Lieber Hachmed,
ich schreibe diesen Brief in einem kleinen Hotel auf dem zamonischen Festland, in Alt-Werfting, wo meine Reise begonnen hat. Die Gründe dafür, mein wahrscheinlich neugieriger Freund, werden sich aus deiner Lektüre des Folgenden ergeben. Daher halte ich es für besser, weiter chronologisch zu berichten und den Ereignissen nicht vorzugreifen.
Es war keine echte Überraschung, als Queekwigg am Tag nach meinem Ausflug zum Eisturm an meine Zimmertür klopfte und mir mitteilte, er werde mich im Auftrag von Nephelenia zum sogenannten »Holzturm« führen. Ich war nur verdutzt, dass alles so schnell ging. Ich hatte nicht einmal Zeit genug, die Hummdudel ordentlich zu versorgen, aber ich ging davon aus, dass meine Abwesenheit nicht allzu lange währen würde. In dieser Hinsicht sollte ich mich allerdings gewaltig irren.
Als wir am Holzturm ankamen, wunderte ich mich, dass der sonst so redselige Queekwigg ihn links liegen ließ und mich wortlos daran vorbei in die dahinterliegenden Dünen führte. Ich stellte keine Fragen, während er zielstrebig vor mir her zu einem kleinen Küstengnomhaus stapfte, das einsam zwischen den flachen Sandhügeln stand. War das etwa sein eigenes Haus? Wollte er da noch etwas holen? Er besaß jedenfalls einen Schlüssel für die Tür, öffnete sie und komplimentierte mich wortlos hinein.
Wie kann ich dir mein Erstaunen beschreiben, mein bester Hachmed, als ich sah, dass das Haus völlig leer war? Es gab keine Schränke, keine Küche, kein Bett, nur einen staubigen Fußboden. Queekwigg öffnete eine Holzklappe im Boden und gewährte mir damit einen Blick auf eine Treppe, die ins Dunkel führte.
»Keldertrappen!«, erläuterte er und deutete nach unten. »Geheeme Doorgangstraat. Wir gehen!«
Wir stiegen die hölzerne Stiege hinab, an deren Fuß eine Laterne stand. Er hob sie auf und entzündete sie. Dann eilte er mit der Lampe voraus. Es war eine der kohlschwarzen unterirdischen Lavahöhlen, von denen ganz Eydernorn unterkellert war, diese hatte die Form eines langen horizontal verlaufenden Tunnels. Im fahlen Licht konnte ich erkennen, dass auch hier zu Hunderttausenden diese mikroskopisch kleinen Spinnen hausten, die ich aus der Schwarzen Kerze kannte und die zwar anscheinend nicht gefährlich, mir aber dennoch nicht geheuer waren. Daher war ich ziemlich erleichtert, als der Tunnel nach kurzem Marsch zu Ende war. Wir gelangten an eine Tür, die aus massivem Wurzelholz bestand. Queekwigg besaß auch für sie einen Schlüssel.
»Geheeme Deur«, erklärte er überflüssigerweise.
Er öffnete die Tür, und wir traten in eine Höhle, die von fundamental anderer Art war als der Schrecksenkeller unter dem Weißen Turm. Diese Grotte war flach und langgestreckt und von flackerndem Kerzenlicht erleuchtet.
Zum ersten Mal seit meinem Aufenthalt auf Eydernorn fühlte ich mich von einer Natur umgeben, wie sie mir vom Festland vertraut war. Es sah dort nämlich aus wie in einer Waldhöhle, die in den Midgardbergen liegen könnte, unter einem üppigen Mischwald, aber nicht auf einer Vulkaninsel mitten im eiskalten Meer.
Hier wuchsen hauptsächlich Moose und Pilze und Farne, lauter Gewächse, wie ich sie bisher nicht in dieser Üppigkeit auf Eydernorn gesehen hatte: Monströs große Pilze aller Art, Maronenröhrlinge und Pfifferlinge, Steinpilze und Champignons, Fliegen- und Hutzenpilze und Schwammköpfe, aber auch Zypressenmoos und Schaumfarn. Auf dem moosigen Boden ging ich wie auf einem feuchten Teppich, meine Füße versanken regelrecht darin. Jeder Schritt verursachte ein schmatzendes Geräusch, es war wie bei einer Moorwanderung. Die Wände waren von Klettermoos überwuchert, aus dem überall Büschelfarn herauswuchs.
Ein paar Fliegenpilze waren so riesig, dass ihre Kappen als Tische dienten. Darauf lagerten Bücher und Papierrollen. Auf die Champignons hätte man sich setzen und die Pfifferlinge als Schirme benutzen können. Überall krochen silbrig schimmernde Käferchen auf den Pflanzen herum. Sie sahen harmlos aus und waren mir erheblich lieber als die Spinnen im Tunnel. Ab und zu flog eines von ihnen hoch und leuchtete dabei kurz und hell auf, jedes Mal in einer anderen Farbe. Ähnliches Verhalten kannte ich von Irrlichtern des Festlandes, sie erinnerten mich auch an die Glühwürmchen in deinem Antiquariat, mein bester Hachmed! Aber diese Insekten hier schienen einer Gattung anzugehören, die mir noch nicht bekannt war. Sie leuchteten außergewöhnlich intensiv.
Mir war, als wäre ich durch den unterirdischen Gang zum Festland zurückgekehrt, zumindest was die Vegetation und die Insekten anging. Am Ende der Höhle, vor einer grün überwucherten Wand, an der einige Bilder hingen, stand ein großer Tisch aus Wurzelholz, an dem eine kleine Gestalt saß, die weitere Erinnerungen an das Festland bei mir weckte.
Dies war nämlich ein Hochwaldschrat aus den Hutzenbergen, lieber Hachmed! Hochwaldschrate kenne ich seit meinen Wandertagen in dieser schönen Gegend. Man erkennt sie an ihrer gesunden grünen Gesichtsfarbe, ihren Holzzähnen und den blattförmigen Ohren. Man sagt ihnen eine hybride Herkunft aus Flora und Fauna nach, manche Wissenschaftler behaupten allerdings, sie seien eine Pilzgattung. Viele tragen einen traditionellen Eichelhut, da machte auch dieser keine Ausnahme. Sie sind für gewöhnlich kerngesunde Naturburschen von freundlichem, offenherzigem Gemüt, denen das Herz auf der Zunge liegt. Deshalb sagen sie einem unverblümt ihre Meinung ins Gesicht. Ich hatte nur angenehme Erinnerungen an meine wenigen kurzen Begegnungen mit ihnen, meist auf Wanderwegen oder in Gasthäusern. Sie sind als verlässliche Handwerker sehr beliebt, besonders in Berufen wie Schreiner oder Dachdecker. Viele von ihnen wandern durch die Lande und bieten dort, wo sie gerade kurz verweilen, ihre Dienste an, meist gegen Kost und Logis. Ich war wirklich überrascht, ausgerechnet auf Eydernorn, und noch dazu in einer Höhle unter der Erde, solch einem Wandervogel vom Festland zu begegnen, denn für gewöhnlich hielten sie sich in waldreichen Gegenden und in der frischen Luft auf.
Die Hände des Hochwaldschrats waren grün, als trüge er Handschuhe aus Moos, seine langen Fingernägel waren aus braunem Wurzelholz.
Queekwigg übernahm die Vorstellung. »Hildegunst von Mythenmetz«, sagte er knapp und deutete auf mich.
Ich nickte.
»Florestan De Cieelo«, sagte Queekwigg und deutete auf den Waldschrat.
»Willkommen in meiner Waldhöhle!«, begrüßte dieser mich freundlich und hob eine seiner kleinen, grünen Hände. Seine Stimme war sonor und angenehm. So würde vielleicht ein Uhu sprechen, wenn er sprachbegabt wäre. Auf dem Tisch, an dem er saß, befand sich das geschnitzte Modell eines Flugsamens, die Miniatur eines Fesselballons besorgte die dezente Beleuchtung.
Florestan De Cieelo
Schon aus der Entfernung bemerkte ich den enormen Waldgeruch, der von dem Kerlchen ausging: welkes Laub, Harz, Zedern- und Sandelholz, Walderdbeere, Minze, feuchte Erde, Kampfer, Lindenblüte, Bärlauch, Salbei, diverse Pilze, Honig, Kastanie, Rosmarin – alles andere als unangenehme Aromen, die dazu angetan waren, auf einer baumlosen Insel wie Eydernorn die Sehnsucht nach der üppigen Waldnatur des Festlands zu wecken. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ein Eichhörnchen auf dem Schrat herumgeklettert wäre. Ich konnte gar nicht anders, als sein betörendes Parfüm gierig zu inhalieren. Statt sich zu erheben, kam er um den Tisch herumgefahren – er saß nämlich in einem Rollstuhl, wie ich erst bemerkte, als er die Deckung des Tisches verließ. Eine grüne Moosdecke verbarg seine vermutlich gelähmten Beine, und auf seinem Schoß lag eine zusammengefaltete Karte.
»Mein Name wird Ihnen sicher wenig sagen«, bemerkte er. »Erlauben Sie mir daher bitte eine kurze Vorstellung meiner Person, bevor wir zur eigentlichen Sache kommen. Und seien Sie bitte nachsichtig, wenn ich ein wenig ausschweifend werde. Ich versuche, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.«
»Für Ausschweifungen besitze ich eine hohe Toleranz«, entgegnete ich.
Florestan deutete auf seine Beine und seufzte. »Es war ein Unfall beim Bau eines großen Baumhauses im Florinther Forst«, begann er seinen Vortrag, »der mich an diesen rollenden Sessel gefesselt hat. Ich brach mir das Rückgrat bei einem Sturz aus der Krone eines Mammutbaumes, woraus Sie die Fallhöhe ermessen mögen. Auch bei Hochwaldschraten ist das Rückgrat ein sehr fragiles Konstrukt, es besteht aus zerbrechlichen, knöchernen Wirbeln und leider nicht aus mit Harz verleimtem Holz wie andere Teile unseres Körpers. Seither ist meine Mobilität ein wenig eingeschränkt, wie Sie sehen. Viel konnten die Ärzte nicht für mich tun, daher verschrieben sie mir eine Kur auf Eydernorn – vielleicht in der Hoffnung, dass mir hier ein neues Rückgrat wächst. Ich fand zwar keine Heilung auf der Insel, aber eine neue Heimat. Zwei Dinge waren es, die mich hier von Anfang an fasziniert haben. Das erste war die Eydernorner Luft, die mir meinen Lebenswillen zurückgab.« Florestan atmete tief ein und aus. »Nichts auf unserem Planeten ist wichtiger als die Luft. Lebewesen vergehen und Berge zerfallen, Wälder verdorren, Flüsse und Meere trocknen aus. Aber die Luft bleibt ewig. Der Luftdruck bestimmt unseren Gemütszustand, unsere Launen und Ängste. Er motiviert uns oder drückt uns nieder. Und die Luft auf Eydernorn tut das in einem Maße, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Ich schöpfte neuen Lebensmut, wie es die Waldluft zu Hause nie vollbracht hätte. Also wurde ich hier ansässig.«
Queekwigg brachte mir unaufgefordert einen Stuhl aus knorrigem Wurzelholz, auf den ich mich setzte. Das würde also wohl noch ein Weilchen dauern.
»Das zweite waren die Strandlöper.« Florestan deutete auf ein ausgestopftes Exemplar dieser Gattung auf seinem Schreibtisch. »Vögel, die nicht fliegen wollen – das war ein Mysterium, das ich enträtseln wollte. Hätte ich bei meinem Sturz Flügel gehabt, säße ich jetzt nicht in diesem Stuhl. Strandlöper fliegen sogar bei ihrem Jungfernflug nicht wirklich. Sie fliegen, ohne zu fliegen. Sie breiten nur die Flügel aus und gehen in den Trudelflug – so wie es Flugsamen im Wald tut.« Er deutete auf das Flugsamenmodell, das auf seinem Tisch stand.
»Und daraus entwickelte sich bei mir kurioserweise eine Obsession für das Fliegen. Für alles, was fliegen kann, vom Flugsamen bis zum Fesselballon. Für Flugapparate aller Art und vor allen Dingen für die Eydernorner Luft, in der alles besser zu fliegen scheint als sonstwo. Ich begann also, den Luftozean über der Insel zu erforschen, und so bin ich für immer geblieben.«
»Wie kann man, wenn man eine so enge Beziehung zu waldreichen Gegenden hat, auf einer Insel wie Eydernorn sesshaft werden?«, fragte ich. »Das stelle ich mir schwierig vor.«
Florestan winkte ab. »Wir Hochwaldschrate tragen den Wald in uns und mit uns überallhin. Ich würde mich in einem üppigen Urwald nicht forstidentischer fühlen als auf einer Eisscholle.«
Ein paar Glühwürmchen umschwirrten mich, aber ich hütete mich, sie zu verscheuchen. Wenn man sein Ohr an eine Muschel legt, hört man angeblich das Geräusch des Meeres. Würde ich die Geräusche des Waldes hören, wenn ich mein Ohr an Florestan legte?
»Um meinen Lebensunterhalt zu verdienen«, fuhr er fort, »entschied ich mich, Leuchtturmwärter zu werden. Das erschien mir für jemanden, der aus gesundheitlichen Gründen wenig vor die Tür kommt, ein passender Beruf. Aber es war eigentlich weniger Beruf als Berufung, die von einem der Türme der Insel ausging. Dem Holzturm, der sich über uns befindet.« Er deutete nach oben zur Höhlendecke.
»Die Küstengnome haben diesen Holzturm vor langer Zeit errichtet. Wahrscheinlich hatte er nie eine praktische Funktion. Ein Denkmal aus Strandgut.«
Der neben mir stehende Queekwigg gab ein zustimmendes Brummen von sich.
»Aber schon als ich ihn zum ersten Mal sah, hatte ich eine Idee, welchem Zweck ich den Turm zuführen könnte. Es stand plötzlich ganz deutlich vor meinem inneren Auge. Das war mein Leuchtturmmoment.«
Auch er hatte also einen gehabt. Das konnte mich jetzt nicht mehr überraschen.
»Ich beantragte eine Lizenz als Leuchtturmwärter. Und da niemand sonst den nutzlosen Turm haben wollte, bekam ich sie im Handumdrehen. Sie waren froh, ihn loszuwerden. Als Waldschrat kannte ich mich bestens mit Insekten aus, daher kam mir die Idee mit den Glühwürmchen, die Sie sicher bereits bemerkt haben. Das sind Bauminger Wirrlichter, sie stammen ursprünglich aus dem Großen Wald. Sie ernähren sich von luminösen Waldpilzen und Moosen und sind mittlerweile in fast jedem zamonischen Forst zu finden. Diese Gattung verfügt über eine Leuchtkraft und Ausdauer beim Fliegen, die sie von herkömmlichen Glühwürmern unterscheidet. Und als Waldschrat weiß ich, wie man sie dressieren und für Beleuchtungszwecke einsetzen kann. Ich ließ mir also aus der Heimat ein paar Gläser mit lebenden Exemplaren schicken, dazu Pilzsamen und Moostriebe. Dann begann ich mit der Aufzucht. Die Küstengnome halfen mir und auch dabei, den Turm instand zu setzen.«
Queekwigg nickte brummend.
»Ich selber zog in den Keller, weil Treppensteigen ja nicht mehr infrage kommt. Hier unten wohne ich nun und betreibe meine Forschung. Jede Nacht schicke ich meine Glühwürmchen hinauf über den Turm in die Dunkelheit. Sie umkreisen ihn stundenlang und steigen in Schwärmen hoch in die Nachtluft, um dort um die Wette zu leuchten und nachher wieder zu mir zurückzukehren. Das ist mein bescheidener Beitrag zur Eydernorner Pharotechnologie.«
Florestan rollte mit seinem Stuhl auf mich zu. Seltsam – wieso verspürte ich plötzlich das dringende Bedürfnis, mir einen Eicheltee zu brühen und ein paar Kastanien zu rösten? Und je näher er auf mich zukam, desto mehr hatte ich den Wunsch, ein paar schöne Pilze zu sammeln oder nach Trüffeln im Waldboden zu wühlen. Ich hätte auch gerne ein paar hübsche Baumblätter gesucht und Wiesenblumen gepflückt, um sie in einem Herbarium zu pressen. Der kleinwüchsige Schrat war nun ziemlich nah an mich herangekommen. In mir stieg der brennende Wunsch auf, einen Baum zu beklettern und mit Tannenzapfen nach Wildschweinen zu werfen. Ich wollte ein Eichhörnchen sein.
Florestan beobachtete mich aufmerksam mit verschmitztem Gesichtsausdruck. Sollte ich vielleicht erwägen, die Försterlaufbahn einzuschlagen? Die Hege und Pflege des heimischen Waldes musste doch eine erfüllende Aufgabe sein. Ich konnte mir plötzlich ein Leben auf einem Hochstand durchaus als erfüllt vorstellen. Ich …
»Ich weiß genau, was in Ihnen vorgeht«, unterbrach Florestan meinen unerklärlichen Gedankenfluss und zeigte mir dabei grinsend sein hölzernes Gebiss. »Es ist das, was unser Parfüm bei den meisten Leuten bewirkt. Wir nennen es das Waldfieber . Das ist zwar keine Krankheit, aber trotzdem ansteckend. Eine nur ganz leichte Erhöhung der Körpertemperatur, einhergehend mit Wunschphantasien forstbezogener Art. Wir übertragen unsere eigene Passion für den Wald auf jeden, der uns riechen kann. Es ist eine Art olfaktorischer Bestäubung.« Er kicherte leise.
Das war erstaunlich! Ich hatte mich geistig beinahe in einen Waldschrat verwandelt, nur durch Florestans körperliche Nähe. Sein Forstparfüm hätte ich gerne auf Flaschen gezogen. Es machte mir schmerzlich bewusst, wie sehr ich mich auf das Festland zurücksehnte und wie gefangen ich auf dieser Insel war. Berge, Wälder, Wiesen, Flüsse, Felder, Blumen – wie ich das alles vermisste!
Florestan legte seine weiche moosige Hand auf meine Pranke und sah mich mitfühlend an. »Ich weiß, was Sie jetzt empfinden. Heimweh. Sie gehören aufs Festland, das spüre ich. Sosehr Sie Eydernorn verinnerlicht haben mögen – Sie sind keine Inselkreatur.«
Mir kamen beinahe die Tränen. »Das ist wohl wahr«, seufzte ich. »Mir fehlt auch die Kultur. Die großen Städte. Der Lärm. Die schlechte Luft in den Antiquariaten.«
Florestan kicherte und entfaltete die Karte, die in seinem Schoß lag. »Kommen wir zur Sache!«, sagte er. »Es ist fünf vor zwölf.« Er hielt die Karte so, dass ich sie gut sehen konnte. Es war eine akribische technische Zeichnung, die mich an einen Fesselballon erinnerte.
»Dies«, sagte Florestan mit vernehmlichem Stolz in der Stimme, »ist der Sphärentaucher.«
Sphärentaucher
»Taucher?«, entgegnete ich. »Sieht eher aus wie ein ziemlich verrückter Ballon. Wie kann ein Ballon tauchen?«
Florestan holte tief Luft. »Sie müssen einfach die Dinge auf den Kopf stellen!«, behauptete er. »Sich die Atmosphäre wie einen umgestülpten Ozean vorstellen. Einen Ozean aus Luft. Je höher der Ballon steigt, desto tiefer taucht er in dieses Luftmeer ein. Alles ist umgekehrt. Während der Wasserdruck immer stärker wird, je tiefer man ins Meer eintaucht, wird die Luft immer dünner, je höher man steigt. In beiden Fällen gibt es irgendwo eine Grenze, von der an normales Leben nicht mehr möglich ist. Und da wird es für die Forschung interessant. Denn ich sagte: normales Leben. Anderes, den extremen Bedingungen angepasstes Leben aber schon. Immer wieder bringen die Taucher von Eydernorn neue, unbekannte Kreaturen und Spezies von Tiefseetieren herauf. Da unten existiert eine komplett andere Welt mit eigener Flora und Fauna – und vielleicht eigenen Naturgesetzen. Dasselbe ist im Luftozean der Fall. Je höher wir steigen, umso Erstaunlicheres werden wir entdecken. Während die Geschöpfe der Tiefsee immer kompakter und robuster werden, je tiefer ihr Lebensraum liegt, so werden die Wesen der Lüfte immer feinstofflicher, nebulöser und diffuser, je höher es geht – aber nichtsdestotrotz sind sie konkret und gefährlich. Denken Sie nur an gewisse Quallen! So gut wie unsichtbar, aber absolut tödlich.«
»Warum ist die Oberfläche des, äh … Sphärentauchers so unregelmäßig?«, fragte ich. »Das sieht fast aus wie …«
»Federn!«, unterbrach er knapp. »Das sind Strandlöperfedern. Die gleichen wie die Federn Ihres Umhangs. Er deutete auf mein wichtigstes Kleidungsstück.
»Tatsächlich?« Ich strich unwillkürlich über die Befiederung meines Umhangs. Ich hatte mir über die Herkunft der Federn bisher wenig Gedanken gemacht.
Florestan grinste. »Wenn Sie diesen Umhang wie einen Schirm benutzen, könnten Sie damit von der Spitze meines Leuchtturms springen. Sie würden in sanftem Trudelflug sicher auf dem Boden landen.«
»Ist das wahr?«, fragte ich ungläubig.
»Das nehme ich zumindest an. Ich habe herausgefunden, dass Strandlöperfedern die ideale Konsistenz für die Beschichtung eines Flugobjektes besitzen. Auch wenn die Strandlöper nicht fliegen, könnten sie es doch sehr gut. Ihre Federn liegen überall auf Eydernorn herum. Also habe ich sie von den Küstengnomen sammeln und auf die Kraaken kleben lassen.«
»Kraaken? Die Ballone auf Ihrer Zeichnung bestehen aus Tintenfischen?«
»Richtig. Es sind tote Riesenkraaken.«
Ich sah mir die Zeichnung noch einmal genauer an. Tatsächlich. Das Objekt sah aus wie aufeinandergestapelte Oktopusse, einer größer als der andere.
