Liebster Hachmed,
du kennst ja meine hypochondrische Veranlagung, daher wird es dich kaum wundern, dass ich felsenfest davon überzeugt war, bei der Überfahrt zur Insel Eydernorn von schlimmer Seekrankheit heimgesucht zu werden. Deshalb habe ich gleich in der betörend trostlosen Hafengegend von Alt-Werfting eine Apotheke ausfindig gemacht und mir dort verschiedene Medikamente gegen dieses unberechenbare Reiseleiden besorgt sowie ein praktisches Hilfsmittel, das die diskrete Bezeichnung »Nausealer Beutel« trägt, in der freien zamonischen Seefahrt aber unverblümt »Kotztasche« genannt und von erfahrenen Matrosen hartherzig belacht wird.
Nausealer Beutel
Als ich an Bord des kleinen Dreimasters namens Quoped ging (was, wie du natürlich weißt, Altzamonisch ist und Wohin strebst du? bedeutet – ein erstaunlich tiefsinniger Name für ein gewöhnliches Fährschiff, nicht wahr?), der nur zweimal in der Woche nach Eydernorn und wieder zurück pendelt, herrschten so ziemlich alle Wetterbedingungen, die meine ärgsten Befürchtungen hinsichtlich der Überfahrt bekräftigten.
Tiefdruck von barometrischer Obszönität verursachte einen zwischen meinen Schläfen hin und her wandernden Kopfschmerz, dünner, warmer Regen sprühte mir ins Gesicht, ohne Erfrischung zu spenden, und die enorme Luftfeuchtigkeit löste einen Schweißausbruch nach dem anderen aus. Auch ohne Seekrankheit war ich schon ein körperliches Wrack, bevor ich die Planken des Schiffes überhaupt betreten hatte. Ein granitgrauer Himmel aus massiven Gewitterwolken hing so bedrohlich tief über dem Hafen, als würde er gleich krachend herunterstürzen. Das Wasser war von fast identischem Grau – und genauso aufgewühlt, wie es in meinen Innereien zuging! Gab es überhaupt eine Toilette an Bord? Oder erledigten diese raubeinigen Seebären ihre diesbezüglichen Geschäfte auf andere, unaussprechliche Weise? Ich hatte ja überhaupt keine Ahnung von dieser klatschnassen schwankenden Welt!
Die Segel der Quoped waren von kreisrunden Löchern perforiert, was mich zuerst etwas befremdete, weil es aussah wie ein Sturmschaden. Aber wie man mir später erklärte, ist dies so üblich bei Schiffen, die regelmäßig in der Nähe der Insel Eydernorn kreuzen. Die Winde, die dort blasen, sind manchmal so rabiat, dass sie gewöhnliche Segel mitsamt ihren Masten zerstören würden, wenn sie nicht systematisch durchlöchert wären, um den Luftstrom teilweise hindurchfahren zu lassen.
Die Quoped
Das Gekrächz der aufgeregt umherflatternden Sturmmöwen klang einmal wie das heisere Fiepsen von Ratten, dann wieder wie höhnisches Nixengelächter und manchmal sogar nach düsteren Schrecksenprophezeiungen. Meine Nerven waren so angespannt, dass ich aus den Vogelschreien mehrmals verstörende Vokabeln wie nasses Grab , Wassersarg oder Totenschiff herauszuhören glaubte. Eine wilde Windsbraut tanzte durch den Hafen und brachte alle Sturmglocken, Anker- und Bojenketten und was sonst noch Geräusche von sich geben kann zu einem synkopischen Geklimper, das mich bestürzend an die hypnotische Begräbnismusik jener legendären Almdruiden des Hutzengebirges gemahnte, die angeblich ein Millennium alt werden können und sich aus bis heute unerfindlichen Gründen traditionell und trotz bester Gesundheit an ihrem tausendsten Geburtstag jodelnd in die Dämonenklamm stürzen.
