Im Garten war ein großer Tisch aufgestellt mit sechs Stühlen drum herum. Darüber hingen an einer Schnur einige bunte Regenschirme, die Schatten spendeten. Eine Tafel stand daneben und ein paar ordentlich nebeneinandergelegte Kreiden warteten darauf, benutzt zu werden. Gemütlich sah das aus.
»Malen wir heute was?«, fragte Tilda fröhlich.
»Nein«, antwortete Frau Honig. »Heute wird gelernt, nicht dass eigentlich immer gelernt wird – wir lernen ja den ganzen Tag von früh bis spät, ständig, aber heute lernen wir mal für die Schule!«
Die fünf Kinder, die den Garten betreten hatten, ließen die Schultern hängen.
»Hui, juhu, ja, Schule! Is will lernen!«, rief die kleine Fee und setzte sich sofort auf einen der Stühle.
»Na so was«, sagte Frau Honig. »Die Einzige, die Schule mag, ist wohl die, die noch gar nicht zur Schule geht!«
»Schule ist einfach langweilig!«, sagte Tilda und setzte sich langsam neben ihre kleine Schwester.
»Ich muss mal nach Mama schauen!« Leni wollte sich gerade zur Tür umdrehen und im Haus verschwinden, da hielt sie Frau Honig zurück.
»Gerade für dich, Leni, hab ich heute diesen gemütlichen Lerntisch im Garten aufgestellt!« Dann nahm sie Leni zur Seite, während Mo und Tilda sich an den Tisch setzten und anfingen die Hefte, die Frau Honig jedem Einzelnen auf seinen Platz gelegt hatte, durchzublättern. Frau Honig hatte für jedes Kind genau den Schulstoff bereitgelegt, der den Kindern Schwierigkeiten machte. Ida, der die Schule leichtfiel, hatte Frau Honig ein paar Bücher über Napoleon organisiert, da sie demnächst ein Referat in Geschichte über den französischen Kaiser halten sollte.
»Ich war in der Schule und habe mit deiner Lehrerin, Frau Pfeifer, gesprochen«, begann das Kindermädchen vorsichtig. Leni sah alarmiert auf. »Keine Angst, Leni, alles ist gut. Ich hab ihr ein wenig von deiner derzeitigen Lebenssituation erzählt. Lehrer sind auch nur Menschen, weißt du? Für die sind Schüler erst mal nur Schüler, sie haben ja keine Chance, mehr über den Einzelnen zu erfahren. Deshalb kann man manchmal auch kein Verständnis beispielsweise fürs Zuspätkommen verlangen, denn woher sollen sie wissen, dass eine Schülerin sich um ihre vier kleineren Geschwister plus ihre schwangere Mutter kümmern muss?«
Leni seufzte. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich werde sitzen bleiben«, flüsterte sie.
»Das ist noch nicht sicher. Es gibt noch ein paar Chancen, wenn du die ergreifst, kannst du es noch schaffen.« Frau Honig lächelte Leni aufmunternd an. »Und ich helfe dir dabei, so gut es geht!«
»Deht jez das Lernen los, Frau Honis?«, fragte Fee und man merkte ihr die Aufregung an.
»Jawohl! Das wird ein Spaß!« Mit diesen Worten drehte sich Frau Honig zu den wartenden Kindern um und ging auf den Tisch zu. Auch Leni setzte sich. »Mal sehen, womit wollen wir anfangen? Was mögt ihr am wenigsten?«
»Mathe!«, riefen Mo, Tilda und Leni wie aus einem Mund.
»Mathe ist ein Depp!«, murmelte Mo.
Und Frau Honig lachte über diese Formulierung laut auf. »Aber Zahlen sind wunderbar«, sagte sie dann.
»Genauso wunderbar wie Blasen in zu kleinen Schuhen und drei Tage altes, in der Schultasche vergessenes Leberwurstbrot«, motzte Leni.