»Sie sollten doch wissen, dass ein Kraak ideale Flugeigenschaften besitzt. Das müsste Ihnen vom Kraakenfieken vertraut sein, nicht wahr? Wie viel besser muss da erst ein riesiger Kraak fliegen? Das Wort Flugheet dürfte Ihnen ebenfalls aus Ihrer bevorzugten Sportart ein Begriff sein.«
Ich nickte. »Natürlich. Damit wird die Flugfähigkeit eines Kraaks im Spiel definiert.«
»Mein Sphärentaucher besitzt eine enorme Flugheet, das kann ich Ihnen sagen!«
»Sie lassen Riesenkraaken fangen? Und dann trocknen?«, fragte ich ungläubig.
»Das brauche ich gar nicht. Die liegen im Spätsommer überall am Strand rum. Niemand weiß, wieso die Kraaken ausgerechnet dann aus dem Wasser kommen, um hier zu sterben. Aber sie tun es, jedes Jahr, bevor der Herbst kommt. Ich lasse sie von den Küstengnomen bergen und geysirisieren.«
Ich stutzte. »Geysirisieren? Diesen Begriff müssen Sie bitte erläutern, fürchte ich.«
»Nun, dazu nimmt man einfach einen toten Kraak und wirft ihn in einen Geysirschlot. In das kochende Wasser des Vulkans, kurz nachdem er seinen heißen Dampf ausgestoßen hat.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Das ist leider nicht meine eigene Idee, sondern eine auf Eydernorn schon ewig praktizierte Methode, um gewisse Materialien wasserdicht, luftdicht und strapazierbar zu machen. Man hat schon vor Jahrhunderten herausgefunden, dass man bestimmten Stoffen und Dingen eine extreme Robustheit und Lebensdauer verleihen kann, wenn man sie in das siedende Restwasser unserer Geysirtrichter schmeißt, direkt nach der Eruption. Leder, Leinen, Taue, Segel und so weiter. Dadurch werden diese Materialien viel strapazierfähiger, dehn- und belastbarer. Die Schiffstaue und Segel von Eydernorn sind die haltbarsten Zamoniens, glauben Sie mir! Sie wurden alle in unseren Geysiren gekocht, wir nennen es »vulkanisieren«. Es liegt an der chemischen Zusammensetzung des Geysirwassers, die ich Ihnen gerne ausführlich erläutern kann.«
»Danke nein!«, wehrte ich ab. »Bis hierher habe ich alles eigentlich ganz gut verstanden. Aber was bringt die Ballone zum Fliegen? Heißluft?«
Florestan lachte, und Queekwigg gab ein meckerndes Geräusch von sich.
»Bewahre, nein! Heißluft ist etwas für Amateure. Auch hier spielt der Eydernorner Vulkanismus eine wichtige Rolle. Ich rede von hyperstabilem Geysirdampf, der aus den Schloten vom Meeresgrund aufsteigt. Den benutze ich statt ordinärer Heißluft. Wenn dieser Geysirdampf nicht entweicht, kann man damit monatelang herumfliegen, wenn es sein muss.«
»Wie fängt man denn Dampf vom Meeresgrund ein?«, fragte ich.
»Einige als Muscheltaucher ausgebildete Küstengnome beherrschen die lebensgefährliche Methode, submarinen Geysirdampf einzufangen und in geysirisierten Säcken abzufüllen. Sie benutzen ihn, um so größere Lasten vom Meeresgrund an die Wasseroberfläche zu transportieren. Wenn man ihn gleich an der Quelle einfängt, bleibt er hyperstabil, ansonsten löst er sich irgendwann im Wasser auf. Ab und zu gelangt er auch an Land, in Form von Nebelwürmern, die aber auch keine lange Lebensdauer haben.«
Nebelwürmer! Das war also das Geheimnis der wattigen Kreatur in der Stadt ohne Türen, das Florestan hier ganz nebenbei für mich lüftete! Ich wollte seinen Redefluss nicht stören, daher stellte ich dazu keine Frage.
Florestan ruderte mit den Händen, erregt von seinem eigenen Vortrag. »Ich habe herausgefunden, dass dieser Geysirdampf, wenn man ihn mit Helium mischt, einen ungeheuerlichen Auftrieb entwickelt, der den von Heißluft um ein Vielfaches übertrifft. Man vermutet, dass es Dampf aus dem Mittelpunkt dieses Planeten ist. Also so alt wie unser Planet selbst – und vielleicht sogar noch viel älter! Ein Gas aus dem Weltall vielleicht, das im Kern eingeschlossen wurde, sich mit Wasser vermischt hat und nun entweicht. Ein Element vom Beginn unseres Universums, vielleicht sogar aus einer anderen Galaxie, wer weiß? Kein Wunder, dass es nach oben strebt. Wieder zu den Sternen.«
Ich erinnerte mich an den seltsamen Traum, den ich gehabt hatte, als ich meine Hand in den Nebelwurm steckte, aber ich behielt auch das für mich.
Florestan wedelte mit den kleinen Händen über seinem Kopf. »Der mit Helium gemischte Geysirdampf bewegt sich vertikal. Er strebt blindlings nach oben, wie eine Motte zum Licht. Aber dabei entwickelt er eine enorme Fliehkraft aufwärts. Damit das Luftschiff nicht nur nach oben fliegt, musste ich an der Gondel des Sphärentauchers kleine Propeller einbauen, die horizontale Schubkräfte freisetzen können. Sie werden von alchemistischen Batterien mit Energie betrieben. Mit ihnen kann man den Sphärentaucher horizontal in alle Richtungen lenken: nach Norden, Süden, Westen, Osten oder irgendwohin dazwischen. Man muss nur einen der jeweiligen Propeller, die unterschiedlich ausgerichtet sind, entsprechend einsetzen. Außerdem habe ich ein bewegliches Windsegel eingerichtet, damit man auch die Luftströmungen zur Fortbewegung nutzen kann.« Florestan begleitete seinen Vortrag mit lebhaften Gesten. »Verstehen Sie? Das ist kein herkömmlicher Fesselballon, der wehrlos dem Wind ausgeliefert ist. In den dichteren unteren Luftschichten hat der Sphärentaucher einen so starken eigenen Auftrieb, dass man ihn direkt vertikal aufsteigen lassen kann, ohne von Luftströmungen allzu sehr beeinflusst zu werden, selbst im heftigen Eydernorner Wind. Wenn er einmal in höheren und ruhigeren Luftschichten ist, lässt man Geysirdampf ab und bewegt sich weiter horizontal fort. Über die verschieden ausgerichteten Propeller kann man dort auch steigen und sinken. Gesteuert wird das alles aus der Gondel, mit Seilzügen und Ventilen. Kapiert? Das ist ein voll manövrierfähiger Ballon. Ein echtes Luftschiff.«
»Das ist beeindruckend«, lobte ich. »Aber wer kann so ein Ding fliegen? Dazu gehören doch außergewöhnliche technische und navigatorische Fähigkeiten, oder?«
»Die Küstengnome können das. Die haben das im Blut. Es ist ein Luftschiff, aber immer noch ein Schiff, nicht wahr? Queekwigg hat mir bei der Konstruktion des Sphärentauchers von Anfang an geholfen. Er ist der ideale Pilot und Kapitän dafür.«
»Der Konstruktion? Sie wollen damit sagen, dass so ein Luftschiff tatsächlich existiert? Und nicht nur auf dem Papier?«
»Natürlich. Es ist fertig gebaut und flugbereit.« Florestan sackte in sich zusammen. Der Vortrag schien ihn eine Menge Kraft gekostet zu haben.
Ich war tief beeindruckt. Was für eine faszinierende Lebensgeschichte! Jemand, der nicht gehen kann, konstruiert Flugapparate und will damit den Eydernorner Himmel erobern. Das ist das Gegenteil von Resignation oder Erbitterung! Mein Dichtpate hatte mich einmal vor Waldschraten gewarnt. Nicht, weil sie so gefährlich seien, sondern so sympathisch. »Wenn du dich mit einem Hochwaldschrat einlässt, hast du ruckzuck einen Freund fürs Leben am Hals«, hatte er gesagt. »Und das kann anstrengender sein als ein Erzfeind.«
»Kann man den Sphärentaucher irgendwo besichtigen?«, fragte ich. »Das würde mich schon sehr interessieren.«
»Diese Möglichkeit wird sich früher ergeben, als Ihnen lieb ist«, antwortete Florestan und sah mich mit unergründlicher Miene an. »Aber vorher muss ich Ihnen noch etwas anderes zeigen.« Er gab Queekwigg ein Zeichen, der packte den Rollstuhl und schob den Waldschrat zu einer weiteren Tür in der Höhle. Der Küstengnom öffnete sie und rollte Florestan hindurch.
»Bitte folgen Sie uns«, forderte der Waldschrat mich auf. »Es gibt weiteren Erklärungsbedarf vor Ihrer Reise.«
»Meiner … Reise?«, entgegnete ich verwundert. »Ich habe eigentlich nicht vor zu verreisen.«
Queekwigg lachte auf eine Weise, die mich irritierte.
»Es gibt eine Sorte von Reisen, die man selber nicht plant«, gab Florestan zurück. »Das sind meistens die interessantesten.«
Als ich ihnen in den nächsten Raum folgte, wehte mir schon auf der Türschwelle ein Geruch entgegen, der mir sehr vertraut war und den ich dort am allerwenigsten erwartet hätte. Es war der säuerliche Geruch von vergammelndem Brot und Saurierschuppen. So rochen nur sehr alte Lindwürmer. Es war Gryphius von Odenhoblers ganz eigenes Parfüm.
Der Raum war nur dezent von ein paar Kerzen beleuchtet, so dass ich kaum mehr darin erkennen konnte als ein großes Bett.
Gryphius lag auf dieser Lagerstatt, die komplett aus Moosen und Flechten zu bestehen schien, unter einer dicken Moosdecke und mit dem Kopf auf einem Kissen aus Kräutern. Am Fußende stand Nephelenia Mauersegler, nun versammelten sich noch Florestan, Queekwigg und ich darum.
»Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass wir uns unter solchen Umständen wiederbegegnen müssen«, sprach Gryphius mich an, während er schwerfällig den Kopf hob. Seine Stimme klang müde und schwach. »Aber so ist das nun mal.«
»Was ist geschehen?«, fragte ich. »Wo bist du die ganze Zeit gewesen? Ich war mehrfach bei deinem Leuchtturm, aber …«
Er hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.
»Ich habe nicht mehr viel Zeit«, begann er. »Davon habe ich schon viel zu viel verbraucht. Es wäre besser, wenn du mich die Dinge erklären ließest, ohne mich zu unterbrechen.«
»Natürlich«, antwortete ich eingeschüchtert.
»Es tut mir unendlich leid, mein Junge«, fuhr er fort, »dass ich eine Rolle dabei spielen musste, dir diese Geschichte vorzugaukeln. Aber es ging leider nicht anders – große Dinge standen und stehen auf dem Spiel. Das Schicksal hat allerdings auch an diesem Stück auf unvorhersehbare Weise mitgeschrieben – es war alles anders geplant. Und ganz unschuldig bist du an der Entwicklung auch nicht gewesen. Du hast so einige Steine ins Rollen gebracht, allein durch deine Ankunft auf der Insel.« Er holte noch einmal tief Luft.
»Zuerst war es mein Wunsch, dich aus allem so weit wie möglich herauszuhalten. Du solltest mir nur eine Weile bei meiner Kartographie behilflich sein, bis du wieder von Eydernorn abreist. Aber dann haben sich die Ereignisse überschlagen, und nun liegen die Karten neu gemischt auf dem Tisch. Unser Schachspiel mit der Wolke währt nun schon einige Jahrhunderte, und bisher war es meistens eine ausgeglichene Partie. Ein ewiges Remis. Wir haben auf beiden Seiten gelernt, unsere Züge zu vervollkommnen und den Gegner im wahrsten Sinne des Wortes in Schach zu halten. Ich darf für mich in Anspruch nehmen, mit meiner Kartographie unserem Arsenal an Möglichkeiten ein wirkungsvolles Instrument hinzugefügt zu haben, welches das ganze Spiel auf eine neue Ebene gehoben hat. Auch Nephelenias Forschungen haben eine wichtige Rolle dabei gespielt. Und ein mächtiger Verbündeter, den du ja mittlerweile auch kennengelernt hast.«
»Das Quaquappa«, ergänzte Nephelenia vom Bettende her.
Gryphius nickte. »Genau. Das Quaquappa. Unser geheimnisvoller gemeinsamer Freund in diesem Spiel. Ich habe mit Nephelenias Informationen und Spekulationen eine halluzinogene Karte der Wolke erstellt und damit selber eine kartographische Reise in sie hinein unternommen. Das sollte eigentlich dir vorbehalten sein. Aber nach deiner Reise in die Tiefsee, die beinahe schiefgelaufen ist, erschien es mir zu riskant. Ich habe also selber eine imaginäre Reise mit dem Sphärentaucher durch die Wolke unternommen, um das Terrain zu erforschen. Und ich kann behaupten, dass dies das Strapaziöseste überhaupt meines ganzen Lebens war. Meine dabei gewonnenen Erkenntnisse habe ich Nephelenia und Florestan anschließend mitgeteilt, und daraus ist unser Plan entstanden, in den wir schließlich auch die anderen Leuchtturmwärter eingeweiht haben. Leider habe ich mich bei diesem wahnwitzigen Ausflug etwas übernommen – nicht ganz unähnlich wie du bei deiner Tiefseereise. Ich habe die Wirksamkeit meiner eigenen Kartographie sträflich unterschätzt, es war alles ein wenig zu real für meinen Geschmack. Und auf viele Dinge, die ich dabei gesehen habe, war ich einfach nicht vorbereitet. Auf Wolkenspinnen zum Beispiel.« Gryphius ächzte.
»Wolkenspinnen?«, fragte ich.
»Das werde ich später erklären«, mischte Nephelenia sich ein, damit der uralte Lindwurm fortfahren konnte.
»Die Ereignisse haben mich so sehr mitgenommen, dass ich nun nicht mehr selbst in der Lage bin, die tatsächliche Reise mit dem Sphärentaucher zu bewältigen. Denn ich bin am Ende meiner eigenen Lebensreise angelangt. Das wäre nicht nur für mich zu riskant, sondern für das ganze Unternehmen.« Gryphius hustete röchelnd.
»Um es kurz zu machen: Wir und alle anderen Leuchtturmwärter von Eydernorn haben nun gemeinsam beschlossen, dass jemand anderer als ich den Sphärentaucher in die Große Wolke steuern wird.«
Ich hatte immer noch keine Ahnung, wovon er da eigentlich redete. Ich warf einen schnellen Blick auf Nephelenia. Wenn er damit jemanden meinte, der sich in diesem Raum befand, dann ja wohl sie. Sie war Wolkenanatomin, besaß das umfassendste Wissen über die Wolke und sicherlich die geistigen Kapazitäten, um solch ein Unternehmen durchzuführen, worin auch immer es bestehen sollte. Die genauen Zusammenhänge gingen über mein Fassungsvermögen. Für mich war das alles immer noch ein Rätsel.
Gryphius sah mich mit seinen trüben Augen an und ergriff meine Klaue mit einem erstaunlich festen Griff für seine geschwächte Verfassung. »Du wirst es sein, dem diese Ehre zuteilwird. Du bist der Auserwählte!«, keuchte er. »Erweise dich dieser Ehre als würdig, zum ewigen Ruhm der Lindwurmfeste! Damit liegt das Schicksal unseres gesamten Kontinents in deinen Händen, mein Sohn!«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er da eigentlich redete, aber jemandem, der womöglich im Sterben lag, widerspricht man in solch einer Situation nicht.
»Nephelenia wird dir alles Weitere erklären«, fuhr er fort. »Aber hör jetzt noch einmal gut zu! Das ist sehr wichtig: Nimm dich in Acht vor den Wolkenspinnen! Komm ihnen nicht zu nahe! Sie sind das Gefährlichste darin! Das Allergefährlichste!«
Dann schloss er sehr langsam die Augen, und sein fester Griff wurde augenblicklich schlaff.
»Er ist eingeschlafen«, sagte ich leise und ließ seine Hand behutsam auf die Moosdecke gleiten. »Was ich nicht ganz verstanden habe«, fügte ich flüsternd hinzu, »war diese Sache mit dem Auserwählten. Und was meinte er mit Wolken …«
»Er ist tot!«, unterbrach mich Florestan. »Möge das Orm ihn empfangen!«
»Möge das Orm ihn empfangen!«, riefen die anderen wie im Chor.
»Unsinn!«, widersprach ich und legte meine Finger auf Gryphius’ Hals, um seinen Pulsschlag zu prüfen. »Er ist nur ein bisschen müde. Er …« Dann stockte ich. Da waren keine Pulsschläge, die ich hätte zählen können.
»Er hatte ein langes Leben, wie es sonst kaum jemandem vergönnt ist«, sagte Florestan weihevoll. »Das Orm sei mit ihm!«
Ich legte mein Ohr an Gryphius’ Brust. Da war kein Herzschlag. Es gab keinen Zweifel: Der Dichtpate meines Dichtpaten war in meinem Beisein verstorben. Niemals könnte ich das Chaos von Gefühlen zureichend beschreiben, das in mir tobte, mein lieber Hachmed. Tränen schossen mir in die Augen.
»Du kannst sehr stolz darauf sein, von einem Lindwurm wie ihm mit dieser Würde ausgestattet worden zu sein«, sagte Florestan. »Aber nun ist leider weder die Zeit für Stolz noch für Trauer. Du musst jetzt vor allen Dingen sehr stark und tapfer sein.«
»Ich verstehe das alles nicht!«, schluchzte ich. »Wovon redet ihr alle?«
»Du bist der Auserwählte!«, rief Florestan feierlich.
»Der Auserwählte!«, wiederholten die anderen nicht weniger salbungsvoll im Chor.
Queekwigg schob Florestan zu einem großen Drahtkorb, der durch ein Loch in der Decke in den Raum herabhing. Jetzt begriff ich, dass es eine Art Aufzug für den Rollstuhl war, den sie nun beide benutzten, um nach oben in den Turm zu gelangen.
Nephelenia trat an mich heran und nahm meine Hand.
»Florestan hat recht«, sagte sie. »Wir haben leider keine Zeit für eine angemessene Trauer. Ich werde dir alles erklären. Es ist fünf vor zwölf.«
Schon wieder?, dachte ich. Was haben hier nur alle immer mit dieser Uhrzeit?
Nephelenia kramte in ihrer Umhängetasche und förderte etwas hervor. Es war ein Padparadschasaphir, der meinem eigenen sehr ähnelte. Sein pulsierendes Leuchten tauchte ihr Gesicht in ein grünes Licht. »Sie werden den Ihren ja sicher auch dabeihaben«, sagte sie.
»Natürlich!«, antwortete ich.
»Und Sie erinnern sich gewiss an mein Modell von Eydernorn und die Kommunikation der Leuchtturmwärter.«
»Wie könnte ich das vergessen?«
»Nun, so ähnlich funktioniert das jetzt auch mit uns beiden. Wir werden während Ihres Fluges telepathischen Kontakt halten, über die beiden Saphire. Es genügt vollkommen, wenn Sie ihn in Ihrer Bekleidung irgendwo bei sich tragen. Nur nicht verlieren!«
Ich nickte.
»Wenn der telepathische Kontakt einmal steht, werde ich über Ihre Augen alles sehen, was Sie sehen. Über Ihre Ohren hören, was Sie hören. Über Ihre Nüstern riechen, was Sie riechen. Sie brauchen nicht zu sprechen, um mit mir zu reden. Es reicht, wenn Sie denken. Ist das soweit klar?«
Ich nickte wieder.
»Gut. Wenn ihr bei der Großen Wolke seid, werde ich die Navigation übernehmen. Ich stütze mich dabei auf meine eigenen Beobachtungen und Forschungen, hauptsächlich aber auf das, was Gryphius mir über seine imaginäre Reise vermittelt hat.«
Das klang nicht nach einem Plan, sondern nach einem Himmelfahrtskommando. Aber ich nickte schon wieder, gelähmt vor Furcht.
»Ich werde dabei versuchen, Umwege oder Sackgassen zu vermeiden und Gefahrenorte zu umgehen.
»Gefahrenorte?«, fragte ich bang.
»Nun, die ganze Wolke ist ein Gefahrenort. Wir werden dennoch versuchen, keine überflüssigen Risiken einzugehen.«
Auch das klang nicht gerade ermutigend. Während wir weiter die Treppen nach oben stiegen, herrschte um uns herum hektische Betriebsamkeit. Küstengnome liefen treppauf und treppab und wuselten durcheinander. Manche schleppten schwere Zylinder aus Metall, die wahrscheinlich Geysirdampf enthielten. Schließlich betraten wir durch eine Luke das Innere des Turmes. Hier roch es muffig nach einer ganz anderen Art von Holz als im Höhlenbereich. Es war das vom Meer getränkte tote Treibholz, aus dem Florestans Turm gefertigt war.
Überall waren Tranfunzeln aufgestellt, die den hohen Raum nur unzureichend beleuchteten, aber es genügte dennoch, um das aus dem Dunkel zu schälen, was ihn auf beeindruckende Weise erfüllte: den Sphärentaucher.
