder nicht von seiner Frau beim Schlafen gestört zu werden. Für die Kinder galt es, sich zwischen 12 und 18 Uhr im ersten Stock leise zu verhalten. Und manchmal arbeitete Herr Kramer dann sogar noch zwei Stunden in einer Konditorei als Aushilfe. Das Gute an seinem Beruf war, dass die Familie immer mit leckeren Broten und Gebäck und süßen Teilchen versorgt war, denn Herr Kramer durfte übrig gebliebene Backwaren einfach mitnehmen. Und übrig blieb jeden Tag eine ganze Menge.

Frau Honig, die sich auf die Bettkante gesetzt hatte, beruhigte die schwangere Frau. »Das kriegen wir schon alles hin!«

»Wir?«, fragte Frau Kramer. »Sie und die Bienen?«

Frau Honig lachte. »Die Bienen, Ihre Kinder und ich! Machen Sie sich jetzt nicht so viele Sorgen. Ihrem Baby da in Ihrem Bauch müssen Sie doch Fröhlichkeit mitgeben. Sonst denkt es, die Welt ist eine einzige Sorgenkugel. Und daher habe ich jetzt eine Aufgabe für Sie, Frau Kramer. Jeden Morgen und jeden Abend erzählen Sie Ihrem Baby eine lustige Geschichte, damit es was zu lachen hat!«

»Ach, Frau Honig, meine lustigen Geschichten sind irgendwo tief in den dunkelsten Schubladen meiner Kommode verschwunden.«

»Na, dann wissen Sie ja wenigstens, wo sie zu finden sind!«

Jetzt lachte Frau Kramer. Es war ein leises Lachen, so als müssten sich ihr Mund und ihre Stimmbänder erst wieder an diese Funktion gewöhnen.

»Das ist doch ein guter Anfang«, sagte Frau Honig und ging leise aus dem Zimmer.

Im ersten Stock war alles ruhig. Doch aus einem der Zimmer hörte Frau Honig Leni, die ihren Geschwistern eine Geschichte erzählte. Zaghaft öffnete Frau Honig die Tür. Da saßen die fünf Kinder der Familie Kramer im Bett. Alle kuschelten sich eng aneinander und lauschten der spannenden Geschichte, die ihre große Schwester für sie erfunden hatte.

»Augenklappen-Tilda stieg hoch in die Takelage und rief durch den Sturm zu Ome Lette, dem Piratenhuhn, hinauf. Das Huhn saß als Falke im Krähennest und hielt nach der Insel Ausschau, die Captain Mo und seine Fürchterlichen Fünf seit Monaten suchten.«

»Warum ham die die Insel desucht?«, fragte Fee.

»Das hab ich doch gestern schon erzählt, Fee. Es ist die Insel, auf der der Schatz zu finden ist. Und wenn sie den haben, dann wird es ihnen an nichts mehr fehlen. Und sie werden glücklich und reich sein bis an ihr Lebensende«, erzählte Leni geduldig.

»Du bist gestern eingeschlafen, Fee, und hast die Hälfte der Geschichte verpasst«, sagte Mo und zog die Decke ein Stückchen weiter über sich.

»Bin is auch in der Gesichte drin?«, fragte Fee.

»Na klar, du bist doch Lingfang-Fee, der Smutje«, erklärte Tilda.

»Was is ein Smute? Ist der wistis?«, wollte Fee wissen.

»Ein Smutje ist der wichtigste Mann an Bord, denn ohne den Smutje würden alle verhungern!«, begann Leni.

»Und dann könnten sie keinen Schatz finden, wenn sie verhungert wären«, ergänzte Tilda.

»Erzähl weiter, Leni!«, bat Mo, und Leni folgte seiner Bitte.

»›Siehst du die Insel?‹, rief Augenklappen-Tilda, aber der Sturm war so mächtig, dass ihre Stimme einfach vom Wind fortgetragen wurde und irgendwo ankam, wo sie niemand verstand. Capitain Mo war inzwischen unten bei Stiefelriemen-Ida und gemeinsam hielten sie das Steuerrad fest. Das Schiff schaukelte hin und her …«

Frau Honig schloss lautlos die Tür. Lächelnd stieg sie die Stufen hinunter. Als sie an der Haustür vorbeikam, wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und ein Mann trat ein, zwei große Brote unter dem Arm.

Er erschrak, als er Frau Honig im Flur stehen sah.