Die wirbelnden Winde bauschten mein Reisegewand derart, dass es ausgesehen haben muss, als ob Luftgeister mit allen Kräften versuchten, mich vom Betreten des todgeweihten Fährschiffes abzuhalten. Aber dann stießen sie mich so brutal vorwärts, dass ich über eine Planke hinauf an Bord stolperte und mich dort beinahe längs hingelegt hätte. Ein zwergenhafter und übertrieben tätowierter Matrose lachte so meckernd und höhnisch wie die Sturmmöwen und knotete dabei weiter an etwas herum, das aussah wie ein Galgenstrick. 1
Sehnsüchtig blickte ich zum Land zurück, und plötzlich kam mir sogar ein heruntergekommenes Küstenkaff mit dahinsiechender Fischkonservenindustrie wie Alt-Werfting ausgesprochen reizvoll vor. Ich könnte seine drei historischen Gassen mit den Kapitänshäuschen erkunden! Ich könnte den siebenhundert Jahre alten Schandpranger für Meuterer besichtigen oder den einzigartigen Piratengalgen mit Atemluftpumpe, an dem das Erhängen mehrere Wochen gedauert haben soll, bis der Tod einsetzte. Oder ich könnte mir die aktuelle Treibholzausstellung im Harpunenmuseum ansehen, einen Rundgang in der Oktopus-Konservenfabrik machen und abschließend im Gasthaus Zur Halbtoten Qualle vom berühmten Werftinger Stockfischkuchen probieren.
Dann würde ich schleunigst mit der Kutsche ins Landesinnere stiften gehen, und zwar in möglichst hoch gelegene Bezirke, fernab von jedem Salzwasser, wo es Segelschiffe nur als Miniaturmodelle in Glasflaschen oder auf alten Ölgemälden gibt. Wo Fische höchstens in Aquarien existieren. Wo Enzian und Edelweiß blühen und die Luft so dünn ist, dass man davon Nasenbluten oder Höhenkoller bekommt. Oder gleich zurück zur Lindwurmfeste! Von der ich unter anderem auch deswegen geflohen bin, weil dort in wenigen Tagen die Hamoulimepp 2 -Feierlichkeiten beginnen, die ich so verabscheue. Aber lieber an Hamoulimepp teilnehmen, als unter solch mörderischen Umständen in diese aufgewühlte See stechen, die voll von glitschigen Ungetümen mit Saugnäpfen, Sägezähnen und Stacheln ist – das weiß man doch!
Aber es war bereits zu spät. Die Planke wurde eingeholt, nautische Befehle wurden gebellt, und kurz darauf sah es aus, als schaukelte die Kaimauer von uns fort, obwohl es natürlich wir waren, die davonschaukelten.
Du darfst dir daher meine große Überraschung darüber ausmalen, lieber Hachmed, dass sich die Sache mit der Seekrankheit vollkommen anders gestaltete als befürchtet. Denn trotz des rabiaten Seegangs, haushoher schwarzer Wellen und einer orkanmäßigen Windstärke ereilte mich kein einziges Symptom! Kein Schwindel, kein Brechreiz, weder kalter Schweiß noch ein rebellierender Magen. Ganz im Gegenteil: Bevor ich irgendein Medikament einnehmen oder meinen Nausealen Beutel auspacken konnte, überkam mich inmitten des ganzen Geschaukels und Gebrülls völlig überraschend ein Hochgefühl. Ja, schon kurz nachdem wir den Hafen aus den Augen verloren hatten, breitete sich eine tiefe innere Ruhe und Behaglichkeit in mir aus, die schließlich sogar in regelrechte Euphorie, fast schon Ekstase überging.
Ein nasses Grab?
Ich stellte fest, dass ich ein geborener Seemann bin, eine jener gesegneten Kreaturen, die auf natürliche Weise gegen die wechselhaften Zustände gewappnet sind, die auf einer instabilen Fläche wie dem Meer herrschen. Man ist seefest, oder man ist es nicht – aber um das herauszufinden, muss man es ausprobieren! Das Rollen des Schiffes, das Schwanken des Horizonts, das Auf-und-Ab-Schwappen meiner inneren Organe machten mir wunderbarerweise nicht das Geringste aus. Ich haftete so unverrückbar auf den Planken wie eine Fliege auf einer Glasscheibe, egal, wie sehr sie sich schrägten. Ich konnte selbst bei tosendem Sturm ruhigen Auges in den brodelnden Hexenkessel des zamonischen Nordmeeres starren und verspürte dabei keinerlei Unpässlichkeit. Nicht einmal einen leichten Schwindel, während alle anderen Passagiere entweder über der Reling hingen und blökend in die spritzende Gischt kotzten oder sich kreidebleich und mit irrem Blick ans Tauwerk klammerten. Und mit »alle anderen Passagiere« meine ich wirklich alle, liebster Hachmed – auch die Besatzung! Ein hartgesottener Matrose, dem das raue Seeklima tiefe Furchen ins Gesicht geätzt hatte, hielt sich schluchzend an mir fest und betete dabei verzweifelt zu irgendeiner archaischen Meeresgottheit. Ich sah, wie der Kapitän, ein robust gebauter Seebär mit langem, graugrünem Bart und rustikaler Wollmütze, aus seiner Kabine zur Reling stürzte und einen armdicken Strahl kaum verdauter Muschelsuppe von sich gab. Nicht zu fassen: Selbst der Kapitän dieses sturmgeprüften Schiffes war unter den herrschenden Umständen seekrank!