»Is kann son bis 100 zählen!«, sagte Fee stolz. »Soll is mal? Eins, zwei, drei, fümpf, sechs!«
»Du hast die Vier vergessen«, berichtigte sie Mo.
»Hab is nis!«
»Hast du schon!«
»Hab is nis!«
»Stopp, stopp. Die Vier ist vielleicht einfach unter den Tisch gefallen und liegt da rum. Ich möchte jetzt mal von euch wissen, was euch an Mathe nicht gefällt.«
»Ich kann mir einfach keine Zahlen merken«, sagte Tilda.
»Und wozu braucht man das überhaupt alles?«, fragte Leni und blätterte gelangweilt durch ihr Mathebuch.
»Ich mag keine Sachaufgaben. Die sind langweilig«, fügte Mo hinzu.
»Also …« Frau Honig holte tief Luft. »Sich Zahlen zu merken, ist ganz leicht und macht sogar Spaß! Ihr müsst euch einfach für jede Zahl ein Bild vorstellen. Wenn ihr eure Bilder im Kopf habt, könnt ihr euch Geschichten ausdenken, dann wird es ganz einfach. Ein Beispiel: Die Null erinnert an …?« Frau Honig malte eine Null an die Tafel.
»Ein Ei!«, riefen die Kinder im Chor.
»Sehr gut. Die Null ist also das Ei. Die Eins erinnert an …«, fragte Frau Honig und schrieb die Eins neben das Ei.
»Den Mond?«, überlegte Tilda.
»Wieso denn der Mond? Was hat der mit der Eins zu tun?«, fragte Mo.
»Na ja, es gibt nur einen Einzigen«, erklärte sich seine Schwester.
»Sehr gut. Also der Mond!« Frau Honig malte unter die Eins einen Mond.
Die Kinder beschlossen, dass die Zwei an einen Schwan erinnerte, die Drei sollte die Gabel mit drei Zinken sein, die Vier ein Stuhl, wegen der vier Beine, die Fünf eine Hand, die Sechs ein Würfel, die Sieben ein Zwerg, wegen der sieben Zwerge von Schneewittchen, die Acht ein Schneemann und die Neun wurde von Frau Honig nach langem Überlegen an der Tafel einfach zu einem Elefanten, bei dem der Kreis der Zahl der Kopf mit dem herunterhängenden Rüssel war.
Fee klatschte vor Begeisterung in die Hände. »So, Ida. Wann wurde Napoleon geboren?«, fragte nun Frau Honig.
Ida schlug das Buch über den Kaiser auf und las vor: »15. 8. 1769.«
Frau Honig überlegte, dann begann sie: »Als der Mond aufging, streckte sich eine kleine Hand ihm entgegen. Es war Sommer und der Schneemann im Garten längst geschmolzen. Der Mond lachte über das Kind, das klein wie ein Zwerg war, doch die Würfel des Glücks sagten voraus, dass das Kind stark werden würde wie ein Elefant .« Frau Honig deutete, während sie sprach, auf die jeweiligen Zahlen, die für die Wörter Mond und Hand, Schneemann, Zwerg, Würfel und Elefant standen. Sie beendete ihre Geschichte mit einer kleinen Verbeugung.
Die Kinder klatschten begeistert Beifall. Und noch Jahre später konnten alle fünf Kramer-Kinder das Geburtsdatum von Napoleon auswendig.
»Nächster Punkt: Wozu brauchen wir Mathe?«, überlegte Frau Honig. »Mathe steckt überall im Leben. Alles um uns rum besteht aus kleinen Rechenaufgaben, die wir gar nicht bemerken. Leni, du backst doch gern? Stell dir vor, du backst einen Streuselkuchen. Für die Streusel brauchst du 175 Gramm Butter, 175 Gramm Zucker und 200 Gramm Mehl. Jetzt möchtest du noch etwas mehr Streusel machen. Vielleicht ein Viertel mehr. Wie rechnest du das?«, fragte Frau Honig und sah Leni an.