Florestans Luftschiff sah in Wirklichkeit noch erheblich bizarrer aus als auf dem Papier. Die geblähten Ballonhüllen aus gelblicher Oktopushaut wirkten eher wie ein monströses Bauwerk als wie ein Fluggerät. Sie schwankten hin und her und quietschten und knirschten, während sie sich bei ihrer Befüllung mit Dampf immer weiter ausdehnten. Es schien eher auf den Grund des Ozeans zu gehören und nicht ans Firmament.
Tausend Fragen und Gedanken gingen mir durch den Kopf. Was hatte ich mit diesem absurden Flugapparat zu schaffen? Ich habe nicht mehr Ambitionen zum Fliegen als ein verdammter Strandlöper! Das Schicksal unseres Kontinents liege in meinen Händen, hatte Gryphius behauptet. Was hatte er damit gemeint? Wozu zum Henker war ich denn überhaupt auserwählt? Und welches gloriose Ziel hatte diese geheimnisvolle Unternehmung eigentlich? Aber in diesem Augenblick besaß ich schon längst keinen eigenen Willen mehr und ließ mich von der Welle des kollektiven Aktivismus mittragen, die alle ergriffen hatte. Dennoch wagte ich es, meinen Zweifel zu formulieren.
»Seid ihr wirklich sicher, dass das Ding fliegt?«, fragte ich. »Auf mich macht es den Eindruck, als würde es gleich platzen.«
»Nun ja«, antwortete Nephelenia, »bisher ist der Ballon nur rein theoretisch getestet worden. Aber so ist das in der Wissenschaft nun mal. Es gibt keine Gewissheiten. Erfolg oder Fehlschlag, das ist jedes Mal ungewiss.« Auch das war eine wenig tröstliche Information in diesem Augenblick, daher verkniff ich mir weitere Fragen.
Queekwigg saß bereits in der Gondel und hantierte fachmännisch an den Armaturen, während Florestan ihm von außen letzte Anweisungen zurief: »Bei Aufwind nicht zu stark drosseln! Mehr Geysirdampf auf den mittleren Ballon! Die Propeller justieren!« und so weiter.
Ich wurde mehr geschoben und gehoben, als dass ich den Korb selber bestieg. Noch immer wusste ich nicht so recht, wie mir eigentlich geschah. Als ich endlich drinnen war, hatte ich keine Ahnung, was ich dort tun sollte.
»Der Saphir!«, erinnerte mich Nephelenia. »Einfach daran denken, wenn ihr oben seid! So kommen wir in Kontakt. Sie winkte dabei mit ihrem eigenen Edelstein wie mit einem Fähnchen.
»Zur Ehre der Lindwurmfeste!«, rief Florestan feierlich, wahrscheinlich, um mich zu motivieren.
»Lindwurmfeste! Lindwurmfeste!«, riefen ein paar Gnome, wohl um auch etwas zur Weihe des Augenblicks beizutragen.
Florestan pfiff schrill auf zweien seiner hölzernen Finger – ein Signal, das von allen Küstengnomen sogleich verstanden wurde. Sie schlugen mit Holzhämmern Pflöcke aus dem Boden. Plötzlich rief jemand ein Kommando, das ich nicht verstand. Die Wände des hölzernen Turmes knirschten und knackten bedrohlich, Lichtstrahlen fielen von allen Seiten durch immer länger werdende Ritzen ins Innere, es wurde hell. Holzspäne und kleine Splitter flogen durch die Luft, Staub wallte auf – und dann fiel der Turm rings um uns herum auseinander wie ein Kartenhaus. Eine hohe Wand nach der anderen klappte nach außen, stürzte um wie ein gefällter Baum und landete der Länge nach krachend im Dünensand. Und schon befand sich der Sphärentaucher im Freien!
Ein zweiter Pfiff, einige der Küstengnome ergriffen Äxte und durchtrennten beherzt mit wenigen Hieben mehrere Seile, die den Ballon noch an die Erde fesselten. Ein dritter Pfiff.
Queekwigg öffnete mehrere Ventile an seiner Armatur und zerrte energisch an ein paar Handzügen. Es zischte und brodelte in der Maschinerie, dann gab es einen gewaltigen Ruck unter meinen Füßen – und schon hoben wir uns mit dem absurden Gefährt in die Luft. Mit so einem Blitzstart hatte ich wirklich nicht gerechnet. Doch es ging alles so rasant, dass ich binnen weniger Sekunden Florestan und alle anderen nur noch als winzige Insekten im Dünensand wahrnehmen konnte. Der Turm lag in sechs Teile auseinandergeklappt um sie herum wie ein hölzerner Stern.
Das Gefährt stieg mindestens zehnmal so schnell in die Luft wie ein gewöhnlicher Heißluftballon! Sein Erfinder hatte wirklich nicht übertrieben – das war eine völlig neue Dimension der Ballonfliegerei. Hätte ich mich nicht an der Reling festgeklammert, wäre ich wohl der Länge nach hingeschlagen, so rabiat war der Auftrieb. Nur wenige Augenblicke, und ich konnte bereits die Insel in ihrer Gänze überschauen, beide Teile, ringsherum das glitzernde Meer.
Aufgebrachte Möwen flatterten uns kreischend aus dem Weg, und im Nu befanden wir uns in einer ersten dünnen Schleierwolkenschicht.
»Das war schnell!«, rief ich Queekwigg zu.
»Noch schneller!«, rief er grinsend zurück und zog kräftig an einer Strippe, was den Auftrieb ruckartig beschleunigte.
Erst jetzt wagte ich, zum ersten Mal nach oben zu blicken. Der Sphärentaucher ragte über uns wie ein Leuchtturm, und weiter oben lungerte bedrohlich das finstere Wolkenungetüm, das immer mehr von meinem Blickfeld einnahm, je weiter wir stiegen. Ja, wir steuerten mitten hinein in das Wettermeer aus dunkelgrauem Dampf.
Worauf hatte ich mich da eingelassen? Ich saß in diesem verrückten Fluggerät eines mir eigentlich völlig unbekannten Leuchtturmwärters, zusammen mit einem Küstengnom, mit dem ich mich fast nur in Zeichensprache verständigen konnte, und flog direkt hinein in eine gigantische Gewitterwolke, die mir als das absolute Böse beschrieben worden war. In meinem Umhang befand sich ein Saphir, mit dem ich angeblich mit einer Eydeetin kommunizieren konnte, die uns durch die Wolke führen wollte, sich aber noch nicht gemeldet hatte. Meine Chance auf eine unversehrte Rückkehr malte ich mir rabenschwarz aus.
»Ich würde Queekwigg jetzt empfehlen, den Auftrieb zu drosseln« , vernahm ich da endlich Nephelenias Stimme in meinem Kopf. »Und ich habe mich bisher nicht gemeldet, weil ich erst von diesem Teil der Reise an relevant für das Unternehmen bin.«
»Ich dachte, Sie lesen prinzipiell keine Gedanken«, gab ich zurück und wunderte mich selbst über meine Schlagfertigkeit in dieser Situation.
»Das ist jetzt wirklich nicht der Augenblick, um spitzfindig zu werden. Ab jetzt müssen wir sehr präzise navigieren, um die Wolke an der richtigen Stelle zu entern. Ihr müsst euch drei Strich Backbord halten.«
Ich gab die Anweisung an Queekwigg weiter, und er hantierte sofort an seiner Armatur und den Handzügen.
»Backbord!«, krächzte er. »Drei Strich.« Das Schiff tat einen kleinen Ruck in eine Richtung, die hoffentlich Backbord war.
»Es ist ein nicht wirklich sichtbares Loch in der Wolke, aus dem sie die meisten ihrer Sturmwirbel ausscheidet. Es befindet sich direkt über euch. Man erkennt es an einer langsamen Rotation im Wolkenkorpus.«
Ich sah nach oben. Da gab es tatsächlich eine entsprechende Bewegung im Dampfmeer.
»Da fliegt ihr einfach hinein« , befahl Nephelenia. »Die Wolke wird euch vermutlich nur für eine Blähung halten.«
Die Vorstellung, die Wolke über eines ihrer Ausscheidungsorgane zu entern, war mir nicht besonders geheuer, aber es gab ja schon längst kein Zurück mehr. Queekwigg steuerte den Sphärentaucher mitten in den Wirbel hinein.
Ich hatte erwartet, dass wir auf irgendeine Form von physischem Widerstand stoßen würden, eine flüssige Wand oder eine Art Membran, wenn wir in die Wolke eindrangen. Aber wir glitten eigentlich nur durch dünnen Nebel, bis wir schließlich die Sicht auf die Insel unter uns verloren hatten.
Der Nebel lichtete sich bald, und das Luftschiff driftete durch einen geräumigen Schlauch aus dunkelgrauem Dampf, an dessen Innenwand knisternde elektrische Entladungen auf und ab tanzten wie nervöse Vögel.
»Wir sind jetzt in der Wolke«, kommentierte Nephelenia. »Das ist ein Tornadoschacht. Genau so, wie ich vermutet hatte.«
Das Rauschen und Pfeifen der Windströmungen hörte sich hier an wie das Gejaule von Gebirgsdämonen in der Nacht, und manchmal wurde es von einem unheimlichen Rumpeln aus der Ferne unterbrochen. Der monumentale Innenraum der Riesenwolke besaß eine ganz eigene Akustik. Bereits jetzt hörte ich Geräusche, wie ich sie so noch nie vernommen hatte.
»Natürlich«, sagte Nephelenia. »Das ist ein gigantischer labyrinthischer Schallraum, der permanent seine Form verändert und dadurch auch die Töne, die in ihm erzeugt und reflektiert werden. Schallwellen werden ständig umgelenkt, Echos werden zusammengequetscht oder ausgedehnt wie in einem riesigen Akkordeon, es ist wie in einem monströsen Musikinstrument aus Wasser und Luft. Man könnte durchaus behaupten, dass die Wolke ihre eigene Wettermusik erzeugt.«
Ich musste mich erst noch daran gewöhnen, dass sie nun ständig meine Gedanken las. Mir blieb zunächst nichts anderes übrig, als die Krallen in die Reling zu bohren und mich festzuhalten, die Füße fest aufs Deck zu pflanzen – wie seinerzeit bei der stürmischen Überfahrt auf der Quoped . Und ich hoffte darauf, dass mich nicht die Luftkrankheit ereilte. Meine Seefestigkeit half mir nämlich nicht viel, denn was hier mein Gleichgewichtsgefühl und meinen Magen auf eine harte Probe stellte, waren keine Wellen, sondern Turbulenzen. Beunruhigt stellte ich fest, dass diese immer stärker wurden, je höher wir in dem Schlauch aufstiegen – bis sie schlagartig aufhörten. Das war der Augenblick, in dem wir in einen großen Raum innerhalb der Wolke hineinsegelten, dessen kolossaler Anblick mir den Atem raubte, mein bester Hachmed!
Ich kann nicht sagen, wie groß dieser Raum tatsächlich war, denn in dieser Wolkenwelt waren Größenverhältnisse nur schwer einzuschätzen. Aber eine Stadt wie Eydergard hätte sicherlich hineingepasst, sogar mehrmals aufeinandergestapelt. Auf den ersten Blick sah es fast so aus wie in einer gigantischen Höhle voller monströser und krumm gewachsener Tropfsteine, die Decke und Boden verbanden. Aber das waren keine in Jahrtausenden gewachsenen Kalksteinsäulen, mein bester Hachmed, sondern ausgewachsene Wirbelstürme aus glitzernden Schneeflocken und Eispartikeln verschiedener Größe. Am erstaunlichsten fand ich, dass sie sich nicht bewegten, sie wirkten wie gefroren in Zeit und Raum.
»Das müsste nach meinen Berechnungen die Wirbelsturmkammer sein«, erläuterte Nephelenia. »Hier fabriziert und lagert die Wolke ihre Winterwirbelstürme aus Schnee und Eis. Unbeweglich sind sie allerdings nicht! Sie rotieren um die eigene Achse, aber ausgesprochen langsam. Das sind träumende Tornados. Eine schlafende Armee von Wetterphänomenen, die darauf wartet, geweckt zu werden.«
Es war gespenstisch lautlos in diesem riesigen Raum, die einzigen Geräusche verursachten unsere Propeller. Die gefrorenen Riesen strahlten eine deutlich spürbare Kälte ab, aber durch die herrschende Windstille war sie erträglich.
»Da müssen wir hindurch«, entschied Nephelenia. »Am Ende der Halle muss es einen Tunnel geben, der in die anderen Bereiche der Wolke führt. Einen anderen Weg gibt es nicht.«
Queekwigg zeigte sich völlig unbeeindruckt von dieser aeronautischen Aufgabe. Er hantierte seelenruhig an seinen Ventilen und begann mit der Durchquerung der Wirbelsturmkammer.
Ich nahm es weniger gelassen. Was würde geschehen, wenn wir einem der gigantischen Wirbel zu nahe kämen? Würde er uns erfassen oder uns sogar in sich hineinsaugen?
Die Tornados standen zum Glück in Abständen voneinander, die ausreichen konnten, um unseren Sphärentaucher in Schlangenkurven zwischen ihnen hindurchzunavigieren. Nun lag alles in Queekwiggs geschickten Händen.
Es führt zu einer enormen Angespanntheit, mein bester Freund, wenn man dicht an einem aufreizend langsam rotierenden Wirbelsturm vorbeisegeln muss, es ist, wie an einem riesigen, schlafenden Untier vorbeischleichen zu müssen, das jederzeit erwachen kann. Und wir mussten Dutzende von Tornados passieren. Was würde geschehen, wenn die Wolke einen ihrer schlafenden Riesen aktivierte und in Bewegung versetzte? Auf welche Art würde er diese Halle durchqueren und verlassen? Ich wagte nicht, mir das vorzustellen. Mir war, als würde ich auf Zehenspitzen durch eine Höhle voller schlafender Drachen schleichen, um ihre Schätze zu rauben. Wenn einer von ihnen erwachte, taten es alle anderen dann auch?
Die schlafenden Stürme gaben keinerlei Geräusch von sich, was die Szenerie noch unwirklicher machte, aber je näher wir ihnen kamen, desto besser konnte ich sehen, dass sie tatsächlich rotierten – sehr, sehr langsam.
Queekwigg lenkte den Sphärentaucher souverän durch das Spalier dieser Riesen. Ständige Justierungen an den Ventilen genügten, um den richtigen Kurs zu halten, eine elegante Schlangenlinie zwischen den Wirbeln. Jetzt erst erhielt ich einen Begriff davon, wie genial dieses komplexe Ballonkonstrukt durchdacht und hergestellt war, wie effektiv und präzise sein Propellerantrieb und die Handsteuerung funktionierten. Auch zwischen den Wirbeln herrschte absolute Stille. Manchmal umwehte uns fast greifbarer Eisnebel, so dass unser Luftschiff bald von Raureif und gezackten Eisblumen überzogen war.
Die seltsame Ruhe wirkte ehrfurchtgebietend, ich hörte lediglich das Summen der Propeller und meinen eigenen Herzschlag. Wovon schlafende Tornados wohl träumen mögen?, fragte ich mich.
»Natürlich von der Zerstörung«, belehrte mich Nephelenia. »Das ist alles, was sie können.«
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, den Schlafsaal der Riesen zu durchqueren. Ich hatte also reichlich Gelegenheit, mir in düsteren Farben auszumalen, was uns in den anderen Räumen der Wolke erwartete. Das trug zwar leider nicht zu meiner Zuversicht bei. Aber immerhin hatten wir bald diese erste Etappe physisch unversehrt überstanden.
Dann steuerte Queekwigg den Sphärentaucher in einen dunklen Tunnel am Ende des Tornadosaals hinein.
»Dies ist eine der Arterien der Wolke«, meldete sich Nephelenia. »Das sind die Hauptschlagadern, sie verbinden die großen Kammern und Organe der Wolke auf direkte Weise. An die müssen wir uns halten und die labyrinthischen Nebenwege vermeiden, wenn wir so schnell wie möglich ans Ziel gelangen wollen. Man erkennt sie daran, dass dort die meisten Blitzquallen unterwegs sind.
»Blitzquallen?«, fragte ich bang zurück.
»Ja, die gibt es hier praktisch überall«, antwortete Nephelenia. »Es wundert mich, dass wir bisher noch keine gesehen haben. Aber wir müssten bald den ersten Exemplaren begegnen. Und es wäre besser, sich gleich an sie zu gewöhnen, denn sie bevölkern, wie gesagt, die Wolke in fast sämtlichen Bereichen.«
»Sind sie gefährlich?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Sie sind groß, und sie sind elektrisch stark aufgeladen. Du darfst sie dir als so etwas wie die Blutkörperchen der Wolke vorstellen. Sie halten den ganzen meteorologischen Stoffwechsel in Gang, der vorwiegend elektromagnetisch funktioniert. Die Wolke scheidet verbrauchte Blitzquallen gelegentlich mit dem Regen aus, dann landen sie im Meer und an den Stränden von Eydernorn. Daher besitzen wir Kenntnis von ihnen.«
Es dauerte tatsächlich nicht lange, mein bester Hachmed, bis sich Nephelenias Ankündigung erfüllte und wir die ersten Exemplare zu sehen bekamen. In dieser von Nephelenia so genannten »Aorta« wimmelte es von ihnen. Sie waren um ein Vielfaches größer als herkömmliche Quallen, zirka zwei bis drei Meter im Umfang, und besaßen auch sonst nur entfernte Ähnlichkeit mit den transparenten Meeresbewohnern, von ihrer gallertartigen Beschaffenheit abgesehen. Das waren also die ekligen Schleimkadaver, die ich am Strand gesehen hatte! In lebendigem Zustand sahen sie allerdings bei weitem nicht so ekelerregend aus wie ihre verrotteten Leichen im Sand. Sie waren sogar elegant und auf außerirdische Weise schön. In ihrem Inneren wetterleuchtete es ununterbrochen. Sie schienen hauptsächlich aus Wasser zu bestehen, mit unablässig zuckenden und grellen Lichtblitzen darin, die von elektrostatischem Knistern und extrem hohen Pfeiftönen begleitet wurden, die wie Störungen in meinem Gehör klangen. Manchmal quietschten sie in den allerhöchsten Frequenzen, die ich jemals vernommen habe. Aus ihren wässrigen Körpern baumelten lange gallertartige Tentakel, die ihnen wahrscheinlich als Greifwerkzeuge dienten. Sie rochen aufdringlich nach Ozon.
»Sie sind es, die in großen Schwärmen das Wetterleuchten im Inneren der Wolke verursachen«, erläuterte Nephelenia. »Von Eydernorn aus betrachtet, sieht das aus wie die Entladungen von großen Blitzen, aber in Wirklichkeit ist es die kollektive Leistung von zigtausenden von Blitzquallen, die in koordiniertem Takt aufleuchten.«
Der Sphärentaucher driftete zunächst völlig unbehelligt von den Quallen durch die Aorta. Sie schienen uns entweder zu ignorieren oder gar nicht wahrzunehmen, manchmal eskortierten uns zwei oder drei, nur Armlängen entfernt. Dann konnte ich sie deutlicher knistern und pfeifen hören. Einmal tat es einen gewaltigen Donnerschlag aus einem anderen Bereich der Wolke, der nicht nur uns in der Gondel, sondern auch die Quallen heftig zusammenzucken ließ. Glaub mir, Hachmed: Wer noch nie einen Donnerschlag dort gehört hat, wo er entsteht, der weiß nicht, was Donner ist.
»Auch wenn die Wolke träumt, so ist sie doch immer wach«, ermahnte mich Nephelenia. »Wir sollten uns beeilen.«
Ich gab die Empfehlung an Queekwigg weiter, und bald darauf segelte der Sphärentaucher hinein in einen weiteren riesigen Raum. Die Wände waren wie aus fetten dunklen Gewitterwolken gemauert, aus der gewaltigen gewölbten Nebeldecke fiel leichter Nieselregen. Dünne Dunstschleier verwehrten uns immer wieder die Sicht, aber als wir sie passiert hatten, eröffnete sich uns das bislang wundersamste Panorama innerhalb der Großen Wolke.
»Die Leuchttürme!«, entfuhr es mir unwillkürlich bei diesem Anblick. Wahrscheinlich musste ich es nur deswegen laut aussprechen, weil ich einfach nicht glauben konnte, was ich da sah.
Denn da waren sie tatsächlich – die Leuchttürme von Eydernorn, alle einhundertzwölf, Nephelenias geheimer Turm eingeschlossen. Sie standen nicht wie auf der Insel in großen Abständen voneinander, sondern alle zusammen dicht gedrängt auf engstem Raum auf dem Grund dieser gewaltigen Wolkenhöhle – wie eine ganze Stadt aus Leuchttürmen. Ich schätzte, dass sie genauso groß waren wie die echten Türme auf der Insel, aber sie bestanden natürlich nicht aus Stein oder Eisen oder Holz oder einem anderen Baumaterial, sondern aus grauem Nebel – einhundertzwölf riesige Skulpturen aus geformtem Dampf und Dunst.
Es war befremdlich genug, all diese Leuchttürme, die mir mittlerweile in vielerlei Gestalt so vertraut waren, derart nah beieinanderstehen zu sehen, denn das entsprach so ganz und gar nicht dem Prinzip der Pharotechnologie. Als ob dies das Bemerkenswerteste an diesem Anblick gewesen wäre! Unter uns stand eine Gespensterarmee aus Nebelleuchttürmen, und ich wunderte mich über die geringen Abstände zwischen ihnen, mein bester Hachmed! Sie waberten und schwankten ein wenig, waren diffus in den Konturen, behielten aber im Wesentlichen ihre Form und bewegten sich nicht von der Stelle, wie es gewöhnlicher Nebel zu tun pflegt. Manche waren so zart und transparent, dass man durch sie hindurch die nächsten Türme sehen konnte. Andere waren so undurchsichtig und dunkel wie fette Gewitterwolken, wieder andere fast weiß und prall wie Schönwetterwölkchen. In allen Abstufungen von Grau standen die Nebeltürme unter uns wie die Figuren eines gigantischen Schachspiels, das für eine Partie unter Riesen aufgebaut worden war.