Ob du es glaubst oder nicht, mein Freund, ein paar größenwahnsinnige Augenblicke lang erwog ich sogar, das Kommando auf dem Kahn zu übernehmen! Denn vorübergehend machte es tatsächlich den Eindruck, als sei ausgerechnet ich der Einzige an Bord, der über einen klaren Verstand, über ein stabiles Gleichgewichtsgefühl und so etwas wie Urteilsvermögen verfügte. Nein, das war beileibe kein Größenwahn, sondern eine realistische Einschätzung einer äußerst beängstigenden Situation! Mir war natürlich völlig klar, dass dies keine Lösung sein konnte, weil ich von Seefahrt und Segelhandwerk nun mal so viel verstehe wie eine Katze vom Rückenschwimmen. Aber wir befanden uns in höchster Gefahr. Ich segelte auf einem Narrenschiff mit einer Besatzung, die sich angesichts einer fast aussichtslosen Lage als etwa so brauchbar erwies wie am Abend nach der Auszahlung der Heuer, im Zustand der besinnungslosen Volltrunkenheit. Wir waren, so schien es, zwischen zwei Monsterorkane geraten, Stürme, welche die Ausdehnung von Kontinenten hatten!
Dies war eine der seltensten, gefährlichsten und unglücklichsten meteorologischen Konstellationen, in die man auf zamonischen Ozeanen überhaupt geraten kann, mein Freund! Etwas, das selbst den erfahrensten Seeleuten im Berufsalltag so gut wie nie widerfährt. Und mir passierte dies gleich beim allerersten Mal, als ich die Planken eines Schiffes betrat!
Schon eine Stunde nachdem wir abgelegt hatten, befanden wir uns in einem nahezu unpassierbaren Bereich des Meeres, in einer Todeszone, in der die wirbelnden Ränder dieser Jahrhundertstürme aufeinanderprallten wie gigantische Mühlräder, die alles zermalmten und pulverisierten, was zwischen sie geriet: Schiffe, Küstenstädte und sogar ganze Inseln. Der einzige Glücksumstand war, dass die Quoped ein ehernes Seepferd der uralten Art war, ein beinahe antiker Eisbrecher, aus massivstem Eisenholz nach Methoden gebaut, die heute fast vergessen sind. Ein moderner Segler wäre von diesen rabiaten Kräften binnen kurzem in Splitter von Zahnstochergröße zerlegt worden, aber uns fehlten erst einmal nur ein paar Segel. Krachend und schäumend stürzten die Brecher über Deck und rissen alles mit sich, was nicht festgebunden oder angenagelt war. Ein ganzer Schwarm Kristallmakrelen wurde an Bord geschwemmt, wo die glitzernden Fische verzweifelt zappelten und nach Luft schnappten, bis die nächste Woge sie wieder ins Meer spülte. Wuuusch! Mit ohrenbetäubendem Wutgebrüll zerrten die tobenden Sturmdämonen am festgezurrten Segeltuch und an meiner Kleidung, mein Umhang flatterte im Orkanwind wie ein Drachenflügel. Aber ich blieb als Einziger an Bord aufrecht an der Reling stehen und trotzte den Elementen wie eine festgeschraubte Galionsfigur. Allerdings hatte ich meine Krallen auch tief ins Holz des Handlaufs gebohrt wie eine Zecke ihren Stachel in den Wirtskörper. Ich stand wie angenagelt. Ich war seefest!