Diese überlegte. »Mit einem Dreisatz?«, fragte sie dann zögernd.
»Ganz genau. Du kannst natürlich auch einfach ohne zu rechnen alles zusammenmischen, aber ob dein Streu selkuchen dann so lecker wird, das ist die Frage«, erklärte Frau Honig. »Mathe steckt in Pizzastücken, bei jedem Einkauf brauchst du Mathe, beim Bauen von Häusern, Mathe steckt im Wetterbericht, in Bahnfahrplänen und natürlich im Computer. Wie willst du ein schönes Gruppenfoto machen, wenn du nicht Eins, zwei, drei, Käsekuchen zählen kannst?«
Jetzt lachten die Kinder und Fee meinte: »Und is weiß, warum man Lesen können muss: Weil man sonst die Buchstabensuppe nicht lesen kann!«
Das Lachen der Kinder wurde lauter und oben im ersten Stock öffnete sich ein Fenster.
»Das schönste Geräusch, das man hören kann: das Lachen meiner Kinder«, sagte Frau Kramer glücklich und winkte zu den Kindern hinunter in den Garten. »Was macht ihr denn Lustiges?«, fragte sie.
»Mathe!«, riefen fünf Kinderstimmen zu ihrer Mutter hinauf. Und da musste Frau Kramer lachen.
»Und nun zur Sachaufgabe«, begann Frau Honig, während sie Leni ein paar bunt durcheinandergewürfelte Matheaufgaben vorgelegt hatte, die diese sogar mit ein wenig Spaß versuchte zu lösen. Frau Honig las die Aufgabe aus Mos Mathebuch vor: »138 Kinder fahren mit der Bergbahn.« Mehr stand da nicht. »138 Kinder fahren mit der Bergbahn«, las Frau Honig noch einmal. Ganz klein neben dem Text war eine Bergbahn abgebildet, auf der eine Sechs geschrieben stand. Mo sah Frau Honig erwartungsvoll an. »Ja und?«, sagte sie. »Sollen die 138 Kinder eben Bergbahn fahren, schön für sie! Wo steht denn da die Frage?«
»Die müssen wir selbst finden. Wir müssen erst die Frage finden und dann die Antwort«, erklärte Mo und Frau Honig merkte, wie sie langsam wütend wurde.
»Ja sind die Schulbuchmacher und Rechenaufgabenerfinder jetzt schon so faul, dass sie nicht mal mehr die Frage aufschreiben können?«
»Müssen wir uns selbst ausdenken.«
»Da säße ich ja heute noch da, wenn ich, als äußerst fantasievolles, gewissenhaftes Kind, mir die Fragen hätte selbst ausdenken müssen.« Frau Honigs Kopf wurde rot vor Ärger. »Es gibt schließlich Tausende von Möglichkeiten für eine Frage: 138 Kinder fahren mit der Bergbahn. Frage 1: Ist das nicht zu gefährlich? Frage 2: Können die nicht hochlaufen? Frage 3: Wo sind die Erwachsenen? Frage 4: Hält das die Bergbahn aus? Frage 5: Würden Sie Ihr Kind mitschicken – mit 137 anderen?«
Leni sah von ihren Aufgaben hoch und begann zu kichern. Ihre kleineren Geschwister sahen das Kindermädchen, das jetzt richtig in Fahrt war, erstaunt an.
»Ich les mal die nächste Aufgabe: Alle Kinder der Klasse 4b haben zusammen 243€ für einen Ausflug bezahlt. Pro Kind kostet die Fahrt 9 €«, las sie vor und überlegte weiter: »Frage 1: Warum ist der Ausflug so teuer? Frage 2: Können sich das alle leisten? Frage 3: Warum muss es immer die Klasse 4b sein? Fährt die 4a überhaupt nicht weg? Frage 4: Wie viel bezahlt die Lehrerin? Darf die umsonst mit? Das ist doch ungerecht!« Frau Honig warf das Mathebuch wütend über ihre Schulter. Es landete auf dem Komposthaufen.