Es gab keinerlei Turbulenzen, und der Sphärentaucher glitt geräuschlos und dicht über diese Fata Morgana aus Nebel hinweg, so dass ich sie in allen Einzelheiten bestaunen konnte: Die Wolke hatte die Türme erstaunlich wirklichkeitsgetreu kopiert – zumindest sah es so aus, als stimmten die Proportionen und architektonischen Details im Wesentlichen. Da – die Lindwurmfeste von Gryphius! Da – der Weiße Turm der Schreckse. Da – der Chronosturm. Da, das Rostige Rohr! Florestan De Cieelos Holzturm. Der Eydergarder Baumkuchen. Sie waren alle da, auch, wie schon erwähnt, Nephelenias geheimer Eisturm.
»Die Wolke sieht von oben alles«, kommentierte die Eydeetin leise. »Sie scheint einen gewissen Respekt vor unseren Türmen zu besitzen.«
Etliche der Blitzquallen trieben zwischen den Türmen hindurch, andere hatten hier und da bei ihnen angedockt. Es sah beinahe so aus, als seien sie mit ihren Tentakeln damit beschäftigt, die Wolkenskulpturen in Form zu halten, so wie Gärtner die Bäume, Sträucher und Büsche eines wohlgepflegten Parks. Sogar die Temperatur in diesem Raum war angenehm, wie in einer warmen Frühlingsnacht. Das war der friedlichste und am wenigsten beängstigende Bereich der Wolke, den wir bisher durchkreuzt hatten.
In der Tat, die Wolke musste einigen Respekt vor den Leuchttürmen besitzen, wenn sie sie so akribisch nachbildete und pflegen ließ. Oder verfolgte sie damit andere Absichten? Wie als Antwort auf meine Frage rollte ein tiefes Donnergrollen aus der Ferne durch den Raum, das die Blitzquallen aufschreckte und in hektische Aktivität versetzte. Auch die Nebeltürme gerieten in Bewegung, wie Seetang, der von einer Strömung erfasst wird.
»Wir müssen uns beeilen«, mahnte Nephelenia. Wir hatten nun das Ende des Raums mit den Leuchttürmen erreicht, unser Weg führte in einen schlauchartigen Ausgang, dem auch zahlreiche Blitzquallen entgegenströmten. Queekwigg lenkte unser Luftschiff souverän hinein, und ich blickte noch einmal zurück auf die wankenden Türme aus Dampf. Wenn die Wolke fähig ist, fragte ich mich, so etwas Planvolles und Systematisches zu erschaffen, wozu ist sie sonst noch in der Lage? Dann verschwand der Sphärentaucher im Tunnel, und die Türme gerieten aus meinem Blickfeld.
Dieser Tunnel war wieder sehr geräumig – also wie von Nephelenia vorhergesagt, eine weitere Hauptschlagader, welche von zahlreichen Quallen bevölkert war, die mit ihren grellen elektrischen Entladungen eine unruhige Beleuchtung schufen.
»Die Wolke versucht, eine Imitation unserer Welt zu schaffen«, bemühte sich Nephelenia zu erklären. »Sie ist damit beschäftigt, uns überflüssig zu machen. Ein ebenso lächerlicher wie beängstigender Ansatz.«
Plötzlich geriet unser gemächlicher Flug ins Stocken. Wir kamen nicht weiter voran, obwohl sich die Propeller heftig drehten. Queekwigg hantierte an seinen Armaturen und machte einen ratlosen Eindruck – egal, was er versuchte, wir kamen einfach nicht mehr vom Fleck. Außerdem wurde es plötzlich sehr warm und stickig in der Gondel, Nebelschwaden wehten herein, es wurde heiß wie in der Sauna im SAFÜAT .
»Was ist los?«, fragte Nephelenia. »Warum halten wir an? Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Ich lehnte mich über die Reling und blickte nach unten. Unter uns befand sich ein kreisrunder Schacht, der von dem Tunnel senkrecht wegführte und in den der Sphärentaucher mehrmals hineingepasst hätte. Als sich der Dunst, der aus diesem Loch emporstieg, für einen Augenblick lichtete, konnte ich sehen, dass es mit brodelndem kochendem Wasser gefüllt war. Gleichzeitig registrierte ich eine unsichtbare Kraft, die sich rabiat an der Gondel zu schaffen machte und offensichtlich versuchte, den Sphärentaucher in diesen Schacht zu zerren. Wir sanken, tiefer und immer tiefer.
Queekwiggs Versuche zu manövrieren hatten mittlerweile etwas Verzweifeltes bekommen. Er hatte diesem Sog offensichtlich nichts entgegenzusetzen. Unaufhaltsam sackte die Gondel dem kochenden Wasser entgegen, das einen beklemmenden schwefeligen Geruch aufsteigen ließ.
»Das ist ein umgekehrter Geysir!«, rief Nephelenia. »Volle Kraft aufwärts!«
Leicht gesagt! Wir wurden unbarmherzig in das gurgelnde Schwefelwasser hineingezogen, wenn der Küstengnom den Auftrieb nicht wieder verstärken konnte. Zum ersten Mal bemerkte ich bei ihm Anzeichen von Panik. Aber egal, welche Register, Hebel oder Handzüge er betätigte, wir sanken immer tiefer hinab. Die feuchte Hitze wurde unerträglich, allein der aufsteigende Dampf würde bald reichen, uns bei lebendigem Leib zu garen. Er wurde schließlich so dicht, dass ich Queekwigg kaum mehr zu sehen vermochte.
»Volle Kraft aufwärts!«, gellte Nephelenias Stimme in meinem Kopf, so laut wie noch nie.
»Volle Kraft!«
Plötzlich gurgelte und rauchte es unter uns gewaltig, es klang wie ein mächtiger Sturzbach im Gebirge. Erlösende Kühle und frische Luft umfing mich. Der Dampf verzog sich, es wurde heller. Was war geschehen? Ich beugte mich über die Reling des Korbes und blickte nach unten. Das kochende Wasser unter uns war einfach verschwunden. Wo es gewesen war, klaffte ein gewaltiges rundes Loch in der Wolkenwand, durch das ich ins Freie blicken konnte. Auch Queekwigg spähte jetzt über den Korbrand. Wir konnten Teile von Eydernorn weit unter uns sehen.
»Aufwärts!«, befahl Nephelenia. »Sofort wieder aufwärts!«
Queekwigg tat wie geheißen, und wir stiegen empor, zurück in den von Quallen erleuchteten Tunnel.
»Was zum Henker ist ein umgekehrter Geysir?«, fragte ich, sobald ich wieder etwas klarer zu denken vermochte.
»Die Wolke imitiert die Geysire der Insel!«, antwortete Nephelenia. »Sie schießt heißes Wasser in Form von Dampf nach außen. Das ist ihre Methode, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, unabhängig von den herrschenden Winden. So kann sie hinaus aufs Meer ziehen und wieder zurückkehren, auch wenn es fast windstill ist, und sogar wenn ihr ein Sturm entgegenbläst. Ich habe immer vermutet, dass sie solche internen Antriebe besitzt, die nicht viel anders funktionieren als die Propeller unseres Sphärentauchers. Dabei arbeitet sie mit Wind- und Wasserkraft.«
»Und woher bezieht sie die Energie, das Wasser so zu erhitzen?«, fragte ich.
»Sie hat offensichtlich einen Weg gefunden, die enorme Wärmeenergie der Sonne, die täglich auf sie strahlt, zu speichern. Und bei Bedarf zu nutzen. Sie kann ihr eigenes Wasser aufkochen und durch diese Ventile mit ihren Winden ausstoßen, ähnlich wie die Geysire der Insel es tun. Sie muss überall solche Antriebe haben. So manövriert sie sich selbst. Man lernt nicht aus! Die Wolke hat gerade ein wenig die Richtung geändert, mehr ist nicht passiert.
»Und dadurch wären wir fast draufgegangen«, ergänzte ich. »Auf diesen Lernprozess hätte ich verzichten können.«
»Wenn wir in den nächsten Tunnel rechts einbiegen, bewegen wir uns wieder tiefer ins Innere der Wolke«, beendete Nephelenia das Thema. »Da müssen wir hin.«
Ich gab die Information an Queekwigg weiter, der sofort den Kurs änderte und das Luftschiff in den nächsten Großraum der Wolke steuerte. Hier herrschten wieder eisige Temperaturen, wie ich an den Wölkchen, die aus seinem Mund kamen, erkennen konnte, und wie ich auch am eigenen Leib spürte. Ich zog meinen Umhang mit den Strandlöperdaunen enger um mich.
Mittlerweile hatte ich mich an die Größenverhältnisse der Wolkeninnenräume etwas gewöhnt, deshalb beeindruckte mich der Umfang dieser Halle nicht mehr so sehr. Was meine Erwartungen allerdings übertraf, war ihr Inhalt. Auf den ersten Blick sah es hier aus wie im Inneren eines Bienenstocks. Allerdings müsste es sich um die Heimstatt einer Spezies von Riesenbienen handeln, denn die zahllosen Waben dort in den Wänden, der Decke und im Boden waren erheblich größer als die eines gewöhnlichen Bienenstocks. Jede einzelne Wabe, mein bester Hachmed, enthielt ein Lebewesen.
»Das ist sie!«, verkündete Nephelenia mit bebender Stimme. »Die Halle allen Lebens. Ich habe gewusst, dass es hier drinnen so etwas geben muss.«
Von weitem hatte es so ausgesehen, als seien all diese gefangenen Lebewesen lebendig. Aber je näher wir an die vieleckigen Waben unterschiedlichster Größe heranflogen, desto deutlicher wurde, dass sie alle tot und komplett von Eis eingeschlossen waren. Ich sah Albatrosse und Strandlöper, Tintenfische und Stachelrochen, Blutwürmer und Blahvögel, Bisambären, Dododos und Salamander, Puderfische und Quallen, Wollhühnchen und Pinguine, Hammerhaie, Ochsenfrösche, Zackenbarsche und Belphegatoren – um nur ein paar der Spezies zu nennen, an denen wir vorbeisegelten. Es gab auch Waben, die verhältnismäßig klein waren und entsprechend winzige Tiere wie Erdgnömchen und Granitkäfer, Elfenwespen, Eismotten und andere Insekten enthielten. Die Vielfalt der Wabengröße entsprach der Vielzahl der Wesen, die sie bargen. All diese Geschöpfe befanden sich in den verschiedensten Stadien des Lebens, des Werdens, Heranwachsens, der Reife und des Verfalls. In manchen Zellen sah ich Eier oder Embryos, in anderen Skelette. Dann wieder gab es welche mit ausgewachsenen Lebewesen: Exemplare von Fischen und Säugetieren, Amphibien und Reptilien, Vögeln und Käfern, Weichtieren und Schmetterlingen. Manche der gefährlichen Raubtiere sahen aus, als würden sie gleich durchs Eis brechen, um in unser Luftschiff zu springen. Eine riesige Fledermaus besaß die Flügelspannweite eines Kondors. Wo hatte sie auf Eydernorn gelebt? Vielleicht in den Lavahöhlen an den Sockeln der Vulkane? Dieser Schreckensvogel war vielleicht eine Million Jahre alt, aber er sah aus, als wäre er erst gestern gestorben, in der Blüte seines Daseins. Die Insel und ihre Gewässer waren immer eine Heimstatt für robuste Lebensformen gewesen, viele Millionen Jahre lang. Ich sah Urhaie und Riesenratten, einen Höhlenbären mit rotem Fell, Korallen in allen Farben und einen ganzen Blauwal in einer riesigen Wabe. Monströse Krabben und durchsichtige Oktopusse und immer wieder bizarre, mir völlig unbekannte Insekten und Reptilien aus sämtlichen Epochen. Trilobiten und Muscheln, die größer waren als ein Ruderboot, Schlangen mit mehreren Köpfen und eine Libelle mit der Flügelspannweite eines Adlers. Aber auch vertraute Tiere wie Eydernorner Schafe, Seehunde und Riesenschildkröten. An den Fellarten und Häuten und Schuppen mancher Kreaturen konnte ich ablesen, wie sich das Klima auf Eydernorn radikal geändert hatte, wie Eiszeiten tropische Hitzeperioden ablösten und umgekehrt und wie unbedeutend die Lebensspanne eines Individuums in erdgeschichtlichen Maßstäben ist. Die Artenvielfalt im Meer übertraf die des Landes um ein Vielfaches. Artenreich waren auch die Amphibien: Echsen mit Fischköpfen und Fische mit Beinen und Flügeln, Kraken mit Krabbenscheren. Ein eisiges Museum des gesamten Lebens auf und um Eydernorn, tiefgefroren für alle Zeiten.
»Gnomen!«, rief Queekwigg plötzlich und deutete anklagend auf eine Reihe von Waben, an denen wir gerade vorbei drifteten. Tatsächlich – das waren dutzende von Küstengnomen, eingefroren in engen Kammern, manche in schrecklichen Verrenkungen. Waren das jene Vermissten, von deren Verschwinden ich in der Inselzeitung gelesen hatte?
»Diese Wolke ist hier offensichtlich schon seit Millionen von Jahren«, sagte Nephelenia, »und sie sammelt, hegt, pflegt und verzehrt das Leben in allen Formen. Sie trinkt die kraftspendende Luft von Eydernorn und das von Organismen wimmelnde Wasser des Meeres. Sie saugt sich voll und regnet sich ab und erneuert sich so in einem endlosen Kreislauf. Das hier sind die Geschöpfe, die sie seit Millionen von Jahren mit ihren Wirbelstürmen aus dem Meer gefischt und auf der Insel erjagt hat. Das ist ihre unerschöpfliche Vorratskammer, aus der sie selber neues Leben erschafft. Aus diesen Waben ist auch das Quaquappa entstanden.«
»Das Quaquappa?«, fragte ich. »Es ist eine Schöpfung der Wolke?« Ich erinnerte mich plötzlich an Gryphius’ Mythos über das Quaquappa, demzufolge es von einem bösen Geist aus den Lüften geschaffen worden sei.
»Das Quaquappa ist ein Prototyp des neuen Lebens, das von der Wolke erschaffen worden ist. Damals experimentierte sie noch und setzte wahllos Teile aus erbeuteten Kreaturen zusammen, so wie ein Alchemist mit den Elementen spielt. Aber das Experiment ging gründlich schief. Die Wolke sandte das Quaquappa auf die Insel herab, um weiteres Leben für sie zu erbeuten. Aber stattdessen entdeckte das Geschöpf die Liebe zu dieser Insel und seinen Lebewesen – und verweigerte den Gehorsam. Seither lebt das Quaquappa in der Verbannung in den Gewässern und Höhlen von Eydernorn.«
Von wegen Mythos! Gryphius hatte genau gewusst, dass er mir von der Realität erzählte und kein Ammenmärchen. »Hat die Wolke noch mehr eigenes Leben erschaffen«, fragte ich. »Oder nur das Quaquappa und diese hirnlosen Quallen?«
»Ich fürchte, dass wir nur zu bald sehen werden, was die Wolke aus dieser Schatzkammer des konservierten Lebens alles geschaffen hat«, antwortete Nephelenia zu meiner Beunruhigung. »Ist dir die Betriebsamkeit und die Zahl der Quallen aufgefallen, die in die nächste Kammer strömen? Ich schließe daraus, dass sich darin etwas befindet, was für die Wolke von größter Bedeutung ist. Das werden wir uns näher ansehen.«
Ich gab ihre Anweisung mit einer gewissen Beklemmung an Queekwigg weiter, und er steuerte in einen Quallenstrom hinein, der uns in den nächsten Wolkenraum hinübergeleitete. In dieser abermals gewaltigen Halle herrschten extrem frostige Temperaturen, es fiel sogar Schnee in dicken Flocken in unsere Gondel hinein. Und schon bald sahen wir den Grund dafür. An der Decke des Gewölbes befand sich ein monumentales Artefakt aus purem Eis, aus dem es heftig schneite. Ich nenne es deswegen Artefakt , weil es mich nach den Leuchttürmen aus Nebel erneut an etwas künstlich Geschaffenes erinnerte, das ich bereits auf Eydernorn gesehen hatte – an die Stadt ohne Türen. Denn sie hing dort tatsächlich an der Decke, nachgebildet aus gefrorenem Wasser. Das Erstaunlichste daran aber war, dass die Stadt auf dem Kopf stand.
»Das ist interessant«, bemerkte Nephelenia. »Die Wolke hat offensichtlich versucht, die berüchtigte Eydernorner Halbinsel nachzubauen! Dabei hat sie aber anscheinend die räumliche Orientierung verloren und die Stadt von oben nach unten wachsen lassen.«
»Warum hat sie das getan?«
»Im räumlichen Vorstellungsvermögen einer Wolke sind die Rollen von Oben und Unten vielleicht vertauscht. Das wäre ein Erklärungsmodell. Außerdem wachsen Eiszapfen gerne in diese Richtung.«
Aber das waren nicht die Probleme, die mich hätten wirlkich beschäftigen sollen, mein bester Hachmed. Diese Stadt aus Eis da oben war nämlich bewohnt, was immer deutlicher wurde, je näher wir ihr kamen. Was ich zuerst für Schatten und Lichtreflexe gehalten hatte, waren tatsächlich zahllose Kreaturen, die auf dem Artefakt aus Schnee und Eis herumkletterten. Und da wir dicht darunter hinwegfliegen würden, machte ich mir große Sorgen, ob diese Bewohner uns eventuell gefährlich werden konnten. Sie alle waren von ähnlichem Aussehen, in der Körpergröße aber voneinander unterschieden. Sie erinnerten in ihrer Form und in der Art ihrer Bewegung einerseits an Insekten wie Spinnen oder Termiten, andererseits auch an Kraken und Krabben – die Zahl ihrer Beine konnte ich unmöglich einschätzen. Die Wesen sahen aus wie lebendig gewordene Wolken mit biegsamen Tentakeln oder Nebel mit Gliedmaßen. Schließlich wurde mir bewusst, dass ich bereits einmal welche von ihnen gesehen hatte, bei einem Strandspaziergang auf Eydernorn bei Gewitter. Sie besaßen keine feste Kontur, erinnerten mehr an Schatten oder Silhouetten als an konkrete Körper, aber dennoch wirkten sie sehr lebendig.
»Ich nenne sie Wolkenspinnen «, erläuterte Nephelenia. »Ich habe sie oft durch meine Teleskope beobachtet. Besonders nachts kommen sie gerne an die Oberfläche der Wolke, dann halten sie sich für unbeobachtet. Ich studiere sie schon sehr lange und habe anhand ihres Verhaltens verschiedene Theorien über sie entwickelt.«
»Ich habe sie auch schon einmal gesehen«, antwortete ich. »Aber ich hielt sie für eine Sinnestäuschung.«
»Das ist verständlich bei diesem Aussehen. Die Wolkenspinnen sind eine weiterentwickelte Form des Lebens an sich. Welche – jedenfalls nach den Maßstäben der Wolke – frei ist von allen Fehlern und Schwächen der bisherigen Lebensformen. Sie kennen keine Furcht und kein Mitleid. Sie empfinden keine Liebe, nur einen unerschütterlichen Instinkt für Zerstörung und Gehorsam. Jede Form von Schwäche oder Nachgiebigkeit wurde ihnen weggezüchtet. Sie haben keinen Begriff von Gnade. Es sind die perfekten Krieger. Es sind die Kreaturen der Wolke, ihre eigene Schöpfung. Das da oben ist ihre kranke Version der Stadt ohne Türen, und die Wolkenspinnen sind ihre kranke Version von perfektem Leben.«
»Sind sie intelligent?«
Nephelenia lachte. »Nach meinen Maßstäben ganz bestimmt nicht. Ich bezweifle, dass sie ein Gehirn haben – dafür umso mehr Gliedmaßen, um möglichst viele Befehle ausführen zu können. Beine, Arme, Greif- und Tastwerkzeuge und Tentakel besitzen sie im Überfluss. Da hat sich die Wolke an den Spinnen, Sepien und Quallen orientiert, die sich als besonders überlebenstüchtige Lebewesen in allen Epochen, Klimazonen und Lebensbereichen durchgesetzt haben.«
»Empfinden sie überhaupt irgendetwas?«
Nephelenia zögerte. »Ich bezweifle es, denn sie dürfen ja keinen Schmerz spüren.«
»Sogar kopfüber auf Eis bewegen sie sich wie Fliegen auf einer Glasscheibe«, bemerkte ich. »Es sieht fast so aus, als würden sie tanzen.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich auf Oberflächen fortbewegen können, die sonst kein Lebewesen zu betreten wagt. Auf Treibsand und im Sumpf, auf dünnstem Eis und vielleicht sogar auf Wasser.
»Auf Wasser?«
»Das ist nur eine Vermutung. Solch einem Wesen wären auf unserem Kontinent keine Grenzen gesetzt. Es könnte Meere überqueren, mühelos über Gebirgsspitzen wandern. Vielleicht können sie auf einem Spinnennetzfaden balancieren, ohne ihn zu zerreißen. Die Geschöpfe unserer Welt mussten sich mühselig an ihre physikalischen und andere Gegebenheiten anpassen. Aber diese Wesen kommen für alle Ansprüche und Bedingungen perfekt entworfen ins Leben. Sie müssen sich unsere Welt gar nicht erst erobern, sie ist ihr natürlicher Tanzboden.«
Ich vernahm Geräusche, die von oben aus der eisigen Stadt kamen. Es hörte sich an wie sehr leiser Donner. Waren das die Wolkenspinnen?