»Nicht erschrecken! Die VFFDDEWUB schickt mich und ich bin Ihr neues Kindermädchen. Ich werde mich um Ihre Kinder und Ihre Frau kümmern, bis das Baby da ist. Sie haben zwar eigentlich keinen Platz, aber ich habe mir ein bisschen Platz geschaffen. In Ihrem Gartenhaus. Wussten Sie übrigens, dass Sie einen Garten haben? Und wussten Sie, dass da sogar ein kleines Haus drin steht? Leider sind ein paar Möbel weggeflogen, aber ich bin mir sicher, Sie werden sie nicht vermissen. Und ich wollte Ihnen außerdem noch sagen, dass Ihr Familienhuhn ein sehr vernünftiges Tier ist, mit dem man gut reden kann. Ich freu mich jedenfalls, hier zu sein. Möchten Sie Pfannkuchen?« Frau Honig drückte dem verdutzten Herrn Kramer den leeren Teller in die Hand, den sie von Frau Kramer mit hinuntergenommen hatte, ging in die Küche und warf drei Pfannkuchen hintereinander wie kleine Frisbeescheiben zur Küchentür hinaus. Sie landeten brav auf Herrn Kramers Teller.

Dieser bemerkte den Flug der Pfannkuchen gar nicht, denn sein Blick wanderte in diesem Moment zur Hintertür. Doch als er gerade einen Kommentar über seinen Garten abgeben wollte, guckte er auf seinen Teller, der nun mit drei herrlichen duftenden Pfannkuchen gefüllt war. Und obwohl Herr Kramer selbst Bäcker war, hätte er schwören können, noch nie so herrliche Pfannkuchen gegessen zu haben.

»Äh, ja, also dann, willkommen, Frau Pfannkuchen, äh, Honig, Frau Honig«, sagte Herr Kramer verwirrt, denn dieser Empfang hatte ihn leicht aus der Fassung gebracht.

»Müssen wir heute in die Schule gehen?«, fragte Mo, als er die Stufen herunterkam und in der Küche am gedeckten Frühstückstisch Platz nahm.

»Was gäbe es für einen Grund, nicht in die Schule zu gehen?«, fragte Frau Honig und ließ ein wunderschönes Spiegelei aus der Pfanne auf Mos Teller gleiten.

»Wir haben Eier?«, fragte Tilda und setzte sich neben ihren Bruder. »Wieso haben wir Eier?«

»Weil du ein ziemlich schlaues Huhn hast, Tilda!«, antwortete Frau Honig. »Und weil ich gestern bei diesem unglaublich schlauen Huhn eine Bestellung aufgegeben habe. Weißt du, Tilda, es genügt nicht, einem Huhn immer wieder zu sagen: Leg doch mal ein Ei . Denn das kleine Wörtchen mal ist ein dehnbarer Begriff. Mal , das könnte auch in fünfzig Jahren sein. Oder in hundert. Wenn ich zu dir sage: Räum doch mal euer Zimmer auf! Dann wirst du wahrscheinlich auch nicht direkt nach oben gehen und aufräumen. Es braucht konkrete Anweisungen. Daher hab ich gestern zu deinem Huhn gesagt: Fräulein Omelett, wir bräuchten bitte morgen, um 7.30 Uhr, fünf wundervolle Eier, für jedes Kind eines, wenn es nicht zu viele Umstände macht! « Frau Honig sah sehr zufrieden aus.

»Also müssen wir heute in die Schule?«, hakte Mo noch einmal nach.

»Wenn die Kinder in meiner Klasse ein neues Geschwisterchen bekommen oder jemand gestorben ist, dann müssen die nicht in die Schule. Damit sie das Geschwisterkind kennenlernen oder sich von den Toten verabschieden und alles verarbeiten können. Ich dachte, wenn man ein Kindermädchen bekommt, ist das vielleicht auch so. Wir müssen dich ja auch erst mal kennenlernen und verarbeiten.«

Frau Honig lachte. »Ihr werdet mich schon noch richtig kennenlernen und zum Verarbeiten ist auch noch genug Zeit. Also hoppla-di-hoppo – auf geht’s zur Schule. Wo sind eigentlich Leni und Fee?«, fragte Frau Honig und guckte auf die Teller, die sie für die Mädchen bereitgestellt hatte.

»Leni macht Fee fertig für den Kindergarten. Außerdem steht sie immer etwas später auf, weil sie ja auch so spät ins Bett geht, und deshalb frühstückt sie nie«, erklärte Tilda dem Kindermädchen.

»Aha«, sagte Frau Honig und verließ sogleich die Küche, um nach Leni zu sehen.

»Zähne putzen, Fee! Mach schon, schnell, sonst komm ich zu spät in die Schule!« Leni klang ungeduldig.