Nun, mein lieber Hachmed, du kennst ja den Grund meiner Reise nach Eydernorn: Ein befreundeter Arzt hat mir einen ausgedehnten Kuraufenthalt auf dieser vorbildlich gelüfteten Nordmeerinsel verschrieben, um meine asthmatischen Beschwerden zu behandeln, die er übrigens für psychosomatisch hält, verursacht von meinen traumatischen Erlebnissen in der stickigen Unterwelt der Labyrinthe von Buchhaim. Durch jahrelanges Verschleppen sind diese Symptome chronisch und ausgesprochen lästig geworden. Jedes Mal, wenn ich ein Antiquariat betrete und mir der zuvor so geliebte Bücherstaub in die Nase steigt, verkrampfen sich meine Bronchien, und ich bekomme eine Atemnot, die manchmal sogar in Erstickungsphantasien und nackter Todesangst gipfelt. Das kann unmöglich so weitergehen, wenn ich das Vergnügen an alten Büchern nicht verlieren will – und du weißt ja, wie wichtig sie mir sind. Auf Eydernorn wird mit wissenschaftlichen Methoden regelmäßig die sauberste und sauerstoffreichste Luft Zamoniens gemessen, gesünder als dort ist der unsichtbare und lebensnotwendige Stoff, den wir atmen, nirgends auf unserem Kontinent. Die besonders salzhaltige Seeluft dieser Insel soll darüber hinaus Spurenelemente enthalten, denen man eine daseinsverlängernde Wirkung nachsagt. Aber das sind wissenschaftlich unbestätigte Behauptungen von Alchemisten, die in den Bereich der Spekulation gehören. Dennoch ist es erwiesen, dass die Bewohner von Eydernorn im Durchschnitt etwa hundertachtzig Jahre älter werden als die übrige zamonische Bevölkerung, egal, welche Rolle dabei irgendwelche unerforschten Bestandteile der Luft spielen. Dies ist wohl der Grund dafür, dass es dort das qualifizierteste Lungensanatorium von ganz Zamonien gibt – und die höchste Kurtaxe. »Vier bis acht Wochen in diesem Klima und dabei immer tüchtig durchgeatmet, dann haben Sie anschließend praktisch zwei neue Lungenflügel«, scherzte mein Hausarzt und verschrieb mir zwei Monate Kur.
Du weißt auch, mein lieber Hachmed, dass ich keiner bin, der sich tatenlos der gesundheitlichen Rehabilitation hingibt. Sich einfach nur zu erholen, fände ich unmoralisch. Um also dieser Reise auch einen praktischen Nutzen abzugewinnen, habe ich mir unter anderem vorgenommen, während meines Aufenthaltes ausgiebig die Architektur jener legendären Bauwerke zu studieren, die diesem Eiland seinen etwas prahlerischen Beinamen verleihen: Die Insel der Tausend Leuchttürme . Es sind nämlich tatsächlich nur rund einhundert Exemplare. Einhundertundelf, um ganz genau zu sein. Aber jeder, der sie einmal bei Nacht in Aktion gesehen hat, so versichert der Praktische Reiseführer für Eydernorn von Pharicustos De Bong, wird beschwören, dass sie strahlen und funkeln wie tausend. Zu diesen beglückten Augenzeugen will ich gehören! Und ich möchte so viele ausführliche schriftliche Notizen und zeichnerische Skizzen davon machen wie irgend möglich. Also verzeih mir bitte, wenn ich diese Briefe gelegentlich mit kleinen Zeichnungen verunstalte, die hauptsächlich peinliche Dokumente meiner künstlerischen Unzulänglichkeit sein werden. Aber du weißt ja: Ein Bild sagt manchmal tatsächlich mehr als tausend Worte – auch wenn es nur den Eindruck einer Kinderzeichnung macht. Abfällige Kommentare dazu kannst du dir also schenken, denn ich weiß leider nur zu gut, wo die Grenzen meiner zeichnerischen Fähigkeiten liegen.