»Ich weiß nicht, wie die Wolkenspinnen miteinander kommunizieren. Vielleicht können sie donnern! Aber ich vermute, dass sie gemeinsam träumen. All diese Wolkenspinnen haben zusammen mit der Wolke einen kollektiven Traum. Sie sind wie die Bewohner eines Ameisenhaufens, eines Termitenbaus oder eines Bienenstocks, die ein und dieselbe Vision verfolgen. Und das ist die Abschaffung allen zamonischen Lebens, um es durch sie selbst zu ersetzen. Zum Glück können sie nicht fliegen. Denn sonst hättet ihr jetzt ein Problem.
»Ich sehe mehrere Exemplare, die erheblich größer sind als die anderen.«
»Das sind ihre Königinnen , wie ich sie nenne. Sie können Eier legen. Wirf mal einen Blick aus der Gondel nach unten!«
Auf dem Grund der Halle lagen zigtausende, vielleicht sogar hunderttausende von Eiern aus Eis, teilweise überpudert von Schnee. Blitzquallen segelten in großen Schwärmen über sie hinweg, was den Eindruck erweckte, als patrouillierten sie dort zu ihrer Sicherheit. Auch diese Eier erinnerten mich an etwas, das ich auf Eydernorn bereits gesehen hatte – richtig, an die riesigen Hagelkörner in den Straßen von Eydergard.
»Die Wolke hat schon mehrfach solche Eier über Eydernorn abregnen lassen. Wir haben welche untersucht, aber sie enthielten noch kein richtiges Leben, nur grauen Schleim.«
»Ja, die habe ich selber gesehen. In den Straßen von Eydergard.«
»Aber dieses Mal wird es anders sein! Diese Eier dort unten enthalten mit Sicherheit mehr als nur embryonalen Schleim. Auch deswegen sind wir hier. Wir müssen uns beeilen! Da in diesem Raum hier die Wolkenspinnen leben, gehe ich fest davon aus, dass sich im nächsten jenes Organ befinden wird, das die Wolke tatsächlich repräsentiert. Ihr Gehirn . Oder wie auch immer man das bezeichnen will, was all dies hier geschaffen hat.«
Queekwigg hatte bereits begonnen, den Sphärentaucher in eine anschließende Aorta zu manövrieren. Sie führte uns in eine riesige Wolkenhalle, die mit Abstand die größte Anzahl von Blitzquallen enthielt, die ich bisher gesehen hatte. Es mussten Myriaden sein, die hier einzeln oder in dichten Schwärmen hektisch zuckend und wetterleuchtend durcheinandersegelten.
Im Zentrum des sphäroiden Raumes befand sich etwas, das in ständiger Bewegung zu sein schien, obwohl es offensichtlich ortsfest war. Es besaß etwa die Größe der Quoped und sah aus wie ein Gemisch aus flüchtigen Substanzen wie Nebel, Rauch, Qualm oder Dampf, und es veränderte ohne Unterlass Kontur und Form. Mal erinnerte es an den Qualm, den die Vulkanschlote auf dem Meeresgrund von sich geben, dann wieder an eine Nebelbank oder an die Tintenwolken, die Oktopusse ausstoßen. Die Substanz leuchtete in allen denkbaren Farben: Blau, Türkis, Olivgrün, Orange, Rot, Schieferblau, Rosa, Gold, Grüngelb, Elfenbein, Lavendel, Indigo, Limone, Violett, Orchidee, Altrosa, Taubenblau, Gelbgrün, Korallenrot, Mandelweiß, Karmesin, Zinnober, Cadmiumgelb, Umbra, Smaragdgrün, Cyan, Kobaltblau und Ultramarin. Mal erinnerte ihre Form an eine Muschel, mal an einen Trilobiten, an eine Qualle, an eine Schnecke, dann wieder an einen Tiefseefisch, einen Oktopus, einen Seestern oder eine Korallenblüte.
»Faszinierend«, meldete sich Nephelenia plötzlich wieder. »So farbenfroh habe ich mir das nicht vorgestellt. Ich nehme an, dass es sämtliche Farben und Formen sind, welche die Wolke in der Unter- und Überwassernatur Eydernorns vorgefunden hat. Und nun kann sie sich nicht entscheiden. Sie ist in ihrem ganzen Wesen instabil.«
»Was ist das?«, fragte ich. »Ein Organ?«
»Es ist jedenfalls nicht nur das Gehirn der Wolke, es ist auch ihr Herz und ihr Magen und wer weiß welche anderen uns unbekannten Organe sonst noch. Ein Superorgan, wie es sonst keine andere Kreatur auf dieser Welt besitzt. Darin sammelt und archiviert sie alles, was sie in ihrer bisherigen Existenz aufgenommen hat, und verdaut es in einem Takt, der in Jahrmillionen rechnet. Es repräsentiert das Leben unserer Welt, das in die falsche Richtung abgebogen ist. Nicht auf den Weg der größtmöglichen Vielfalt, sondern von dem kranken Wunsch beseelt, alles gewaltsam in sich zu vereinigen.«
Immer wieder schossen blaue Blitze aus der unsteten Substanz heraus, zuckten durch den Raum und schlugen dann bei irgendeiner Blitzqualle ein, die daraufhin hektisch davonsegelte und in einem der Ausgänge verschwand.
»Kann die Wolke uns denn sehen?«, fragte ich besorgt.
»Diese Frage vermag ich leider nicht mit Gewissheit zu beantworten. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde ich mal behaupten: nein. Denn sonst hätte sie ihren Blitzquallen längst befohlen, den Sphärentaucher zu vernichten. Wahrscheinlich ist es für die Wolke völlig undenkbar, dass irgendetwas Feindliches in diesen Raum eindringen kann. Das ist ja bisher auch noch nie geschehen. Wir leisten hier Pionierarbeit.«
»Glaubst du, dass die Wolke damit denkt?«
»Nein, ich glaube, dass die Wolke damit träumt . Sie träumt ihren ewigen Traum von Macht, Eroberung und Vernichtung. Wovon Tyrannen eben so träumen. Aber genug davon! Wir müssen handeln.«
Als hätte Queekwigg Nephelenias Stimme ebenfalls vernommen, trug er einen großen Metallzylinder heran, den ich bisher nicht beachtet hatte.
»Das ist unsere wichtigste Waffe!«, erläuterte Nephelenia.
Queekwigg fing an, den Metallzylinder aufzuschrauben. Darin befand sich tatsächlich ein Padparadschasaphir – der größte, den ich bisher gesehen hatte. Er war so lang und dick wie einer meiner Arme.
»Das ist der Saphir des Quaquappa«, sagte Nephelenia. »Es hat ihn selber in vielen Jahrhunderten in seiner Muschel auf dem Meeresgrund gezüchtet und gehegt. Es ist sein Vermächtnis. Das ist unsere stärkste Waffe gegen die Wolke. Wenn es uns gelingt, ihn in ihr Gehirn zu praktizieren, dann wird sie daran zugrunde gehen. Der Saphir ist alles, was sie nicht ist. Er ist alles, was sie nicht ertragen kann. Er trägt die Liebe zum gesamten Leben auf diesem Planeten in sich. Die Liebe des Quaquappa.«
»Und wie bekommen wir den Saphir in das Organ hinein?«, fragte ich. »Der Stein wiegt viel zu viel, um ihn zu werfen. Wir sind zu weit entfernt.«
»Es ist ganz einfach«, antwortete Nephelenia. »Ihr steuert die Gondel des Sphärentauchers mitten hinein. Mit dem Saphir darin. Das ist der Plan.«
»Das ist der Plan?«, fragte ich entsetzt. »Aber dabei werden wir draufgehen! Wenn uns die Blitzquallen auf dem Weg dahin nicht erledigen, wird das Gehirn es selber tun. Es wird unseren Ballon zerfetzen wie eine Papiertüte. Es wird …«
»Ja«, unterbrach mich Nephelenia, »das ist der einzige Punkt unseres Plans, den wir in der Kürze der gegebenen Zeit noch nicht zur allgemeinen Zufriedenheit geklärt haben. Aber wir müssen es versuchen. Du bist der Auserwählte.«
»Ich will aber gar nicht der Auserwählte sein!«, rief ich trotzig. »Ich habe durchaus gedacht, dass es riskant ist! Aber nicht, dass es ein Himmelfahrtskommando wird. Und wieso ausgerechnet ich? Warum habt ihr nicht jemanden anderen genommen?«
»Weil wir in diesem Kampf alle unsere eigene wichtige Rolle haben. Wir werden heute sterben, mein Freund. Aber vorher erfüllen wir unsere Aufgabe.«
»Alle werden sterben?«, rief ich erschrocken. »Wie meinst du das?«
»Dies ist der finale Kampf der Leuchtturmwärter«, antwortete Nephelenia.
»Und was bedeutet das?«
»Dass es das Ende von allem ist. Es gibt keinen anderen Weg. Ganz Eydernorn muss untergehen – und dabei die Wolke und sämtliche Wolkenspinnen mit sich auf den Grund des Meeres zerren. Denn wenn nur eine einzige Wolkenspinnenkönigin mit ihren Eiern überleben und den Weg zum Festland schaffen würde – dann würde das die Herrschaft der Wolke über unsere ganze Welt bedeuten. Dann wäre alles umsonst gewesen – auch das Lebenswerk von Gryphius. Dieser letzte Kampf und deine Teilnahme daran ist auch sein Vermächtnis. Hast du das verstanden? Wir alle erfüllen heute unser Schicksal.«
»Ganz Eydernorn wird untergehen?«, fragte ich entsetzt. Ein elektrisches Knistern, das während meines Dialogs mit Nephelenia immer stärker geworden war, erfüllte nun fast vollständig meinen Kopf. Ich konnte Nephelenias Stimme nur noch ahnen, aber kein Wort mehr verstehen. Dann hörte ich sie gar nicht mehr. Der Kontakt war abgebrochen.
»Ich habe die Verbindung zu Nephelenia verloren!«, jammerte ich. »Was machen wir denn jetzt nur?«, wandte ich mich verzweifelt an Queekwigg. Der Küstengnom hatte mittlerweile den Padparadschasaphir aus dem Zylinder genommen und war dabei, ihn mit einem Strick an seinem Steuerpult zu befestigen. Er war derart in seine Aufgabe vertieft, dass er mich kaum beachtete.
»Sie kommen!«, antwortete er nur.
»Sie kommen? Wer kommt?«
Er deutete über meine Schulter hinaus. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass eine beträchtliche Zahl der Blitzquallen dem Sphärentaucher näher gerückt war. Anscheinend begriffen sie unsere Anwesenheit mittlerweile doch als Bedrohung für ihr kostbares Wolkengehirn. Wahrscheinlich waren sie der Grund für den Abbruch der Kommunikation mit Nephelenia.
»Werden gleich angreifen«, meinte Queekwigg. »Aber ich weiß Plan.« Er zog den Strick um den Saphir noch einmal stramm und schien mit seiner Arbeit zufrieden zu sein.
»Plan?«, fragte ich in allerhöchster Panik. Jeder außer mir hatte hier irgendeinen Plan. »Welchen Plan denn? Wir werden hier gleich bei lebendigem Leib gebraten.«
»Plan einfach!«, sagte Queekwigg. »Du fliegst. Ich bleib. Ich fahr in Gehirn. Allein. Mit Saphir. Und dann – Boum!« Er warf seine wettergegerbten Hände in die Luft und lachte meckernd.
Das elektrische Knistern der Quallen war mittlerweile so laut , dass ich den Küstengnom kaum noch verstehen konnte. Von allen Seiten umzingelte uns nun eine ganze Quallenarmee. Ich konnte die enorme Hitze spüren, die von ihren elektrischen Entladungen ausging.
»Ich fliege?«, schrie ich Queekwigg an. »Wie meinst du das?«
Er nickte. »Du fliegst. Trudelflug. Wie Strandlöper.«
»Wie bitte?«
»Strandlöper! Strandlöper!«, rief Queekwigg, breitete die Arme aus und flatterte damit wie ein Vogel, der zum ersten Mal das Nest verlässt. Dann packte er meinen Umhang und zerrte daran. »Strandlöper!«, rief er noch einmal, und »Flugheet! Flugheet!«
Hatte er den Verstand verloren? War das alles selbst für einen robusten Küstengnom zu viel, was uns gerade widerfuhr?
Queekwigg drängte mich an die Reling der Gondel. »Spring!«, schrie er mich an. »Spring!«
»Ich soll springen?«, schrie ich zurück. »Aus der Gondel? Bist du irre?«
»Spring!«, befahl er noch einmal energisch. »Flieg!« Und dann geschah etwas, das mich sogar in dieser außergewöhnlichen Situation völlig überraschte: Er bückte sich, umklammerte meine Beine in Kniehöhe, riss sie mit einem energischen Ruck hoch – und kippte mich aus der Gondel des Sphärentauchers. Ich war derart verdutzt und überwältigt, dass ich nicht einmal versuchte, mich irgendwo festzuhalten.
Und schon befand ich mich in freiem Fall.
»Strandlöper! Strandlöper!«, hörte ich Queekwigg noch einmal von weitem rufen.
Ich stürzte, überschlug mich wieder und wieder, rauschte an Schwärmen von knisternden Blitzquallen vorbei und tauchte in eine Nebeldecke ein, die mir vollständig die Sicht nahm. Und schon hatte ich den Gehirnraum der Wolke verlassen.
An das, was anschließend passierte, erinnere ich mich nur noch wie an einen wirren Traum. Ich fiel aus dem Nebel in einen weiteren riesigen Wolkenraum, der von dichtem Schneegestöber erfüllt war. Dann stieß ich durch eine weitere Nebelschicht, die kompakter, kälter und dunkler war und mich vollkommen durchnässte. Ich fiel kopfüber in einen Raum voller Blitzquallen, an denen ich vorbeirauschte wie ein fallendes Senkblei. Und noch eine Nebeldecke. Und noch eine und noch eine und noch eine. Dazwischen Räume aus vollkommener Dunkelheit und blendendem Licht in schnellem Wechsel. Eine Halle, in der ein mächtig röhrender Eiswind blies, der rabiat meine Sturzbahn veränderte und mich in weitem Bogen in einen anderen Raum stürzen ließ, in dem tausende von Kugelblitzen an den Wänden tanzten. Ich krachte schmerzhaft durch eine Schicht aus Hagelkörnern, die zum Glück nicht sehr dicht war. Schließlich plumpste ich in eine besonders kompakte und voluminöse Nebeldecke, die mir mehr Widerstand bot als die anderen. Mir war, als würde ich durch gallertartigen Schleim abwärtstauchen, der mir in Hals und Nase drang und mir die Sicht raubte. Für ein paar schreckliche Augenblicke glaubte ich, darin zu ersticken.
Und dann – Licht! Sonnenlicht! Und Luft! Frische, laue Luft! Ich hatte die Wolke verlassen, tief unter mir glitzerte das Meer, mit der Insel Eydernorn mitten darin. Damit kehrte auch mein Verstand wieder zurück. Ich befand mich natürlich immer noch im Zustand allerhöchster Panik, konnte aber erstmals wieder zusammenhängende Gedanken fassen.
Was war geschehen?
Was hatte Queekwigg da getan?
»Strandlöper! Strandlöper!«, hatte er mir nachgerufen. Das war das Letzte, was ich von ihm hörte.
War er des Wahnsinns? Ich stürzte in die Tiefe und den Tod, und er rief mir den Namen dieses flugunfähigen Vogels hinterher? Wollte er mich im Sterben noch verhöhnen? Oder hatte er tatsächlich den Verstand verloren? Meine Gedanken rasten, alles Mögliche ging mir durch den Kopf. Es ist erstaunlich, wie viel Zeit einem zum Nachdenken bleibt, wenn man aus solch einer Höhe in den Tod stürzt. Aber Queekwigg war mein Freund! Und er war auch nicht plötzlich verrückt geworden, davon war ich irgendwie überzeugt. Er hatte mich aus der Gondel geworfen, um mir das Leben zu retten und sich selbst zu opfern. Seine Handlung war vielleicht kopflos, aber gut gemeint. Er hatte es nur in der falschen Reihenfolge gemacht und hätte mich besser mit den nötigen Informationen versorgen sollen, bevor er mich aus dem Luftschiff warf. Aber dann hätte ich ja seine Absicht erkannt und wäre wahrscheinlich an Bord geblieben.
Strandlöper! Strandlöper!
Mit seinen letzten Worten und Gesten wollte er mir etwas Lebensrettendes mitteilen, dessen war ich sicher. Aber was? Was hatte er gemeint?
Strandlöper! Strandlöper!
Dann sah ich die Lösung, aus den Augenwinkeln, direkt hinter mir: Mein Umhang aus Strandlöperfedern. Er knatterte über mir wie eine Fahne im Wind.
Natürlich! Den musste Queekwigg gemeint haben. Aber was sollte ich damit machen? Meine Gedanken überschlugen sich schneller als mein Körper bei meinen artistischen Purzelbäumen durch die dünne Luft, während ich ins Bodenlose stürzte.
Strandlöper! Strandlöper!
Und dann, mein bester Hachmed – ob du es glaubst oder nicht –, wurde ich urplötzlich ganz ruhig. Vielleicht, weil meinem Gehirn in dieser Situation einfach gar nichts anderes übrigblieb, wenn es einen rettenden Gedanken fassen wollte. Und der war auf einmal da, in Form einer völlig absurden Frage. Ich dachte: Wie fliegt man am besten, wenn man nicht fliegen kann? Und die Antwort lautete: Wie ein Strandlöper, du Idiot!
Denn ich erinnerte mich augenblicklich an den jungen Strandlöper, den ich bei seinem Jungfernflug beobachtet hatte. Er war gar nicht richtig geflogen! Er hatte nur seine Flügel entfaltet und sie anschließend nicht mehr bewegt. Aber das war vollkommen ausreichend, um seinen Sturz aus dem Nest in atemberaubender Höhe in einen eleganten Trudelflug zu verwandeln. Er war nicht geflogen, er war gesegelt .
»In der Eydernorner Luft kann eigentlich alles fliegen!«, hatte Florestan De Cieelo behauptet. Und: »Ihr Umhang hätte bestimmt eine gute Flugheet!« Daran hatte mich Queekwigg erinnern wollen!
Mein Umhang! Mein opulent mit Strandlöperfedern tapezierter Sturmmantel für jedes Wetter! Der konnte jetzt mein fliegender Teppich werden – allerdings auf etwas verdrehte Weise. Wenn ich seine beiden Enden mit meinen Fußkrallen zu fassen bekam und ihn auch mit beiden Händen links und rechts packte und so weit wie möglich ausbreitete – würde sich die Luft darunter stauen und ihn blähen wie ein Segel? Das müsste doch meinen Fall dramatisch bremsen, wie ein aufgespannter Schirm. Ein Fall-Schirm – genau, das war das richtige Wort dafür. Das, mein bester Hachmed, war der beste Mythenmetzsche Geistesblitz, den ich auf dieser Insel bisher gehabt hatte! Obwohl ich ihn eigentlich jemand anderem verdanke.
Aber eines kann ich dir versichern: Es ist wesentlich schwieriger, im freien Fall einen über sich flatternden Umhang mit Hand- und Fußkrallen an den richtigen Stellen zu packen und wie ein Segel aufzuspannen, als es sich anhören mag. Es muss ausgesehen haben wie der Ringkampf eines Verrückten mit sich selbst, als ich verzweifelt versuchte, meine Kleidung in den Klammergriff zu kriegen. Mehrmals bekam ich das wild flatternde Ding mit den Klauen zu packen – aber genauso oft entglitt es mir auch wieder. Und das alles, während ich mich ein ums andere Mal überschlug und dabei schrie wie am Spieß! Ich erspare dir die Litanei von Flüchen und Verwünschungen, die mir dabei entfuhr, mein Bester! Ich verbog und verrenkte und verknotete mich mit dem Umhang, und zweimal strangulierte ich mich beinahe dabei. Aber schließlich gelang es mir, alle vier strategisch wichtigen Stellen des Mantels mit meinen Krallen gleichzeitig zu packen!
Es gab einen gewaltigen Ruck in meinen Armen und Beinen und einen Knall in meinen Ohren, als sich die Luft unter mir urplötzlich staute und meinen Mantel aufblähte wie ein Segel. Beinahe hätte mir der rabiate Ruck die Enden des Umhangs wieder aus den Klauen gerissen, aber diesmal hielt ich sie mit all der Kraft fest, die ich in den letzten Wochen in der Eydernorner Atmosphäre getankt hatte. Ich krallte mich in das Federkleid, wie ich mich seinerzeit in die Reling der Quoped oder die Treppe der Schwarzen Kerze gekrallt hatte.
Der Mantel über mir flatterte und knatterte nun nicht mehr, sondern behielt die stabile Form eines gespannten Segels. Und dann ging ich tatsächlich in den Trudelflug. Fast ohne mein Zutun besorgten die Gesetze der Physik, dass meine Flugbahn nicht mehr steil abwärts, sondern in einer langen und weiten Abwärtsspirale verlief. Ich stieß ein ekstatisches Triumphgeheul aus.
»Strandlöper!«, schrie ich. »Strandlöper!« Niemals hätte ich gedacht, dass dieser lästige und aufdringliche Vogel einmal solch eine schicksalhafte Bedeutung für mich bekommen würde.
