Fee und die Feen

Als Frau Honig am nächsten Nachmittag in den Garten kam, saß Fee mit hängendem Kopf auf dem Boden vor einem kleinen Haufen mit Zweigen und Stöcken.

Frau Honig trat näher heran und setzte sich zu ihr. »Was ist denn passiert, Fee?«, fragte sie das Mädchen.

»Is bin gar teine Feenflöterin. Is flöt immer und nie tommt eine. Is hab den Feen ein Haus debaut und teine tommt!«, schluchzte sie.

Frau Honig sah sich um. »Es ist ja auch noch viel zu hell, Fee. Da haben die kleinen Feen Angst. Heute Abend, Fee, geh ich mit dir die Feen suchen, dann bläst du in deine Feenflöte und dann gucken wir mal, was passiert!« Frau Honig lächelte der Kleinen aufmunternd zu.

»Und du meinst, dass dann eine tommt?«, fragte Fee voller Hoffnung.

Frau Honig nickte. »Ich bin ganz sicher, denn ich weiß, dass du die beste Feenflötistin bist, die ich je kennengelernt habe!« Dann reichte sie Fee ein Taschentuch und die Kleine schnäuzte sich laut.

Am Abend stand Fee schon ganz aufgeregt vor Frau Honigs Tür. »Frau Honis, Frau Honis, es det los!«, rief sie, dann hörte sie innen den Kuckuck einmal rufen und schon öffnete sich die Tür. Frau Honig kam mit einem kleinen Körbchen Proviant heraus.

»Ja, Fee, jetzt geht es los.« Sie nahm die Kleine an der Hand und gemeinsam stapften sie aus dem Haus, die Straße hinunter und über die Felder.

Am Waldrand hielten sie an. Die Sonne war bereits untergegangen und der Mond sah über die Wipfel der Bäume.

»Hier sind wir, glaub ich, richtig! Richtiger Ort, richtige Zeit!« Frau Honig sah sich um, breitete eine Decke aus, auf der sie Platz nahmen, und holte aus dem Korb zwei belegte Brote und zwei Flaschen Wasser. »Erst stärken wir uns, du brauchst viel Puste, um die Feen anzulocken«, sagte Frau Honig und biss genüsslich in ihr Brot.

Fee brachte fast keinen Bissen hinunter, so aufgeregt war sie. »Jetzt?«, fragte sie. »Ist es jetzt so weit?« Frau Honig nickte. Dann stand Fee auf und blies in ihre Panflöte. Sie spielte eine kleine Melodie. Ließ ihre Lippen einmal nach rechts und einmal nach links wandern. Sie schloss die Augen, um sich besser auf das Spiel konzentrieren zu können, denn sie wollte so schön spielen, wie es noch nie zuvor eine Fee gehört hatte. Und dann öffnete sie ihre Augen. Um sie herum war es hell. Denn sie war umgeben von vielen kleinen leuchtenden Punkten. »Sie sind detommt«, flüsterte sie staunend und hielt ihre Hand auf. Ein Glitzerpunkt setzte sich darauf. »Is hab dedenkt, ihr seid viel größer!«, sagte sie leise. Doch dann wagte Fee sich nicht mehr zu bewegen und auch nichts mehr zu sagen. Leise blies sie weiter in ihre Flöte und die Leuchtpunkte tanzten um das kleine Mädchen herum.

Frau Honig stand still daneben und beobachtete die Kleine. In ihren Augen spiegelten sich die Leuchtpunkte und sie lächelte ihr berühmtes Frau-Honig-Lächeln.

Als Frau Honig nach Hause kam, trug sie ein glücklich lächelndes schlafendes Kind über der Schulter. Vorsichtig brachte sie es in das Kinderzimmer, zog ihm das Nachthemd an und deckte es zu.

»Feen dibt es doch«, hörte sie die Kleine im Schlaf noch flüstern, dann verließ sie das Zimmer.

Am nächsten Morgen erzählte Fee von ihrem Erlebnis. In ihrer Geschichte wurden die Feen etwas größer, sie wurden auch etwas mehr an der Zahl und sie hatten sogar mit Fee geredet.

Ihre Geschwister lauschten höflich und warfen sich hin und wieder amüsierte Blicke zu.

»Das waren sicher Glühwü…« Doch weiter kam Mo nicht, denn Frau Honig verschüttete genau in diesem Moment den Orangensaft über der Hose des Jungen.

»Oh, das tut mir leid, Mo, komm schnell ins Bad, ich mach das sauber!« Mo sah Frau Honig irritiert an. So schusselig war sie doch sonst nicht. Er musste sich schnell umziehen, bevor er das Haus verlassen konnte, um in die Schule zu gehen.