Danzelot von Silbendrechsler
Ich möchte auch gerne den einen oder anderen Leuchtturmwärter über seine Berufserfahrungen aushorchen, wenn diese als notorisch maulfaul verschrienen Einzelgänger das überhaupt zulassen. Dir ist bekannt, mein lieber Hachmed, dass ich kein Architekt bin und auch keine Karriere als Leuchtturmwärter anstrebe. Aber man kann als Schriftsteller aus jeder Disziplin, jeder anderen Kunst und jeder Wissenschaft Honig für das eigene Schaffen saugen, das ist meine tiefe Überzeugung. Was für die Architektur, die sowohl mit exakter Konstruktion als auch mit gestalterischer Phantasie zu tun hat, ganz besonders gilt, wenn sie denn von Könnern praktiziert wird. Dies ist leider immer seltener der Fall. Auch für den Bau von Luftschlössern kann es nicht schaden, die Gesetze der Statik studiert zu haben, mein Lieber! Und welche Bauwerke eignen sich besser zum Studium der Haltbarkeit von kreativen Konstrukten als Leuchttürme? Was ist stabiler und verlässlicher als diese extremsten aller Außenposten unserer Zivilisation? Diese Festungen der Einsamkeit gegen die Naturgewalten, die oft den schlimmsten klimatischen Anfeindungen, eisigem Sturmwind und haushohen Flutwellen standhalten müssen, manche viele Jahrhunderte und sogar Jahrtausende lang? Gibt es ein romantischeres und metaphorisch aufgeladeneres Gebäude als einen Leuchtturm? Eines, das mehr an den vielbeschworenen Elfenbeinturm des Schriftstellers erinnert? Und auf Eydernorn erwarten mich die ältesten und neuesten, die altmodischsten und fortschrittlichsten, die kostspieligsten und verrücktesten davon. Über hundert Stück, so viele auf engstem Raum wie nirgends sonst. Schon Ojahnn Golgo van Fontheweg hat diese Bollwerke der Lebensrettung in Sonetten besungen. »Kein Wunder«, wirst du sagen, »dieser notorische Schwätzer hat ja auch zu allem anderen seinen klassischen Senf dazugegeben, wie könnten da die Leuchttürme fehlen?« Ganz recht, wegen Fontheweg bin ich bestimmt nicht nach Eydernorn gereist. Viel wichtiger war mir der Rat meines Dichtpaten Danzelot von Silbendrechsler, der mir schon in meinen ganz jungen Jahren (da war ich gerade mal sechzig) dringend empfohlen hat, wenigstens einmal in meinem Leben diese kuriose Insel zu besuchen. »Du kannst dort vieles lernen, was man über die Einsamkeit und den Irrsinn des Schriftstellerberufes wissen muss«, raunte er geheimnisvoll, während er uralte handgezeichnete Seekarten der Insel vor mir ausrollte, die meine Phantasie bis heute beschäftigen. »Auch verstörende und beängstigende Dinge. Ja, genau genommen kannst du dort hauptsächlich verstörende und beängstigende Dinge lernen. Aber, mein Junge, es gibt keinen Ort auf unserem Kontinent, wo man dem Orm näher ist! Glaub mir! Eydernorns Leuchttürme sind nicht schön. Nein. Nicht im landläufigen Sinne. Nicht auf den ersten Blick. Sie offenbaren ihren besonderen Status erst über die Jahrhunderte, durch Beharrlichkeit und edlen Nutzen. Wie gute Bücher, wie noble Gedanken. Und wenn du einmal dort sein solltest, dann sieh dir auf jeden Fall auch die Sprechenden Grabmale an. Und die Stadt ohne Türen.«
Ich habe erst später gelernt, mein lieber Hachmed, dass Danzelot weder Eydernorn noch dessen Leuchttürme und Sprechenden Grabmale oder gar die Stadt ohne Türen jemals selber gesehen hat. Er war nie dort. Denn er hat ja die Lindwurmfeste nie verlassen, der alte Stubenhocker. Er wusste davon nur aus seinen Büchern. Aber das hat ihm offensichtlich gereicht, um seine Sehnsucht nach Eydernorn an mich weiterzugeben. Eine ganze Insel, die vom Orm bestrahlt wird. Mit Bauwerken, die wie gute Bücher, die wie klassische Literatur sind – an einen solchen Ort der Träume wollte ich immer hin! Und jetzt, wo ich endlich auf dem Weg war, sah es aus, als würden wir das Eiland nicht lebend erreichen. Denn die Zustände an Bord hatten sich dramatisch verschlimmert. Das Schiff schlingerte ohne Steuermann durch die turmhohen Wellen, um uns herum toste das Inferno. Niemand kümmerte sich mehr um die Navigation der Quoped, jeder war nur noch damit beschäftigt, die Kontrolle über den eigenen Körper wiederzuerlangen und sich nicht von den Brechern ins Meer spülen zu lassen. Überall herrschte das Chaos. Ein Sharkodil 3 von der zweifachen Länge eines Sarges hatte sich in der Takelage verfangen und schnappte wild um sich, bis es sich befreien konnte und ins Meer zurückplumpste. Ein Blitz hatte eines der wenigen Rettungsboote in der Mitte in zwei Teile gespalten, es brannte in gespenstischen blaugrünen Flammen.