Erst, als ich die letzte dünne Decke aus Schleierwolken durchstieß, die mich von der untersten Luftschicht über der Insel getrennt hatte, begriff ich, wie verhängnisvoll dieser Trudelflug, der meine Rettung sein sollte, in letzter Konsequenz für mich werden würde. Denn nun konnte ich genau sehen, was da auf mich zukam. Ich hatte gehofft, dass ich auf jeden Fall im Meer landen würde. Aber je weiter ich hinabsegelte, desto weniger wahrscheinlich wurde diese Aussicht. Ich befand mich genau über der Peripherie von Wasser und Land, und wenn ich meine jetzige Flugbahn zu Ende dachte, dann landete ich gar nicht im Ozean. Ich landete auch nicht am Strand oder in einem Watt, was ebenfalls zu einer weichen Landung hätte beitragen können. Zum Glück auch nicht in der Stadt, wo ich mir auf Dächern oder dem Kopfsteinpflaster vermutlich sämtliche Knochen brechen würde. Nein, nichts von alledem – ich würde mit größter Wahrscheinlichkeit im Hafen landen. Und das war vielleicht der am wenigsten geeignete Landeplatz, den ich mir aussuchen konnte.
Denn dort erwarteten mich die Schiffe. Eine ganze Flotte von Passagier- und Handelsschiffen, von Fischerbooten und Jollen, Klippern und Schonern, die aufgrund des Jahrhundertorkans dort immer noch in dichten Reihen ankerten, um repariert zu werden. All die Schiffe mit ihren Masten, deren Spitzen sich mir entgegenreckten wie die Lanzen und Spieße einer feindlichen Armee. Aus meiner Warte sah dieser Hafen beim Näherkommen aus wie ein Wald aus Fleischspießen oder ein riesiges Nagelbrett.
Ich drehte noch zwei hilflose Abwärtsrunden, dann war es so weit: Ich befand mich auf der Höhe der höchsten Masten. Über etwa ein Dutzend von ihnen segelte ich hinweg, ohne mit ihnen in Berührung zu kommen. Die erste Spitze, die mich touchierte, gehörte zu einer riesigen Viermastbark und riss mir das Hosenbein auf, aber zum Glück nichts anderes. Der Matrose, der im Aussichtskorb des Schiffes hockte, sah mir verdutzt hinterher, als ich kreischend an ihm vorbeirauschte. Sein ungläubiges Gesicht werde ich wahrscheinlich nie vergessen.
Die nächste Spitze, die mich erwischte, gehörte zu einem mittelgroßen Dreimaster. Sie schlitzte meine schöne Weste wie mit einem raffinierten Degenhieb quer über der Brust auf, verschonte aber ebenfalls meinen Körper. Die dritte Mastspitze, die nur noch zu einem kleinen Schoner gehörte, richtete den größten Schaden an. Denn sie erledigte mein kostbares Segel, den Strandlöperumhang, und riss ihn glatt in zwei Teile.
Damit war mein Segelflug abrupt beendet. Aber ich hatte es nicht mehr allzu weit und das unverschämte Glück, nicht auf die Planken eines Schiffes oder gegen eine Bordwand zu prallen, sondern ins eiskalte Hafenwasser einzutauchen, in steilem Winkel und mit den Füßen voran.
Klatsch!
Zwar schmerzte der Aufprall in allen Teilen meines Körpers wie die schallende Ohrfeige einer Riesenhand, zwar tauchte ich so tief ins Hafenbecken ein, dass ich den Grund berührte, zwar hatte ich Meerwasser und Entengrütze satt in Mund und Nase und gurgelte damit – trotzdem gehört dieser Tauchgang zu den größten Glückserlebnissen meines bisherigen Daseins. Ich war am Leben! Nach einem Sturz aus mindestens zehn Kilometern Höhe! Ich war nicht zerschmettert oder aufgespießt worden, sondern nur nass.
Ich stieß mich sofort wieder vom Grund des Hafenbeckens ab und tauchte zur Oberfläche, wo ich panisch japsend nach Luft rang. Kaum war ich wieder halbwegs bei Atem, da verspürte ich einen unwiderstehlichen Niesreiz in den Nüstern. Meine Meerwasserallergie! Aber diesmal gelang es mir, das Niesen zu unterdrücken, bis ich die wenigen Meter zur Kaimauer gepaddelt war, wo ich mich über eine glitschige Treppe auf wackligen Beinen an Land begab. Erst dann ließ ich einem gewaltigen Niesanfall seinen freien Lauf. Eine Allergie lässt sich nicht beherrschen, aber mit der Zeit lernt man, damit umzugehen.
Der Hafen war voller geschäftiger Leute, niemand hatte meiner abenteuerlichen und spektakulären Landung Beachtung geschenkt. Alle hatten mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Denn während meiner vorübergehenden Abwesenheit hatte sich auf der Insel offensichtlich einiges zugetragen.
Eydernorner, Kurgäste und Touristen, Matrosen und Küstengnome, Kinder und Erwachsene, sie alle rannten und riefen aufgeregt durcheinander. Viele versuchten, auf eines der lädierten Schiffe zu kommen, obwohl alle noch nicht wieder seetauglich waren. Die meisten besaßen noch nicht einmal neue Segel. Die Küstengnome versuchten, für Ordnung zu sorgen, die Leute vom Entern der Schiffe abzuhalten und zu beruhigen, waren aber mit der Situation völlig überfordert. Über der Stadt ragte eine gigantische schwarze Rauchsäule kilometerhoch in den Himmel. Man musste kein Geologe sein, um zu ahnen, dass sie vom Numatsi stammte, der offenbar während meiner Reise durch die Wolke ausgebrochen war. Er spuckte anscheinend noch keine Lava, aber die Luft roch brenzlig und schweflig, und kleine Ascheflocken regneten herab wie grauer Schnee.
Ich stand eine Weile in meiner klatschnassen Kleidung im kalten Wind und bestaunte das chaotische Geschehen, bis ich begriff, dass ich gerade dabei war, mir den Tod zu holen. Ich benötigte umgehend trockene Kleidung, also riss ich mich von dem hektischen Treiben los und machte mich auf den Weg ins nahe Hotel. Außerdem hatte ich ja eine Hummdudelfamilie zu retten.
Auf dem Weg dorthin kam mir immer mehr aufgebrachtes Volk entgegen, die meisten in heller Panik, die Kinder schreiend und weinend. Sturmglocken läuteten, obwohl ein Sturm wohl das Geringste war, was zu befürchten stand.
Kurz bevor ich das Hotel erreichte, fing es an zu hageln. Das war selbst für Eydernorner Verhältnisse kein normaler Hagel, gegen den ein Hagelhelm etwas ausgerichtet hätte. Es waren dicke eiförmige Eisbrocken, so groß wie Wassermelonen und mit der Einschlagskraft von Kanonenkugeln, die da urplötzlich herabkamen. Es waren nicht sehr viele, die in der Straße einschlugen, durch die ich lief, vielleicht ein halbes Dutzend. Aber ihre Wirkung war verheerend. Einer schlug in die Ladefläche einer fahrenden Kutsche ein und zertrümmerte sie vollständig. Andere krachten in die umliegenden Dächer, dass die Schindeln nur so flogen. Einer zersplitterte mit Geklirr ein großes Schaufenster und blieb dampfend in der Auslage liegen. Als ich daran vorbeiging, erkannte ich sofort, was das war. Das waren die gleichen Hagelbrocken, die ich schon vor Wochen in diesen Gassen gesehen hatte. Es waren die gleichen wie in der Halle der Wolkenspinnen. Das waren die Eier der Wolke, die sie nun herabregnen ließ.
Erst jetzt wagte ich zum ersten Mal, seit ich ihm entkommen war, länger und genauer zu dem Ungetüm hinaufzublicken. Die Wolke wogte und wallte dort oben heftiger als je zuvor. Der Gedanke, dass sich Queekwigg immer noch mitten darin befand, zerriss mir beinahe das Herz. Was war ihm widerfahren? Hatte er seine Aufgabe erfüllt? Die Wolke war tiefschwarz und tintig, denn nun vermischte sich ihr dunkler Dampf mit der riesigen Rauchsäule des Numatsi, die direkt in sie eindrang und sie mit vulkanischen Partikeln aus den Eingeweiden des Planeten nährte. Es sah aus, als ob das Monstrum dadurch noch größer, mächtiger und gefährlicher wurde, von Minute zu Minute.
Ich war fürs Erste erleichtert, als ich die Lobby des Hotels betrat und ein festes Dach über meinem Kopf wähnte. Auch hier war alles in großer Aufregung. Der Nebelheimer Concierge war händeringend darum bemüht, die alarmierten Gäste, die sich um die Rezeption scharten, zu beruhigen.
»Das ist nur eine vorübergehende seismische Irritation!«, rief er immer wieder. »Ein Schluckauf des Vulkans, sonst nichts. Kein Grund zur Beunruhigung!«
»Da bin ich aber anderer Ansicht«, entgegnete ich, als ich ihm meinen Zimmerschlüssel aus den klammen, dünnen Fingern riss. Dann stürzte ich, immer noch klatschnass und frierend, die Treppen hinauf zu meinem Zimmer.
Ich kam gerade noch rechtzeitig. Das verzweifelte Gefiepse der Hummdudel schallte mir bereits entgegen, als ich die Tür öffnete. Die drangvolle Enge in den Terrarien war inzwischen so dramatisch geworden, dass die Scheiben erste Risse aufwiesen. Dicht an dicht schichteten sich darin die flötenden Amphibien und nahmen sich gegenseitig die Luft.
Noch bevor ich die Kleidung wechselte, musste ich meine Hummdudelgroßfamilie vor dem Erstickungstod retten. Unverzüglich begann ich damit, unter Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen die gequälten Tiere aus ihren gläsernen Gefängnissen zu evakuieren. Ich setzte sämtliche Hummdudel auf ein großes Bettlaken und ließ sie erst einmal Luft holen. In der Zwischenzeit kleidete ich mich um. Dann knotete ich das Laken über ihnen zu einem großen Sack zusammen.
Anschließend kümmerte ich mich um die ganzen Briefe, Notizbücher und Skizzen – die durfte ich unmöglich zurücklassen. Ich nahm die wasserdichte Kapitänstasche, die ich in dem Treibgutladen der Schiefen Reihe erworben hatte, und stopfte sie voll, verschloss sie sorgfältig und schnürte mir die Tasche auf den Rücken. Dann schulterte ich den Sack mit den Hummdudeln und verließ mein Zimmer auf Nimmerwiedersehen. Meine wunderbaren Klööper musste ich leider zurücklassen, denn jetzt würde es mit Sicherheit erst einmal keine Kraakenfiekpartie mehr geben. Dann beglich ich meine Rechnung bei dem Concierge, händigte ihm den Schlüssel aus und gab ihm noch einen guten Rat:
»Ihre Uhr ist stehengeblieben«, sagte ich. »Es ist nicht mehr fünf vor zwölf. Sie hat längst dreizehn geschlagen.« Er sah mich an, als wäre in meiner eigenen Uhr nicht nur eine Schraube locker, sondern eine Feder gesprungen.
Hinter dem Hotel verlief ein Abwasserkanal, der wie die vielen anderen quer durch Eydergard ins Meer floss. Die Hummdudel waren Amphibien, und Amphibien finden immer ihren Weg, ob vom Meer aufs Land oder vom Land ins Meer. Und sie sind überall zu Hause, über und unter Wasser. Viel mehr konnte ich nicht für sie tun. Ihre Überlebenschancen waren jetzt wesentlich aussichtsreicher als meine. Sie waren mir wirklich gute Freunde gewesen, auch wenn wir aus denkbar unterschiedlichen Welten stammten und nicht einmal die gleiche Sprache sprachen. Ich winkte ihnen unter heftigem Trennungsschmerz und nicht wenigen Tränen hinterher, während sie flötend und jodelnd den Kanal hinabtrieben und schließlich hinter einer Biegung endgültig aus meinem Blickfeld verschwanden.
Anschließend lief ich Richtung Hafen, um herauszufinden, ob überhaupt die Chance für mich bestand, mit einem rettenden Schiff die Insel zu verlassen. Besonders groß schätzte ich sie nicht ein. Ich wusste ja, dass die Schiffe im Hafen noch nicht seetauglich waren und gar nicht auslaufen konnten, aber einen Versuch musste ich wagen. Eigentlich sollte ich schon längst tot sein, da konnte ich auch ein weiteres Mal versuchen, noch ein bisschen am Leben zu bleiben.
Die Straßen um das Hotel waren nun fast leer, wahrscheinlich hatten sich alle zum Hafen begeben. Die monströse Rauchsäule des Vulkans war auch von hier erschreckend gut zu sehen, und der graue Schnee aus den Eingeweiden des Planeten war fast schwarz geworden. Die Erde bebte im Takt von wenigen Minuten, es war nur ein leichtes Zittern. Ich sah überall große Pfützen aus grauem Wasser, welche die riesigen Hagelkörner hinterlassen hatten. Ihr Anblick machte mich mehr beklommen, als wenn sie noch unbeschadet dort gelegen hätten. Wohin war das entschwunden, was sich in ihnen befunden hatte? Der Gedanke ging mir nicht aus dem Kopf.
Als ich ins Hafenviertel einbog, strömten mir Flüchtende in großen Mengen entgegen. Hatte ich die falsche Richtung eingeschlagen? Wäre es aus irgendeinem Grund klüger, ins Landesinnere zu fliehen und sich unter einem Lavabrocken zu verkriechen?
Dann sah ich die erste Wolkenspinne. Sie stand über einer Häuserzeile, etliche ihrer Beine in die Straße, andere in die Hinterhöfe gepflanzt. Mit den restlichen nebligen Gliedmaßen pflückte sie Schindeln aus den Dächern. Als eines der Löcher groß genug war, ließ sie aus ihrem grauen Leib eine schlanke Wasserhose wachsen, führte diese geschickt durch das Loch – und saugte damit die kreischenden Bewohner in sich hinein. All das geschah so atemberaubend schnell, dass es mir nicht einmal gelang, den Blick abzuwenden.
Die Wolkenspinne gab ein Grollen von sich, das an nahen Donner erinnerte und mir schon von ihren Artgenossen in der Wolke vertraut war. Ein Geräusch, das einen unwillkürlich den Kopf einziehen und um sein Leben rennen lässt. Ich hätte am liebsten in das panische Geschrei der Leute eingestimmt, die mit mir zu Zeugen dieses grässlichen Ereignisses geworden waren. Aber ich riss mich los und eilte weiter gegen den Flüchtlingsstrom, tiefer hinein in das neue Hoheitsgebiet der Wolkenspinnen.
Das war es also, was sich in dem Hagel befunden hatte: Die Kreaturen der Wolke, die sie in ihren Eingeweiden gezüchtet hatte und nun auf Eydernorn herabsandte. Die geschmolzenen Hageleier, die ich vor Wochen in der Nähe des Hotels gesehen hatte, waren noch leer oder unterentwickelt, vielleicht nur ein Testlauf zur Vorbereitung auf die große Mobilmachung. Aber jetzt waren sie gefüllt gewesen, und die Brut darin entwickelte sich nach dem Auftauen in Windeseile zu diesen riesigen Monstren.
Fast in jeder Straße sah ich nun Wolkenspinnen, die emsig damit beschäftigt waren, die Dächer der Häuser abzudecken und darin nach Beute zu fahnden. Andere jagten die Eydergarder, denen es gelungen war, ihre Behausungen rechtzeitig zu verlassen, um sie auf der Straße zu erlegen. Ihre Jagdmethode war einfach, aber effektiv: Sie umstellten ihre Opfer, denen sie an Geschwindigkeit mühelos überlegen waren, mit ihren zahlreichen langen Beinen. Dann entließen sie aus ihren nebligen Leibern lange, dicke Wirbel, die gleichzeitig an Tornados und Tentakel erinnerten, und saugten die Beute auf eine Weise in sich hinein, die beinahe genüsslich wirkte, besonders aufgrund der Geräusche, welche die Ungetüme von sich gaben.
Der Gedanke an die Quoped war es, der mich zum Hafen zog. Ich hatte nämlich nicht vergessen, was mir ein Matrose bei einem meiner Hafenausflüge mitgeteilt hatte: Wenn überhaupt eines der Schiffe vorzeitig seetüchtig sein würde, dann müsste es die Quoped sein, um wenigstens den wichtigen Postweg zum Festland wieder zu gewährleisten.
Ich wusste, wo sie vor Anker lag, und kannte den Weg durch die Straßen und Gassen, die in diesen Bereich des Hafens führten. Aber zwischen mir und der Quoped lag noch das halbe Hafenviertel, wo die Wolkenspinnen marodierten. Sie stolzierten durch die Straßen wie die neuen Herrscher einer eroberten Stadt, Tod und Zerstörung säumten ihren Weg. Laufend kamen neue Monstren hinzu, weil die Wolke unablässig ihre Eier herabregnen ließ. Ich sah, wie ein besonders großes Ei das Dach eines Hauses durchschlug, nur Augenblicke später lugte ein Spinnententakel durch das Loch und fing an, ringsum die Schindeln abzudecken. Ihr Wachstum verlief rasend schnell!
Als ich in die Straße kam, wo sich der Fackelfisch befand, sah ich, wie ein besonders gewaltiges Exemplar ein verzweifelt wieherndes Pferd in sich hineinsaugte. Die dazugehörige Kutsche verschmähte es, der Kutscher floh in einen Hauseingang.
Ich drückte mich weiter an den Wänden entlang, auch wenn ich so nur sehr langsam vorankam. Denn die Spinnen hatten anscheinend die Vorliebe, größere Gruppen zu attackieren, die in der Mitte der Straßen und Gassen unterwegs waren. Mit welchen Sinnen sie sich dabei orientierten, war nicht erkennbar. So etwas wie Augen besaßen sie jedenfalls nicht.
Als ich beinahe am Hafen angelangt war, sah ich in einer von Dachschindeln und Glasscherben übersäten Straße eine Wolkenspinne, die auf der Jagd nach einem Küstengnom war. Es sah so aus, als spielte sie Katz und Maus mit ihm und erfreute sich an seinen verzweifelten Versuchen, ihr zu entkommen. Sie hatte in der Mitte der Straße mit ihren zahlreichen dürren Beinen einen Käfig um ihr Opfer errichtet, aber ihm gelang noch ein letzter Fluchtversuch zwischen zwei Beinen hindurch, die nicht eng genug beieinanderstanden. Statt wegzulaufen, warf sich der Gnom mit dem Mut der Verzweiflung in den schmalen Abwasserkanal der Straße und tauchte unter, wahrscheinlich in der vagen Hoffnung, damit aus der Wahrnehmung der Wolkenspinne zu verschwinden. Küstengnome können gut tauchen und unter Wasser die Luft anhalten.
Aber die Wolkenspinne war im Jagdfieber und ließ sich dadurch nicht von ihrer Beute abhalten. Sie stakste zum Kanal, stellte sich breitbeinig darüber auf und ließ ihren Wolkenleib gemächlich hin und her pendeln – vielleicht war dies ihre Methode, die Beute unter der Wasseroberfläche ausfindig zu machen, mit welchem widerwärtigen Wolkenspinnensinn auch immer. Als nächstes ließ sie einen kleinen und dünnen Dunstwirbel aus ihrem Leib herauswachsen, aufreizend langsam und bedächtig. Dann ging es blitzschnell. Der Wirbel wurde schlagartig dicker und länger und streckte sich urplötzlich hinab in den Kanal, so schnell wie ein Peitschenhieb. Das Monstrum hatte offenbar gut gezielt, denn ich konnte deutlich sehen, wie die Silhouette des Gnoms aus dem schäumenden Wasser auftauchte, in den nebligen Wirbel gesogen wurde und schließlich im Wolkenleib verschwand. Das war mehr, als ich ertragen konnte.
Ich wollte mich von dem schaurigen Bild abwenden, als etwas Merkwürdiges geschah. Die Wolkenspinne begann zu taumeln. Ich dachte zuerst, dass dies vielleicht zu ihrem Verdauungsritual gehörte, aber dann knickten einige ihrer Beine ein. Gleichzeitig war sie immer noch damit beschäftigt, mit dem Wirbel weiteres Wasser in sich hineinzusaugen, aber je länger sie das tat, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass sie es nicht aus freien Stücken machte, sondern einfach nicht aufhören konnte. Sie gab grässlich gurgelnde Geräusche von sich, ihr grauer Leib schwoll immer mehr an und schien schließlich zu schwer für ihre dünnen Beine zu werden. Ziellos torkelte sie über dem Kanal hin und her, weitere ihrer Beine knickten ein.
Dann platzte sie auf, als wäre sie in der Mitte ihres aufgedunsenen Leibes von einer unsichtbaren Klinge aufgesäbelt worden. Eine widerliche Mischung aus Abwasser und Wolkenspinneninnereien quoll aus ihr heraus, mitsamt dem Gnom, der zu Boden stürzte. Schließlich brach die Wolkenspinne komplett zusammen. Die restlichen Beine knickten eins nach dem anderen ein, dann kippte sie mit einem tiefen Gurgeln wie ein gefällter Baum zur Seite und stürzte in den Bach. Ihr Oberkörper faltete sich zusammen wie ein Ballon, aus dem die Luft herausgelassen wird. Schließlich wurden ihre schlaffen Überreste von dem Abwasserbach weggetragen wie ein leerer, nasser Mehlsack, denn mehr war nicht von ihr übriggeblieben.
Ich lief zu dem Gnom, der regungslos in der widerlichen Brühe lag und sich nicht mehr bewegte. Die legendäre Zähigkeit der Küstengnome und ihre Fähigkeit, die Luft ungewöhnlich lange anzuhalten, hatten wohl in diesem Fall nicht ausgereicht. Erst jetzt erkannte ich die Lebende Tätowierung auf seiner Stirn wieder. Das war der Friedhofsgärtner, der mir auf dem Inselfriedhof die Sprechenden Grabmale gezeigt hatte. Trauer und eine hilflose Wut überwältigten mich. Ich wusste nicht, was ich als nächstes tun sollte.