Zum Glück hatte sich Fräulein Omelett gerade noch in Sicherheit gebracht, denn sie liebte es, auf dem Kompost ein wenig zu picken und zu scharren. Sie schüttelte entrüstet den Kopf. Denn mit einem fliegenden Mathebuch konnte ja auch keiner rechnen.
»Mo, hier kommen meine Sachaufgaben: Vier Hühner rennen über die Straße – book, book, book, book –, zwei Hühner legen ein Ei, ein Huhn legt zwei Eier. Kommt ein Auto angefahren und macht aus einem Ei Spiegelei.
Wie viele Eier liegen noch auf der Straße?«, fragte Frau Honig.
Mo musste lachen. »Das ist leicht!«, rief er aus. »Drei natürlich!«
Im Laufe des Nachmittags wurde viel gelernt und mindestens genauso viel gelacht. »Wenn man lacht, öffnet sich das Gehirn und alle Schubladen springen auf und saugen das Wissen ganz einfach ein«, meinte Frau Honig. »Wenn die Lehrer Komiker wären, müsste man nur die Hälfte der Zeit in der Schule sitzen und könnte trotzdem den ganzen Stoff behalten.« Jedem Kind zeigte sie unterschiedliche Arten, wie lernen Spaß machen konnte, und bald hatten die Kinder mehr das Gefühl, sie würden spielen als lernen.
Später brachte Frau Honig noch eine Spule, an der eine Kurbel befestigt war. Es ging um Tildas Unterricht. Sie lernte gerade alles über die Urgeschichte. Frau Honig gab Fee die Spule in die Hand, Tilda den Anfang einer Schnur, die auf der Spule aufgerollt war.
»Tilda«, begann Frau Honig, »du hältst den Urknall in der Hand. Geh jetzt in Richtung Haus und die Zeitlinie der Welt liegt irgendwann komplett vor dir.« An der Schnur waren an einigen Stellen rote Klebebänder befestigt worden. Jedes zeigte an, was wann entstanden war. Jede Epoche war auf dem Klebeband vermerkt. So konnte man genau erkennen, wann die Steinzeit begann, wann die Dinosaurier gelebt haben, einfach wann alle Epochen ihren Anfang und ihr Ende hatten. Und man konnte sehen, als Tilda die Schnur bereits durch das ganze Haus gezogen hatte und auf der anderen Seite bei der Wohnungstür herauskam, immer noch mit dem Urknall in der Hand, wie kurz es erst Menschen gab, im Vergleich zur gesamten Weltgeschichte.
Auch Leni, Ida und Mo waren inzwischen aufgestanden und sahen sich die Schnur genauer an.
Fee hielt die Spule stolz fest und rief ihrer Schwester aufgeregt zu, wenn sich erneut ein rotes Klebeband abwickelte: »Hier tommt wieder eins!«
Als die Kinder gar nicht mehr aufhören wollten zu lernen, spielte Frau Honig mit Ida noch ein Vokabel-Memory-Spiel für den Englischunterricht, mit Tilda ein Pizzadomino, bei dem man kleine Pizzen auf einer Seite des Kärtchens an ein Kärtchen mit der richtigen Bruchzahl legen musste.
Außerdem gab es ein Abmess- und Abwiegeschätzspiel – dabei mussten die Kinder Größe oder Gewicht verschiedener Dinge schätzen, die dann abgemessen beziehungsweise abgewogen wurden. Und der, der am nächsten an der richtigen Zahl dran war, hatte gewonnen.
Und für Fee fädelte Frau Honig bunte Knöpfe auf eine Schnur und brachte ihr so das Rechnen bei.
Als die Sonne bereits unterging, erklärte Frau Honig den Lernnachmittag für beendet.
»Schade«, sagten die Kramer-Kinder wie aus einem Mund.
Und Frau Honig sah ihnen lächelnd hinterher, als sie nacheinander im Haus verschwanden.