Sharkodil
Es war höchst unwahrscheinlich, dass wir überhaupt noch auf die Insel zuhielten – wo war sie denn überhaupt? Jeden Augenblick konnte eine der turmhohen Monsterwellen das Schiff so unglücklich schrägen, dass es voll Wasser lief und wir unseren Kurs in Richtung Meeresgrund ändern würden. Einer der Masten knickte ab und verschwand einfach in den Lüften, wie von einer unsichtbaren Riesenhand gepflückt. Ob du es glaubst oder nicht, mein lieber Hachmed, in diesem Moment musste ich laut und wie wahnsinnig lachen – und es war sicher viel mehr pure Verzweiflung als Humor, was mich dazu veranlasste. Ja, ich lachte dem in die Wolken hinauffliegenden Segelmast hinterher wie einem gelungenen Scherz. Denn das war alles, was mir noch blieb: das irre Gelächter des Hoffnungslosen. Und ausgerechnet dies war der Augenblick, der schicksalsträchtige Moment, in dem ich sie zum ersten Mal sah, die legendären Lichter der tausend Leuchttürme von Eydernorn. Zuerst war es nur ein einziger dünner Strahl, den ich für Sonnenlicht hielt, das durch die schwarzen Wolken bricht. Aber für einen Sonnenstrahl war er zu horizontal und zu unstet, denn er wanderte, verkürzte sich, wurde zu einem Punkt und verlängerte sich dann wieder auf der anderen Seite – das war eindeutig ein kreisender Strahl. Natürlich! Das rotierende Licht eines Leuchtturms!
Ein Leuchtturm! Land! Wir befanden uns in Küstennähe! Ich konnte anhand des Strahls nicht nur endlich wieder den Horizont bestimmen, sondern auch die Lage der Insel Eydernorn, denn wir steuerten direkt auf das Licht zu. Nur ein einziges Licht? Nein, immer mehr luminöse Erscheinungen tauchten auf, lange leuchtende Geisterfinger, die durch Nebel und Gischt tasteten und sich uns entgegenstreckten! Dazwischen pulsierten Flecken in Gelb, Blau und Grün, die vielleicht von weiter entfernten Türmen stammten. Blendend helle Säulen, die aussahen wie erstarrte Blitze, schwankten durch Gischt und Wolken hin und her. Glühende Kugeln stiegen auf wie Ballone und sanken dann langsam erlöschend wieder herab. Rote und gelbe, biegsame, fluoreszierende Tentakel schlängelten sich in Peitschenschwüngen himmelwärts. Ich hörte Explosionen, dumpfe Schläge wie Kanonendonner, manchmal das schrille Pfeifen, Heulen und Zischen eines Feuerwerks. Aber dieses Spektakel hier war auf den ersten Blick viel eher furchterregend als bezaubernd – so beängstigend wie ein Tiefseewesen von monströsen Ausmaßen, das plötzlich auftaucht, um einen mit organischen Lichtspielen und Leuchtaugen in seine Fänge zu locken. Ja, so etwas soll es durchaus in den Gewässern Zamoniens, vor allem um Eydernorn herum, geben, mein Lieber. Davon konnte nicht nur einem abergläubischen Seemann oder einem unerfahrenen Passagier angst und bange werden! Ich hatte zum Glück während meiner Reisevorbereitungen gelesen, dass die hochentwickelte »Eydernornische Pharotechnologie« über die verschiedensten und originellsten Beleuchtungstechniken verfügt, vom altmodischen Phosphorfeuer mit Brennspiegeln bis hin zur modernen alchemistischen Batterielampe mit kostspieligen Diamantlinsen. Raffinierte Ingenieurskunst, die jeden nur denkbaren optischen Hokuspokus erlaubt. Der simple Lichtstrahl ist für Eydernorner Leuchtturmwärter nur noch eine veraltete und mitleidig belächelte Methode. Manche Türme besitzen Kanonen, mit denen sie wasserdichte Feuerwerksraketen durch Regen und Sturm in die Troposphäre jagen können. Andere verschießen brennbare Flüssigkeiten in Glaskugeln, die auf ihrem Zenit platzen und in funkelndem Sternennebel zerstäuben. Wieder andere schleudern mit Katapulten Pulverkapseln in die Luft, deren Inhalt sich in einer exakt vorausberechneten Höhe selbst entzündet. Es soll Leuchtturmwärter geben, die mit dressierten Irrlichtern und Feuerkäfern arbeiten, mit Mondlichtreflektoren, mit entzündlichem Friedhofsgas oder biologischem Schrecksenfeuer. Mit kanalisierter Lava und was weiß ich sonst noch allem.