Da bemerkte ich, dass sich die Lebende Tätowierung des Gnoms bewegte. War das möglich, wenn er schon tot war? Ich hatte keine Ahnung, ob eine Lebende Tätowierung mit ihrem Träger stirbt, aber ich nahm es als Zeichen dafür, dass das Blut noch in ihm pulsierte und seine Lebensfunktionen nicht komplett erloschen waren. Augenblicklich begann ich mit Wiederbelebungsversuchen. Ich hatte keinerlei Ahnung, wie man so etwas macht, ich presste einfach beide Hände auf seinen Brustkorb und versuchte, mit pumpenden Bewegungen das Wasser aus seinen Lungen zu pressen. Zu meinem großen Erstaunen funktionierte das tatsächlich, und ein Schwall grauer Flüssigkeit quoll über seine Lippen. Er begann erst zu röcheln, dann zu husten, und schließlich hob er den Oberkörper und erbrach sich auf seine Brust. Also doch: die berühmte Zähigkeit der Küstengnome!
Er rappelte sich aus der ekligen Brühe auf und reinigte sich oberflächlich mit Wasser aus dem Kanal. Dann drückte er mir wortlos die Hand, worauf ich lieber verzichtet hätte, weil er vorher damit noch Reste von Wolkenspinneninnereien aus seiner Kleidung entfernt hatte. Schließlich stürzte er sich wieder ins Getümmel, indem er in die Richtung rannte, aus welcher der größte Lärm kam. Ich machte mich weiter auf den Weg Richtung Hafen.
Was ich gelernt hatte, mein bester Hachmed, war, dass die Wolkenspinnen kein Eydernorner Wasser vertrugen. Von dem Augenblick an, als die Wolkenspinne Kontakt mit dem Wasser des Kanals aufgenommen hatte, schien ihr Schicksal besiegelt zu sein. Sie verlor die Kontrolle über ihre Körperfunktionen und musste es trinken, bis es sie zerstörte. War das auch eine allergische Reaktion – wie so vieles auf dieser angeblich so gesunden Insel?
Nun, diese Erkenntnis half mir in meiner momentanen Situation jedenfalls herzlich wenig. Solange die Wolkenspinnen nicht mit Eydernorner Wasser in Kontakt kamen, blieben sie die gefährlichen, monströsen und unbezwingbaren Kreaturen, die sie waren. Und in der Gegend, durch die ich mich nun begeben musste, wimmelte es nur so von ihnen. Ich suchte weiterhin den Schutz der Häuser, schritt sogar durch verlassene Häuser und Ruinen hindurch, deren Türen oder Fenster offen standen, lief durch Hinterhöfe und kleine Gärten. Überall sah ich das bestürzende Ausmaß der Zerstörung, und von überallher hörte ich den beängstigenden Lärm der Ereignisse, die auf den Straßen und Plätzen stattfanden und die ich zum Glück nicht mit eigenen Augen bezeugen musste: die schrecklichen saugenden und schlürfenden Geräusche, welche die Wolkenspinnen von sich gaben, das donnernde Rumpeln aus ihren Leibern und die Todesschreie ihrer Opfer – all das war nun unablässig zu hören.
Ein wirklich stabiles Haus kann vor fast jedem Wetter schützen. Aber was ist, wenn das Wetter in Form einer Wolkenspinne in dein Haus eindringen kann, indem es das Dach abdeckt? Wenn es durch deinen Kamin kommen kann?
In meiner Panik fahndete ich in meinen geräumigen Hosentaschen nach einem Gegenstand, mit dem ich mich verteidigen konnte. Aber ich fand nur das Nachtigallersche Erdfieberthermometer. Trotz meiner verzweifelten Situation musste ich lachen. Was sollte ich damit anstellen – den Wolkenspinnen die Temperatur messen? Entmutigt warf ich es von mir. Ich war wehrlos.
Die Erdstöße erschütterten in immer kürzeren Abständen und immer heftiger die Gebäude, brachten Fenster zum Klirren, Geschirr zum Klimpern, Möbel zum Tanzen und Gemäuer zum Knirschen. Es gab ganz offensichtlich keinen Ort in Eydergard mehr, an dem man sicher war.
Als ich aus einem leeren Haus ins Freie treten wollte, sah ich gerade noch rechtzeitig eine Wolkenspinne in der Straße, die ihre Artgenossen an Größe um mindestens ein Drittel übertraf. Sofort zog ich mich wieder ins Haus zurück und beobachtete sie weiter durch ein geborstenes Fenster. Sie war von erheblich dunklerer Farbe als die anderen, beinahe schwarz. Und auch ihr donnerndes Grollen war tiefer und lauter. Ein dauerhafter Regen fiel aus ihr heraus, der anscheinend von klebriger Beschaffenheit war. Denn ich sah eine Gruppe von Flüchtenden, die in einer großen Pfütze aus dieser Flüssigkeit regelrecht festgeleimt waren. Dann geschah etwas, das mich selbst nach allem, was ich in den letzten Stunden gesehen und erlebt hatte, noch verblüffte und heftig erschütterte. Die Wolkenspinne stellte sich breitbeinig über die Gruppe und kesselte sie mit ihren Beinen ein. Eine Weile hörte ich nur die verzweifelten Rufe und Schreie der Gefangenen, dann rumpelte und wetterleuchtete es im Inneren der Wolkenspinne derart, wie ich es noch bei keiner anderen erlebt hatte. Für einen beängstigenden Augenblick wurde sie innerlich derart hell illuminiert, dass ich ihre fremdartigen Organe und auch die Schattenrisse von Opfern, die sie bereits verschlungen hatte, zu sehen glaubte. Dann donnerte sie gewaltig, und ein Bündel von blendenden Blitzen schoss aus ihrem schwarzen Leib herab auf die kleine Gruppe von Verzweifelten. Ich hörte ein grässliches Knistern und Brutzeln, ich roch verbranntes Fleisch und das stechend scharfe Parfüm von Ozon, und dann sah ich, dass all ihre Opfer in der Pfütze darniederlagen, verbrannt, bizarr verkrümmt und verkohlt, manche brannten lichterloh.
Die Wolke gab ein Donnern von sich, das ich nur als triumphierend bezeichnen kann. Während sie davonstolzierte, ließ sie ein großes gefrorenes Ei fallen und dann noch eins. Und noch eins. Alle drei begannen augenblicklich zu dampfen und zu tauen. Etwas Schockierenderes hätte sie in meinen Augen nicht tun können, mein bester Hachmed! Denn damit demonstrierte die Wolkenspinnenkönigin, dass sie in der Lage war, sich unabhängig von der Wolke eigenständig fortzupflanzen und für den Fortbestand ihrer Art zu sorgen. Etwas Verheerenderes konnte ich mir für unseren Kontinent nicht vorstellen.
Ich nahm also lieber den Hinterausgang und lief durch einen Garten in eine Gasse auf der anderen Seite des Häuserblocks. Als ich dort ins Freie treten wollte, lief ich vor eine Wand aus Eis. Der Anblick war so erstaunlich, dass ich vielleicht befürchtet hätte, den Verstand verloren zu haben, hätte ich nicht die brutale Kälte des Eises körperlich gespürt. Es knirschte und krachte gewaltig aus der Wand – und dann bewegte sie sich!
Auch meine bisherigen Begegnungen mit Frostfratten hätten mich nicht auf diese Situation vorbereiten können, denn solch ein riesiges Exemplar hatte ich noch nie gesehen. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, dass sie derart groß werden können! Denn eine Frostfratte war es in der Tat, was sich da krachend und knisternd an mir vorbeischob, so hoch wie ein dreistöckiges Haus und so lang wie ein ganzer Straßenzug.
Einem schmelzenden Gletscher oder einem havarierten Eisberg gleich wälzte sich das gefrorene Monstrum durch diese Gegend von Eydergard, die vor kurzem noch aus schmucken Kapitänshäuschen, belebten Gaststätten, Werkstätten und Geschäften bestanden hatte. Nun war es ein Trümmerfeld aus Backsteinen und Fachwerkbalken, zersplitterten Schindeln und Glasscherben. Der Geruch der Frostfratte war kaum auszuhalten. Sie stank bestialisch nach totem Fisch, ozeanischer Fäulnis und verrotteten Algen. In ihrem Atem mischten sich die Gerüche von Meeresbewohnern aller Art, von Robben, Krill und dem Tran von Walfischen, einem Parfüm aus sämtlichen Lebensformen des Meeres, die sie je verschlungen hatte.
Seltsamerweise empfand ich kaum Furcht beim Anblick des monströsen Geschöpfes, sondern staunte nur grenzenlos. Die Frostfratte bewegte sich langsamer als ein Lavastrom und zeigte sich an mir vollkommen desinteressiert. Nur ab und zu zuckte sie konvulsivisch, dann knackte und krachte es beeindruckend in ihrem eisigen Körper. Wenn den Frostfratten das Meer zu warm wird, kommen sie an Land. Deswegen war sie hier. Erst, als ich in die zerstörte Straße trat, bemerkte ich all die Küstengnome, die rings um die Frostfratte damit beschäftigt waren, furchtlos ihre eisernen Lanzen in sie hineinzustechen.
Warum das Ungeheuer in diesem Zustand so wenig bedrohlich wirkte, begriff ich, als ich die gigantischen Kiemen an ihrer Flanke sah, die konvulsivisch pumpten und verzweifelt flatterten. Das war tatsächlich eine vollkommen hilflose Kreatur, nicht viel bedrohlicher als ein gestrandeter Wal. Im Wasser waren die Frostfratten vielleicht die gefährlichsten Bewohner des Ozeans, aber an Land völlig wehrlos, sobald ihnen die Luft ausging. Und das passierte anscheinend zwangsläufig, wenn sie sich zu weit an Land vorwagten. Das gewaltige Keuchen und Japsen der Fratte war erbarmungswürdig. Die Küstengnome besorgten den Rest, sie schienen genau zu wissen, in welche empfindlichen Stellen sie ihre Lanzen hineinbohren mussten, um dem Ungetüm die letzte Lebenskraft zu rauben. Beinahe erregte das Meeresungeheuer sogar mein Mitleid. Ich ließ es zusammen mit den Küstengnomen zurück, die weiter ihr grausames, aber notwendiges Handwerk besorgten.
Dann konnte ich endlich den Hafen hören, genauer gesagt, viele Schiffsglocken, die seltsam unregelmäßig geschlagen wurden. So chaotisch und vielfältig war ihr Gebimmel noch nie. Als ich endlich in die Schiefe Reihe einbog, verstand ich, was passiert sein musste. Ein weiteres und diesmal größeres Seebeben hatte eine Flutwelle ausgelöst, die erheblich folgenreicher war als die, die ich bereits erlebt hatte. Sie hatte nicht nur zahlreiche Schiffe im Hafen beschädigt, kieloben gedreht oder versenkt, sondern auch die Schiefe Reihe komplett unter Wasser gesetzt. Viele Geschäfte waren völlig zerstört, die Glasscheiben und Türen eingedrückt. Das zurückfließende Wasser stand immer noch kniehoch auf der Promenade, Wrackteile und kleine Boote steckten in den Schaufenstern. Das Hafenbecken war ein einziges Trümmerfeld. Aber noch größeren Schaden hatte die riesige Frostfratte angerichtet, die der Flutwelle gefolgt war. Sie hatte eine Schneise der Verwüstung geschlagen, von den Schiffen angefangen, die sie im Hafenbecken zermalmt hatte, über mehrere Häuser der Schiefen Reihe, durch die sie sich einfach hindurchgewälzt hatte, bis hinein ins dahinterliegende Hafenviertel, wo sie ganze Straßenzüge zertrümmerte, bevor die Küstengnome ihren blindwütigen Zerstörungszug beendet hatten.
Weit hinten im Hafen konnte ich die Quoped erkennen. Das alte Schlachtross der Meere hatte, soweit ich das beurteilen konnte, als einziges Schiff die erneuten Katastrophen halbwegs überstanden und schon ein erstes kleines Segel gesetzt. Anscheinend hatten es einige Glückspilze geschafft, an Bord zu gelangen und das Schiff seetüchtig zu machen, denn ich sah auch, wie ein weiteres Segel aufgezogen wurde und überall an Bord Bewegung war.
Eine große Unruhe ergriff mich. Wie konnte ich von hier aus die Quoped erreichen, bevor sie ablegte und den Hafen verließ? Das war nahezu unmöglich. Zwischen mir und dem Schiff befand sich nicht nur das Hafenbecken mit dem zurückstrudelnden Wasser, sondern auch ein Trümmerfeld aus ineinander verkeilten Schiffen und Wrackteilen, die sich gefährlich gegeneinanderbewegten. Schwimmen war ausgeschlossen. Verzweifelt sah ich mich um.
Meine einzige Chance, die Insel zu verlassen, war, mit einem der kleineren Ruderboote, die herrenlos in der Straße auf dem Restwasser der Flutwelle dümpelten, die Quoped zu erreichen. Kurzentschlossen watete ich zu einem und enterte es nicht ganz ohne Schwierigkeiten. Erst, als ich drin war, erkannte ich, dass es über sechs Ruder verfügte und nur schwer von einer einzigen Person gerudert werden konnte. Damit war mein Fluchtversuch an seinem natürlichen Ende angelangt. Ich ergab mich in mein Schicksal und blieb wie gelähmt in dem Boot hocken. Schwermütig beobachtete ich eine Gruppe von Trilobitenschnecken, die von der Uferpromenade her durch den Hafen schwammen, Richtung offenes Meer. Amphibie müsste man sein! Ich musste an die Hummdudel denken. Wo sie jetzt wohl waren?
Plötzlich schreckten mich Stimmen aus meinen melancholischen Gedanken. Ich drehte mich um und sah vier lanzenbewehrte Küstengnome, die durch das Wasser herangestapft kamen. Erst, als sie an meinem Boot angelangt waren, erkannte ich, dass einer von ihnen derjenige war, den ich kurz zuvor wiederbelebt hatte. Auch der Gnom schien mich zu erkennen. Wie ich aus seinen Gesten ablesen konnte, erläuterte er den anderen in breitem Inseldialekt, dass er mir sein Leben zu verdanken hatte. Dann fragte er mich nach meinem Befinden. Nachdem ich ihm erklärt hatte, ich hätte vergeblich versucht, die Quoped zu erreichen, gab er den anderen Küstengnomen einen Befehl, und alle sprangen kurzerhand zu mir ins Boot und legten sich in die Riemen, ohne weitere Fragen zu stellen.
Wer noch nie Küstengnomen beim Rudern zugesehen hat, der weiß überhaupt nichts von dieser Fortbewegungsmethode auf dem Wasser. Sie begannen mit dem Gesang, den ich schon von dem unvergesslichen Abend mit den Prozessionskrabben und meiner ersten Frostfrattenbegegnung kannte, und ruderten dann zügig durch die Trümmerteile des Hafens, so wie ihre Artgenossen mich durch die Eisschollen des Eydersunds gebracht hatten. Nur gestaltete sich die Fortbewegung hier etwas schwieriger – aber mit ihren Eisenlanzen stießen die kräftigen Gnome ein Hindernis nach dem anderen aus dem Weg, so dass wir erstaunlich zügig vorankamen. Dennoch machte ich mir wenig Hoffnung, denn die Quoped schickte sich offensichtlich an, den Hafen zu verlassen. Ein weiteres Segel wurde gehisst, ich vernahm Befehle, die wohl auf ein Auslaufen hinwiesen. Die Küstengnome, die diese Zeichen deuten konnten, legten sich noch heftiger in die Riemen. Eine verunglückte Brigg, die kieloben im Wasser trieb, erwies sich als besonders hartnäckiges Hindernis, aber schließlich gelang es den Gnomen, sie mit ihren Stangen zur Seite zu bugsieren, so dass wir freie Fahrt zur Quoped hatten.
Als wir nahe genug an das Schiff herangerudert waren, machten wir uns durch laute Rufe bemerkbar. Für bange Augenblicke geschah nichts. Dann sah ich einen Matrosen, der aber sofort wieder entschwand. Kurz darauf erschienen zwei Gestalten an der Reling. Eine von ihnen war der Kapitän, den ich schon bei der Hinfahrt kennengelernt hatte. Der andere war zu meiner Überraschung Doktor Tefrint De Bong.
Es dauerte nicht lange, da wurde ein Fallreep herabgelassen, mit dem ich die Quoped erklimmen konnte. Die Küstengnome ließen sich durch keinerlei Argumente von mir überzeugen, mit auf das rettende Schiff zu kommen. Ich erklärte ihnen eindringlich, dass Eydernorn dem Untergang geweiht und dies ihre einzige Chance auf ein Überleben sei. Aber sie beharrten störrisch darauf: Ihr Platz sei auf der Insel, um ihre verdammte Pflicht zu erfüllen. Während ich nach oben kletterte, ruderten sie fröhlich singend durch den verwüsteten Hafen zurück. Der furchteinflößenden Rauchsäule des Numatsi entgegen.
An Bord der Quoped erwartete mich nicht nur ein einziger De Bong, sondern sämtliche Drillinge: Tefrint, Manuolo und Bohann. Gemeinsam mit dem Kapitän nahmen sie mich in Empfang.
Der Doktor eröffnete das Gespräch. »Was für eine Überraschung und Freude!«, rief er mit vier ausgebreiteten Armen. »Ehrlich gesagt, sind Sie die allerletzte Person, die ich hier erwartet hätte. Sollten Sie nicht da oben in der Wolke sein, an Bord des Sphärentauchers von Florestan De Cieelo? Ist etwas schiefgelaufen?«
»Die Dinge haben sich etwas anders entwickelt als geplant«, entgegnete ich. »Sie besitzen also Kenntnis von den Plänen der Leuchtturmwärter? Nephelenia hat mir gegenüber erwähnt, dass sie …«
»Ich muss leider gestehen«, unterbrach mich Tefrint, »dass wir bei einigen Ihrer Erlebnisse auf Eydernorn etwas mehr involviert waren, als wir Sie glauben ließen. Nicht gleich bei Beginn unserer Bekanntschaft, aber später immer mehr. Wir hatten leider unsere Rollen zu spielen, aber ich kann Ihnen versichern, dass alles einer großen Sache diente.«
»Das ist mir mittlerweile bewusst«, entgegnete ich. »Ich bin nicht nachtragend.«
»Sehr gut!«, sagte Doktor De Bong. »Ich war derjenige, der den Leuchtturmwärtern Ihre allergische Reaktion gesteckt hat. Bohann hat ihnen von Ihren auffälligen Talenten beim Kraakenfieken berichtet. Und Manuolo von dem bemerkenswerten Ereignis in seiner Werkstatt.« Die beiden nickten.
»Nicht nur Nephelenia hat daraus ihre Schlüsse gezogen. Verzeihen Sie uns bitte die ganze Schauspielerei und die Taschenspielertricks, die wir Ihnen gegenüber abziehen mussten. Aber etwas sehr Großes stand auf dem Spiel, und wir waren uns über Ihre wirkliche Rolle darin nicht von vornherein bewusst. Sie haben ja selber für einige Überraschungen und Wendungen gesorgt.«
»Sind alle hier an Bord Verbündete der Leuchtturmwärter?«, fragte ich.
»Mehr oder weniger, ja, die Matrosen ausgenommen. Auf der Quoped befindet sich ein Kreis von Auserlesenen, die schon seit langer Zeit in die Pläne der Leuchtturmwärter eingeweiht und ihnen behilflich waren: Apotheker, Ärzte, Chemiker, Handwerker, Alchemisten … das ist nun der Lohn für unsere Loyalität. Wir dürfen die Insel verlassen, bevor das letzte Feuerwerk losgeht.«
»Waren Sie wirklich in der Wolke?«, fragte Bohann. »Und wie haben Sie es dann hierhergeschafft?«
Ich berichtete den drei De Bongs in stark geraffter Form, was mir in der Wolke und später in Eydergard widerfahren war. Dabei wurde mir erst bewusst, wie unglaublich das alles klingen musste.
»Sie sind ein echtes Kind des Glücks!«, rief Doktor De Bong und klatschte in seine vier Hände. »Das sollten Sie endlich akzeptieren und sich von Ihrer Hypochondrie verabschieden. Das ist nur Zeitverschwendung.«
»Und Sie sind ein Verbündeter des Luftreiches über Eydernorn«, ergänzte Bohann. »Das weiß ich schon seit Ihren Erfolgen beim Kraakenfieken. Und jetzt können Sie sogar fliegen.«
»Wann stechen wir in See?«, fragte ich den Kapitän.
»Wir tun unser Bestes, um das Schiff so schnell wie möglich seetüchtig zu machen«, antwortete der. »Es wird nicht mehr lange dauern.«
Er wurde von aufgeregtem Geschrei von Backbord her unterbrochen. Die meisten Passagiere standen an der Reling, redeten durcheinander, deuteten aufgeregt in Richtung der Schiefen Reihe.
Ich lieh mir von einem der Matrosen ein Fernrohr, um mir einen möglichst genauen Eindruck vom Geschehen zu machen. Was ich sah, versetzte mich in größte Unruhe: Eine der Wolkenspinnen hatte die Hafenmole verlassen und bewegte sich in unsere Richtung. Sie bewerkstelligte dies, indem sie mit ihren langen Gliedmaßen von Wrack zu Wrack stakste und auf ihnen so geschickt balancierte, dass sie nicht mit dem Wasser in Kontakt geriet. Ich bemerkte sogleich, dass es sich dabei um eine der Königinnen handelte. Sie kam zügig voran. Ihr Ziel war ganz offensichtlich die Quoped .
»Das ist eine ihrer Königinnen«, informierte ich die anderen umgehend. »Die sind größer und gefährlicher. Sie versucht offensichtlich, unser Schiff zu erreichen.«
»Holt den Anker ein!«, rief der Kapitän geistesgegenwärtig.