»Is will aber nis. Zähne putzen is langweilis!«, protestierte die kleine Fee.

Frau Honig öffnete die Tür zum Bad. »Kann ich euch helfen?«, fragte sie vorsichtig.

Leni stöhnte. »Das ist jeden Tag ein Theater«, seufzte sie. »Haare kämmen, Zähne putzen, anziehen! Und meistens kommt Fee zu spät in den Kindergarten und ich zu spät in die Schule.«

»Weißt du was, Leni? Jetzt bin ich ja da. Und ein Kindermädchen würde nicht Kindermädchen heißen, wenn sie sich nicht um die Kinder kümmern würde. Du gehst jetzt runter und frühstückst, und ich werde ab heute Fee fertig machen und in den Kindergarten bringen. Einverstanden?«

Leni sah von Frau Honig zu Fee, als würde sie dem Kindermädchen die Arbeit nicht zutrauen. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte oder sauer, dass man ihr ihre wichtige Aufgabe wegnahm. Ohne ein Wort verließ sie das Bad und ging in die Küche.

Fee sah Frau Honig an, verschränkte die Ärmchen vor der Brust und presste die Lippen fest aufeinander.

»So, du willst also nicht Zähne putzen?« Frau Honig hockte sich vor dem Kind einfach auf den Boden. Fee schüttelte den Kopf. »Weil du es langweilig findest?« Jetzt nickte Fee, immer noch mit zusammengepressten Lippen. »Und weil dir die Zahnpasta nicht schmeckt?« Fee nickte erneut. »Und weil es nicht so leicht ist, so viel Zahnpasta im Mund zu haben und sie nicht runterschlucken zu dürfen.« Wieder nickte Fee bestätigend. »Verstehe!« Frau Honig sah an die Decke und überlegte. »Aber weißt du, dass sogar Feen ihre Zähne putzen?« Fee schüttelte den Kopf und bekam große Augen. »Na hör mal, das weißt du nicht? Hast du schon mal eine Fee mit schwarzen Zähnen gesehen? Ich denke, es gibt überhaupt kein Wesen auf dieser Welt, das so weiße Zähne hat und so oft die Zähne putzt wie eine Fee! Denn für eine Fee gibt es nichts Schöneres als ein Lächeln, das eine Fee der anderen schenken kann. Und was wäre ein Lächeln mit schwarzen Zähnen?«

»Seuslich. Das wär seuslich!«, sagte Fee und nickte zur Bestätigung noch einmal.

»Also, Fee, wenn du auf deiner kleinen Flöte spielst und die Feen angeflogen kommen und dir als Dank für dein schönes Spiel ein Lächeln schenken, wäre es da nicht sehr schade, du müsstest deinen Mund geschlossen halten, weil du schwarze Zähne hättest?« Frau Honig sah Fee ernst an.

Fee überlegte eine Weile. Dann nickte sie erneut und sperrte ihren Mund weit auf.

»Na so was«, rief Frau Honig überrascht aus, »ihr habt ja sogar echte Glitzer-Feenzahnpasta! Und die riecht nach …«, Frau Honig hatte eine Tube in der Hand, die Fee noch nie zuvor gesehen hatte, und roch daran, »nach Gugelhupf mit Sahne!«

»Mein Lieblinstuchen!«, rief die Kleine erfreut aus und konnte es kaum abwarten, bis Frau Honig die Zahnpasta auf die Zahnbürste drückte. »Die dlitzert«, flüsterte sie und sperrte den Mund gleich noch ein Stückchen weiter auf.

Kaum waren die Zähne sauber, fragte Fee: »Bekomm is jetz eine Belohnung? Weil is so dut Zähne deputzt hab?«

Frau Honig stellte die Kleine auf einen Hocker, damit sie sich im Spiegel sehen konnte. »Lächle mal, Fee!«, sagte sie, und das kleine Mädchen grinste ihr Spiegelbild an. Fees Zähne waren strahlend weiß und es sah aus, als würden sie fast ein wenig glitzern. Frau Honig raunte leise, als würde sie Fee ein Geheimnis anvertrauen: »Die Belohnung für schönes Zähneputzen sind schöne Zähne!«

Und das kleine Mädchen lächelte sogar noch, als Frau Honig es eine halbe Stunde später in den Kindergarten brachte.

»Saut mal meine sönen Zähne an!«, rief sie dem alten Ehepaar Piepenbrock zu, das am Fenster lehnte und raussah, wie jeden Tag. »Habt ihr auch Zähne?«, fragte sie, denn noch nie hatte sie die beiden lächeln gesehen! Und natürlich lächelten sie auch nicht an diesem Tag …