Wie das im Einzelnen und Speziellen funktioniert, mein lieber Hachmed, nun, das ist größtenteils Geheimwissen der Leuchtturmwärter, das sie seit Jahrhunderten eifersüchtig hüten und ständig verfeinern. Eydernorn ist die einzige zamonische Gemeinde, in der die Leuchtfeuerwerkerei offiziell zur eigenständigen Kunstform erklärt worden ist. Dass jährlich eine dieser Methoden der Feuerwerkerei als »die Jahresbeste« prämiert wird, wusstest du das? Mit dem Eydernorner Feuervogel , einer unter Leuchtturmwärtern sehr begehrten Trophäe. Mir war das alles aus meiner Lektüre über die Insel bereits bekannt, aber ich besaß natürlich keinerlei Begriff davon, wie beeindruckend diese Lichtspiele in Wirklichkeit aussehen und sogar noch mitten in einem Orkan ihre Wirkung entfalten! Wäre mir dieses Spektakel völlig unvorbereitet begegnet, hätte ich sicher nicht nur ein bisschen an meinem Verstand gezweifelt, sondern mich gleich von ihm verabschiedet. Tatsächlich gibt es verbürgte Geschichten von Seefahrern, die vor den Rettungslichtern panisch die Flucht ergriffen haben, weil sie diese in ihrer Unkenntnis für Ungeheuer, Höllenfeuer oder ausbrechende Vulkane hielten. Sie flohen in die entgegengesetzte Richtung, also schnurstracks ins Verderben. Stell dir mal vor, liebster Hachmed, ein Nordlicht würde mit einem Silvesterfeuerwerk ein Kind der Liebe zeugen, das dann während eines blitzdurchzuckten Finsterberggewitters zusammen mit Schwärmen von Irrlichtern im Paarungsrausch am Firmament erscheint und eine Orgie der Illumination feiert – dann hast du vielleicht eine ungefähre Vorstellung von diesem irrsinnigen Phänomen, das sich über Eydernorn abspielte, während unser Schiff noch mit den Wellen kämpfte. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben. Es ist eines der großen Wunder unseres Kontinents, auch wenn es ein künstlich erzeugtes ist. Ein Wunder der Eydernornischen Pharotechnologie.
Und es sah sogar so aus, als würde dieser mächtige Lichtzauber das schlimme Unwetter vertreiben! Das war natürlich eine zufällige Korrelation, aber zumindest ließ der Sturm endlich ein wenig nach, und die Wellen schrumpften auf ein Maß, das wieder zielgerichtetes Navigieren zuließ. Die erstaunlichste Veränderung konnte ich aber bei der Besatzung der Quoped beobachten, die sich beim Anblick des Lichtspektakels umgehend zu erholen schien. Und zwar so schlagartig, dass ich es eigentlich nur als Wunderheilung bezeichnen kann, mein Lieber! Wer eben noch weinend auf allen vieren übers Deck gekrochen war oder sich röhrend in ein Rettungsboot übergeben hatte, kletterte jetzt artistisch in den Wanten herum und entfesselte die gerefften Segel. Der Kapitän lief wieder hocherhobenen Hauptes herum und bellte in dieser absurden Seemannssprache selbstbewusst seine präzisen nautischen Befehle, die von der Mannschaft schnurstracks umgesetzt wurden: »Fockmast brassen! Klüver kielholen! Toppgasten verklöten!« Oder so ähnlich. Fasziniert und ergriffen konnte ich dabei zusehen, was für eine mächtige, fast magische Wirkung Leuchtturmsignale auf eine Schiffsbesatzung in Seenot haben. Wie sie tiefste Verzweiflung und Entkräftung in Entschlossenheit und Lebenswillen verwandeln und aus Todgeweihten wieder hartgesottene Seebären machen. Das Meer war jedoch immer noch viel zu unruhig, um von Entwarnung oder gar Rettung zu reden, und die Anlandung war immer noch ein riskantes Abenteuer, das es zu überstehen galt. Sie sollte, anders als geplant, in Klein-Hafing stattfinden, dem kleinsten der drei Inselhäfen, der sich an der Südküste des westlichen Eydernorn befindet.