Fee war glücklich. »Is hab sie deseht! Die Feen!«, rief sie Herrn und Frau Piepenbrock zu, als die Kinder mit Frau Honig das Haus verließen. Wie Statuen lehnten die Piepenbrocks aus dem Fenster, ohne eine Miene zu verziehen.

»Denkst du, Herr und Frau Piepenbrock haben einen Unterleib? Also Beine und Füße?«, flüsterte Mo und lachte, denn er hatte das Ehepaar schon lange nicht mehr auf der Straße gesehen. Egal wann Mo an ihrem Haus vorbeikam, lehnten beide oder einer von beiden am Fenster.

»Wie ein Nachrichtensprecher«, sagte Tilda. »Oder ein Ansager, die haben auch nur einen Oberkörper. Ob sich Nachrichtensprecher unten drunter eigentlich schick anziehen? Oder sitzen die in Unterhose da oder in Jogginghose?«, überlegte Mo weiter.

»Die beiden Piepenbrocks sollten dringend mal Gymnastik machen. Mit ihren Mundwinkeln. Jeden Tag zehn Minuten, dann wird das schon wieder«, flüsterte Frau Honig den Kindern zu und zog sie weiter die Straße hinauf.

»Habt ihr heute schon eure Mundgrimmastik ge macht?«, rief Fee zu den beiden Alten hinüber, die nur noch grimmiger guckten.

Tilda zog ihre eigenen Mundwinkel mit den Fingern nach oben. »Man kann auch erst mal die Finger zu Hilfe nehmen und nach einer Weile geht das wieder ganz von selbst!«, rief sie und es war überhaupt nicht böse und auch nicht frech gemeint, denn Tilda wünschte sich sehr, von diesen beiden irgendwann einmal ein Lächeln zu sehen.

»Ich wusste nicht, dass es so anstrengend sein kann, nur im Bett zu liegen. Was freu ich mich darauf, endlich wieder einmal Staub wischen zu dürfen oder zu bügeln oder all die anderen Dinge zu tun, die normalerweise unangenehm sind. Aber am meisten freu ich mich wieder darauf, mit meinen Kindern zusammen etwas zu unternehmen oder wenigstens mit ihnen zum Einkaufen zu gehen oder sie in die Schule zu bringen.«

»Das wird bald wieder so weit sein, Frau Kramer!«, beruhigte Frau Honig die junge Frau und schüttelte die Kissen auf. »Jetzt ist erst mal das kleine neue Menschlein wichtig.«

In diesem Moment kam Mo die Treppe herauf. Er legte sich zu seiner Mutter ins Bett. »Die Brille steht dir wirklich gut, mein Schatz!«, sagte Frau Kramer und besah sich ihren Sohn. »Wie konnte ich nur nicht bemerken, dass du so schlecht siehst?« Frau Kramer fasste sich an den Bauch. »Oh, das Baby scheint zu spüren, dass sein großer Bruder da ist. Es strampelt ganz wild!« Frau Kramer legte Mos Hand an ihren Bauch.

»Wirst du ein Junge?«, fragte Mo das Baby im Bauch. »Dann tritt jetzt zweimal gegen meine Hand!« Er wartete gespannt auf die Reaktion des Babys. Dann machte er große Augen. »Juhu! Es wird tatsächlich ein Bruder. Das Baby hat es mir persönlich gesagt! Ein Junge!«, jubelte er.

Frau Kramer lächelte. »Ich weiß nicht, was es wird. Die Chancen stehen 50 zu 50. Aber wenn du willst, darfst du den Namen für das Baby aussuchen, Mo!«

Mo richtete sich begeistert auf. »Wirklich, Mama?«, fragte er. Seine Mutter nickte. »Also gut, er soll den Namen eines berühmten Fußballers bekommen. Lionel, Christiano, Kevin, Luka oder Manuel. Ronaldo fände ich einen guten Zweitnamen. Manuel Ronaldo Kramer. Das klingt doch gut!«

Seine Mutter sah ihren Sohn amüsiert an. »Na ja, du hast ja noch ein bisschen Zeit, bis wir uns auf einen Namen festlegen müssen!«

»Ich finde den genialsten Namen der Welt für meinen Bruder«, sagte Mo, ging nah an den Bauch seiner Mutter heran und flüsterte: »Wir zwei, wir werden die besten Freunde, ich werde der beste große Bruder, den es gibt, und ich zeige dir, wie man Fußball spielt!«

Frau Kramer wuschelte ihrem Sohn über die langen Locken und nahm ihn in den Arm.