Dies hatte den Vorteil, dass man bei dem immer noch mächtigen Seegang nicht mehr die Südwestspitze des Eilands umschiffen musste, was wir normalerweise getan hätten, um in Eydergard, der Hauptstadt der Insel, anzulegen. Aber dazu hätten wir auch noch die Westlichen Wirbel und den Nebula Eterna passieren müssen, zwei unter Seeleuten gefürchtete Naturphänomene, die an dieser Küste den Schiffsverkehr behindern. Unter den gegebenen Umständen wählte unser Kapitän das kleinere Übel, das darin bestand, bei hohem Seegang in den Öresund einzufahren, eine flache Bucht mit extrem engem Eingang zwischen hohen Klippen. Die Seeleute raunen, das komme ungefähr dem Versuch gleich, mit verbundenen Augen einen Zwirn durch ein Nadelöhr zu fädeln, während man in einer Schiffschaukel steht, die von zwei betrunkenen Matrosen in Schwung gehalten wird. Nun, ich will dich nicht weiter mit den Einzelheiten dieser haarsträubenden Landung behelligen, lieber Hachmed, nur diese eine Information kann ich mir nicht verkneifen: Wir mussten dreimal auf die hohe See zurückkehren und neuen Anlauf nehmen, bis es endlich gelang, was erheblich an unser aller Nerven zerrte und zu neuen Ausbrüchen von Seekrankheit unter den Passagieren führte.
Kurz bevor ich endlich von Bord gehen konnte, trat der Kapitän der Quoped an mich heran und erklärte mir beinahe feierlich, dass er noch nie einen solchen Seegang erlebt habe, obwohl er diese Strecke seit zweihundertachtundsiebzig Jahren befahre. Kein einziges Mal. Ob ich eventuell erwöge, eine Laufbahn in der freien Seefahrt anzustreben? Denn ich sei ja offensichtlich zu diesem Zweck hergestellt worden! Eine Position als Erster Maat auf seinem Schiff könne er mir auf der Stelle anbieten – drei Wochen bezahlter Urlaub im Jahr, kostenlose Skorbutversicherung, das Essen würde ich mit ihm in der Kapitänskajüte zu mir nehmen, und ein zwölfter Teil der jährlichen Einkünfte des Fährgeschäftes sei mir garantiert. Ich dachte zuerst an einen Scherz. Dann bemerkte ich, dass ich immer noch an derselben Stelle stand wie zu dem Zeitpunkt, als das Inferno ausgebrochen war, aufrecht an der Reling, die Klauen tief ins Holz des Handlaufs gebohrt. Ich hatte mich keinen Schritt bewegt. Das erfüllte mich alten Bergsaurier nun doch mit einem gewissen Stolz. Aber ich musste das verlockende Angebot natürlich höflich ablehnen, wie du dir denken kannst, mein liebster Hachmed. Ich betrat die Insel daher im Zustand der Erleichterung, fast der Euphorie – nun, was man eben so empfindet, wenn man gerade den schlimmsten Sturmdämonen getrotzt hat, ohne die Kotztasche benutzen zu müssen.
Es herrschte inzwischen finsterste Nacht. Die Sturmfronten waren weitergezogen, ein dünner Regen wurde von den letzten Böen durch die Gassen von Klein-Hafing gepeitscht. Der Boden schwankte immer noch unter meinen Füßen, als ich an die Tür der erstbesten Pension pochte, die ich in der Hafengegend finden konnte. Ich bezog ein kleines, sauberes Zimmer, das nicht gerade von Luxus, aber von gepflegter Gastfreundschaft zeugte. Da ich immer noch ziemlich aufgekratzt von den Ereignissen war und auch das dringende Bedürfnis verspürte, sie schriftlich zu fixieren, habe ich diesen Brief an dich geschrieben, bevor ich nun endlich ins Bett falle.
Ahoi: Dein offensichtlich seefester