»Es ist unmöglich, dass sie die Quoped erreicht!«, behauptete einer der Passagiere. »Wir sind mehr als eine Schiffslänge vom letzten Wrackteil entfernt. So lange Beine hat sie nun auch nicht. Die holt uns nicht mehr ein. Es sei denn, sie kann schwimmen.«
»Das ist garantiert unmöglich«, konnte ich zur allgemeinen Beruhigung klarstellen. »Wasser bekommt diesen Kreaturen überhaupt nicht.«
»Alle Segel setzen, die wir haben!«, rief der Kapitän. »Wir stechen sofort in See.«
Als ich wieder zu der Wolkenspinne hinsah, benötigte ich kein Fernrohr mehr. Sie hatte bereits die Hälfte des Weges zu uns zurückgelegt, auf eine derart artistische und geschickte Weise, dass es beinahe wie ein Tanz aussah.
Fasziniert und beklommen zugleich beobachteten wir dieses einzigartige Schauspiel, das aus einem Alptraum zu stammen schien. In der Luft zwischen zwei Wrackteilen drehte die Wolkenspinne elegante Pirouetten, die ihrem Körper einen Vorwärtsdrall gaben, der sie erheblich weiter durch die Luft trug, als es ihr durch einen einfachen Sprung möglich gewesen wäre. Es war eine ganz neue Form der Fortbewegung, keinem anderen Geschöpf unseres Kontinents wären solch kühne Sprünge gelungen. Die Wolkenspinne konnte offensichtlich ihre Körperdichte nach Belieben verändern, so dass sie leicht wie Luft wurde und so schwerelos dahinschwebte wie ein Pusteblumensamen. Wenn sie dann sanft landete, tänzelte sie über ein paar kleinere Boote hinweg, die kieloben trieben, oder lief blitzschnell über den Rumpf eines gekenterten Schoners, der auf der Seite lag. Einmal nutzte sie ein paar zusammengeschnürte Fässer zur Zwischenlandung – alles, was im Wasser trieb, diente ihr zur Fortbewegung. Dies war tatsächlich eine Art von Lebewesen mit Fähigkeiten und Kräften, über die bisher keine zamonische Kreatur verfügte. In einem Aspekt hatte Nephelenia vollkommen recht: Wenn sie sich ausbreiteten, würden sie bald unsere gesamte Welt beherrschen. Nichts machte mir diese furchterregende Tatsache besser bewusst als diese kühnen und eleganten Tanzsprünge der Wolkenspinne über das Wasser des Hafenbeckens. Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, wie gefährlich das Element unter ihr für sie war! Sonst hätte sie diese Sprünge vielleicht gar nicht erst gewagt. Ein Wesen aus Wasser, dessen einziger Gegner auf dieser Welt das Wasser selbst war.
Wir hielten alle den Atem an, als die Spinne auf dem Wrackteil aufsetzte, das der Quoped am nächsten war, und als sie im selben Augenblick bereits wieder absprang, um ihr Ziel zu erreichen, rollte ein kollektiver Schrei des Entsetzens über das Schiff, das uns hätte retten sollen. Die Wolkenspinne schwebte als bizarr geformter und vom Wind getragener Nebelschleier zu uns herüber, unaufhaltsam wie ein böser Meeresgeist. Einige an Bord schrien erneut voller Entsetzen auf, als die ersten Tentakel das Schiff erreichten und sich an der Reling festsaugten. Dann zog das Monstrum ihren restlichen Wolkenkörper mit einem energischen Ruck hinterher – und schon war es an Bord. Unter der Besatzung und den Passagieren brach blanke Hysterie aus. Die Königin, fast so groß wie unser Fockmast, war auf der Quoped gelandet. Ein triumphales Rumpeln aus ihrem Inneren ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie sich als die neue Eignerin des Schiffes begriff.
Die Passagiere liefen kopflos durcheinander, manche versuchten, sich unter Deck zu verkriechen, und einer sprang sogar in höchster Panik ins Wasser. Ein paar beherzte Matrosen griffen sich Enterhaken und Harpunen, um das Monstrum in Schach zu halten.
Das alles kümmerte die Wolkenspinne, für die wir nichts anderes waren als ein paar aufgeregte Insekten, nicht. Sie stakste nur eine Weile hochbeinig herum und zerfetzte mit ihren Wirbeln wie beiläufig eines der großen Segel, als würde sie ihren neuen Besitz begutachten.
Noch bevor der Kapitän irgendwelche Befehle erteilen konnte, griffen fünf der mutigsten Matrosen die Spinne mit ihren behelfsmäßigen Waffen an. Einer schleuderte mit oft geübtem und kraftvollem Wurf seine Harpune in sie hinein. Ein anderer versuchte, mit einem Entermesser einen ihrer Tentakel abzuhacken. Die drei übrigen bemühten sich, ihre unteren Gliedmaßen mit einem Schleppnetz zu umwickeln, um sie ins Straucheln zu bringen.
Aber all diese Versuche schlugen fehl. Es hatte keinen Zweck, die Wolkenspinne mit Harpunen oder Klingen zu attackieren, das war so sinnvoll wie auf eine Nebelbank zu schießen. Das Ungeheuer konnte sich nach Belieben verdichten und verflüssigen, indem es binnen Sekundenbruchteilen ihre Temperatur herauf- oder herunterregulierte und sich von flüchtigem Nebel in kompaktes Eis verwandelte – und umgekehrt. In dem einen Augenblick waren ihre Beine hart und spitz wie Eiszapfen, im anderen durchlässig wie Dampf aus einer Teekanne.
Die Wolkenspinne war eine vollkommene Kampfmaschine. Wollte man sie verletzen, war sie durchlässig und unverletzlich wie Nebel. Wollte sie selber zuschlagen, wurde sie so dicht wie Packeis oder kraftvoll wie ein Wirbelsturm. Sie senkte einen ihrer Wirbel auf den Matrosen mit dem Entermesser herab und schlürfte ihn blitzschnell in sich hinein. Er verschwand so rasch und spurlos wie bei einem Zaubertrick, aber wir konnten ihn im Leib des Monstrums noch lange kreischen hören. Einem anderen Matrosen stieß sie einen langen spitzen Eiszapfen wie einen Dolch durch die Brust. Dann riss sie ihn wieder heraus und ließ ihr Opfer fallen wie eine leblose Puppe. Die drei übrigen Angreifer packte sie mit mehreren Tentakeln, wirbelte sie hoch in die Luft und ließ sie wieder zurück aufs Deck stürzen, wo sie zerschmettert liegen blieben. Anschließend richtete sie sich auf und entließ einen gewaltigen Donner, der weit übers Meer schallte. Für ein paar Augenblicke geschah nichts – dann plumpsten hintereinander fünf dicke Hageleier aus ihr heraus auf das Deck, die dort dampfend liegen blieben.
»Das ist ihre Brut!«, warnte ich die anderen. »Daraus werden sich gleich neue Exemplare entwickeln.«
»Dann sollten wir sie schnellstens über Bord werfen!«, rief Manuolo De Bong. Noch bevor ich ihn zurückhalten konnte, war er zu den Eiern hingelaufen und machte Anstalten, sie aufzuheben.
»Nicht, Manuolo!«, rief ich verzweifelt. »Rühr sie nicht an!«
Aber es war zu spät. Das Donnern aus der Wolkenspinne war diesmal noch erheblich lauter. Sie richtete sich abermals straff auf, es knisterte und wetterleuchtete in ihrem dunkelgrauen Leib – dann schoss ein armdicker Blitz aus ihr heraus und traf Manuolo mit seiner ganzen elektrischen Wucht. Es zischte und fauchte, als der Strahl aus blendendem Licht in ihn hineinfuhr. Sein ganzer Körper ging in hellblauen Flammen auf, binnen einer einzigen Sekunde. Alles, was von ihm übrigblieb, war ein schwarz qualmendes Gerippe. Das einzig Tröstliche, was ich darüber zu sagen vermag, ist, dass es so wahnwitzig schnell ging, dass Manuolo wahrscheinlich nichts davon gespürt hat.
Das Entsetzen, das uns packte, lähmte uns alle. Niemand regte sich, wir standen da wie angenagelt. Nur die Wolkenspinne bewegte sich weiter. Wie um ihre eigentlich unmissverständliche Ansage noch einmal zu unterstreichen, wedelte sie elegant mit den Tentakeln, entließ einen weiteren Donner und packte blitzschnell einen Matrosen, der zur falschen Zeit an der falschen Stelle stand, hob ihn haushoch in die Höhe und zerriss ihn dort in zwei Teile, die sie anschließend wie beiläufig ins Meer schleuderte.
Das löste unsere Schockstarre insofern, als dass wir nun panisch wie kopflose Hühner durcheinanderliefen und Deckung suchten. Die Wolkenspinne aber kehrte desinteressiert an uns in ihre majestätische Haltung zurück und stand nun fast reglos da, ein riesiges Monument der Macht und Überlegenheit. Das war der Augenblick, in dem mir klarwurde, was sie von uns wollte. Ich eilte zu den beiden übriggebliebenen De Bong-Brüdern, die in Tränen aufgelöst waren. Ich konnte ihre Wut und Trauer vollkommen verstehen, empfahl ihnen aber, sich zu keinen unüberlegten Handlungen hinreißen zu lassen.
»Sie wird uns vorläufig nichts mehr tun«, behauptete ich. Ich wusste mittlerweile so viel über die Ambitionen der Großen Wolke, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass die Spinne planlos auf das Schiff gekommen war, nur um uns abzuschlachten. »Sie hat die Quoped nicht geentert, um uns zu töten. Sie gehorcht instinktiv dem generellen Befehl der Großen Wolke, der da lautet: Sich vermehren, ausbreiten und vernichten! Sie hat ihre Herrschaft über das Schiff eindeutig unter Beweis gestellt und will nun von uns zum Festland transportiert werden. Denn das ist ihr Auftrag. Sie will dahin, wo noch mehr Leben ist, das sie vernichten kann. Erst, wenn wir das andere Ufer erreicht haben, wird sie uns töten. So lange aber braucht sie uns.«
»Dann können wir gar nichts tun?«, fragte Doktor De Bong.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte ich. »Aber er hat einen Haken.«
Die beiden sahen mich erwartungsvoll an. In ihrem Blick loderte der Hass auf die Mörderin ihres Bruders.
»Nephelenia hat mir einiges von ihrem Wissen über die Wolke und die Wolkenspinnen vermittelt. Dazu gehört, dass Padparadschasaphire eventuell eine Art Gegengift gegen sie darstellen. Das ist das eine. Als ich noch auf der Insel war, konnte ich beobachten, dass ein Exemplar nur durch die Berührung mit Wasser zugrunde ging. Das ist das andere.«
»Das über die Saphire wissen wir«, sagte Bohann. »Deswegen warst du in der Wolke. Aber wir haben keinen Saphir an Bord. Und niemand von uns könnte das Monstrum einfach so ins Wasser stürzen.«
Ich zog meinen Saphir aus der Tasche und ließ die beiden verdeckt einen Blick darauf werfen. »Wenn es uns gelänge, den Stein in die Spinne zu befördern, mitten in ihren hässlichen Leib hinein – dann wäre es vielleicht möglich, dass er dort Verheerendes anrichtet oder zumindest eine irritierende Wirkung auf sie hat, die sie aus dem Gleichgewicht bringt …«
»Und wenn wir gleichzeitig das Schiff so manövrieren …«, führte Tefrint meinen Gedanken fort, »dass es eine rabiate Kursänderung macht, dann könnten wir so das Monstrum ins Wasser stürzen. Richtig?«
»Das ist der Plan«, bestätigte ich. Endlich hatte ich auch mal einen!
Tefrint deutete auf den Leib der Spinne, der oberhalb der höchsten Mastspitze über uns dräute. »Aber wie willst du das Ding dort oben hinbekommen? Niemand von uns an Bord kann so hoch werfen.«
»Das ist der Haken, von dem ich sprach«, sagte ich. »Ich weiß auch nicht, wie das gehen soll.«
»Mit einem Gookenprien«, murmelte Bohann geistesabwesend. »Mit einem sauber angeschnittenen Gookenprien sollte es gehen.«
Der Doktor und ich sahen ihn verdutzt an.
»Du meinst …«
»Mit einem perfekten Klööperschlag wäre es zu bewerkstelligen. Die Windverhältnisse sind gut geeignet dafür.«
Ich musste zugeben, dass das eine Möglichkeit war. »Aber wir haben keinen Klööper«, warf ich ein. »Ich habe meine Schläger auf der Insel gelassen. Mit einem Paddel wirst du wohl schlecht einen perfekten Schlag landen können.«
Bohann de Bong ging zu einem Seesack, der an der Reling lehnte, und holte etwas heraus.
Es war ein längliches Stoffbündel, und als er es auswickelte, befand sich darin ein reich beschnitzter Klööper.
»Das ist mein Glücksklööper. Der einzige, den ich von Eydernorn mitgenommen habe. Manuolo hat ihn für mich geschnitzt. Ich habe meine besten Schläge damit gemacht. Wenn du den Saphir damit nicht versenkst, dann auch mit keinem anderen. Tu es für Manuolo!«
»Ich soll abschlagen?«, fragte ich verdutzt. »Ich? Warum machst du das nicht selber? Du bist der um Längen erfahrenere Spieler.«
»Aber nicht der bessere. Der bist du. Du bist der Auserwählte. Du bist der mit den Winden von Eydernorn Verbündete.«
»Es ist ja sehr schmeichelhaft, dass ihr an so etwas glaubt und mir das zutraut, meine Freunde«, antwortete ich. »Aber ich teile diese Überzeugung leider nicht.«
»Bohann hat recht«, sagte Tefrint. »Du musst dich dieser Verantwortung stellen. Es gibt nur die Möglichkeit eines einzigen Schlages. Und den sollte der ausführen, der mit den Winden von Eydernorn verbündet ist. Tu es für Manuolo!«
Sie meinten es offensichtlich ernst mit ihrem Anliegen, und mir fiel in der Eile nichts mehr ein, womit ich ihr Drängen entkräften konnte. Außerdem bestand dringender Handlungsbedarf.
»Gut«, sagte ich. »Ich versuche es. Für Manuolo! Von wo soll ich abschlagen?«
Während Tefrint den Kapitän in unseren verrückten Plan einweihte, bereitete ich mich mit Bohann auf den Abschlag vor. Er wählte den geeignetsten Platz auf dem Deck und stellte dort einen Wassereimer mit dem Boden nach oben auf. Er tat das so beiläufig wie möglich, um nicht die Aufmerksamkeit der Wolkenspinne zu erregen, die nach wie vor in ihrer stoischen Haltung am Fockmast verharrte.
»Hast du es dir gut überlegt?«, fragte ich ihn. »Willst du es nicht doch lieber selber machen? Du bist der erfahrenste Kraakenfieker von Eydernorn.« Mein letzter verzweifelter Versuch, ihm doch noch die Verantwortung in die Schuhe zu schieben, zeigte keine Wirkung. Bohann schüttelte nur den Kopf.
»Das wird dein größter Schlag. Diesmal steht wirklich etwas auf dem Spiel. Nämlich alles!«
»Vielen Dank, das macht mir jetzt großen Mut. Ich habe schon seit Tagen keinen Klööper mehr in der Hand gehalten. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie das geht.«
»Daran hat sich nichts geändert. Wie immer: Tief Luft holen. Dir vorstellen, den Tod zu ohrfeigen. Und dann abschlagen. Das verlernt man nicht.«
»Ach ja?«, jammerte ich. »Dann mach du es doch, wenn es so einfach ist.«
Bohann lächelte nur milde und schob mich zu dem Platz an Deck, den er als perfekten Abschlagsort auserkoren hatte.
»Tu es für Manuolo!«, flüsterte er noch einmal in mein Ohr. Dann ließ er mich allein.
Die Wolkenspinne stand immer noch da wie ein Mahnmal der absoluten Macht, unerschütterlich neben den Mast gepflanzt. Ich fragte mich nach wie vor, mit welchen Sinnen sie uns wahrnahm.
Dann prüfte ich die Windrichtung, indem ich meine Nüstern hob. Der Wind stand günstig, Bohann hatte die Position fachmännisch gewählt. Ab jetzt musste alles sehr schnell gehen, damit ich meinen Schlag vollzogen hatte, bevor die Wolkenspinne auf mein Vorhaben aufmerksam wurde. Ich legte den Saphir auf den Eimer. Packte den Klööper fest. Nahm entschlossen meine Position ein. Holte tief Luft. Dachte daran, den Tod zu ohrfeigen. Holte noch einmal Luft. Und drosch dann den Saphir mit aller Kraft von seinem provisorischen Abschlag. Erst in diesem Augenblick wurde mir wirklich bewusst, dass es etwas vollkommen anderes ist, einen schweren Edelstein zu schlagen, als einen leichten Kraak, der speziell für diesen Zweck geschaffen ist. Der Saphir nahm eine völlig andere Flugbahn, als ich mir vorgestellt hatte. Hellgrün leuchtend durchschnitt er die Luft wie ein Pfeil, mit einem hohen zwitschernden Geräusch, das an einen Singvogel gemahnte. Die Kurve, die er über die Quoped hinweg beschrieb, würde eindeutig an der Wolkenspinne vorbeigehen – das sagten mir meine Kraakenfiekerinstinkte. Der Saphir würde sein Ziel weit verfehlen, das war vollkommen sicher. Jemand gab ein enttäuschtes Stöhnen von sich, und mein Herz sank, weil ich wusste, dass es Bohann De Bong war. Ich hatte völlig falsch abgeschlagen.
Dann kam plötzlich Wind auf. Die Bö wehte aus einer Richtung, die ich überhaupt nicht auf meiner Rechnung gehabt hatte – Nordnordost. Die Segel der Quoped wölbten sich mit einem Schlag in die entgegengesetzte Richtung. Ich musste unwillkürlich an meinen Besuch in Manuolos Werkstatt denken, als dort ein verirrter Wind vollkommen überraschend alles durcheinandergebracht hatte. Der Saphir geriet leicht ins Trudeln, sackte ein Stück ab und begab sich auf eine andere Flugbahn. Er änderte tatsächlich seinen Kurs. In Richtung Wolkenspinne.
»Ja!«, rief Bohann begeistert. »Ja!«
Der Saphir traf die Wolkenspinne mitten in ihrem fetten Leib und tauchte darin ein wie ein Vogel, der in eine Nebelbank fliegt. Ich erwartete einen bangen Augenblick lang, dass er völlig wirkungslos hindurchsegeln würde und hinten wieder herauskäme. Aber das geschah nicht.
Es geschah – nichts. Gar nichts. Die Wolkenspinne stand einfach nur da, als sei überhaupt nichts passiert. Als habe sie den Saphir nicht einmal registriert. Vielleicht schlief sie sogar. Aber das war in diesem Augenblick gleichgültig, entscheidend schien mir, dass der Saphir zwar in sie eingedrungen war, aber nicht das Geringste auszurichten schien. Ich bemerkte nicht einmal ein Zucken.
»Nun ja«, sagte Doktor De Bong enttäuscht. »Wir haben es immerhin versucht.
»Dennoch ein brillanter Schlag!«, tröstete mich Bohann. »Ich hab ja gesagt, dass du mit den Eydernorner Winden verbündet bist.«
Ich reichte ihm den Klööper. »Es war nur eine Hoffnung. Ich dachte, der Saphir hätte irgendeine Wirkung.«
»Seht nur!«, rief ein Matrose plötzlich. »Sie leuchtet.«
Wir blickten alle zur Wolkenspinnenkönigin. Im Inneren ihres Leibes, dort, wo der Saphir eingedrungen war, wetterleuchtete es grünlich. Die Gliedmaßen unter ihr zuckten kaum merklich, es knackte und knisterte in ihr. Dann bewegte sie sich plötzlich, aber ungewöhnlich zögerlich und unsicher. Zitterte sie? Aus ihrem Leib drang ein Laut, wie ich ihn bisher noch von keiner dieser Spinnen gehört hatte. Er klang weder kraftvoll noch gefährlich, weder beeindruckend noch beängstigend – in ihrer Welt war es wohl ein Winseln. Sie stakste orientierungslos auf ihren langen Wolkenrüsseln auf dem Deck hin und her, als sei sie nicht mehr Herr ihres eigenen Körpers.
Dann geriet sie ins Torkeln, wie es ihre Artgenossin am Kanal in Eydergard getan hatte. Sie drehte sich mehrmals um sich selbst und quietschte in den höchsten Tönen. Dünne blaue Blitze zuckten aus dem Wolkenleib und tanzten ziellos auf seiner wattigen Oberfläche, um dann wieder in ihren Körper einzutauchen. Wir konnten nur dastehen und staunen, wie das riesige Wolkenbiest grollend über seine eigenen Beine stolperte, wie ein Betrunkener. Das Interesse an uns schien es völlig verloren zu haben.
»Das ist eine allergische Reaktion«, rief Doktor De Bong. »Das sind Spasmen. Unkontrollierbare Krämpfe, Zuckungen – sehr typisch. Das Biest wird gerade von sich selbst überwältigt.«
»Das ist der richtige Augenblick!«, entschied Bohann. »Jetzt oder nie!«
»Kursänderung! Sofort!«, rief der Doktor und gab dem Kapitän das vereinbarte Handzeichen.
»Ruder hart Backbord!«, befahl der Kapitän, der Erste Maat wiederholte den Befehl, während er energisch am Steuerrad drehte. Die Quoped ächzte und knirschte in den Wanten und lehnte sich merklich zur Seite. Das genügte, uns alle an Bord ins Taumeln geraten zu lassen. Ein paar nicht vertäute Fässer kippten um und rollten übers Deck. Die Wolkenspinne hatte offensichtlich die Fähigkeit, ihren Körper nach Belieben zu festigen, verloren. Hilflos angelte sie nach der Takelage, die aber immer wieder durch ihre zu dünnen Wirbelfinger hindurchglitt. Nicht einmal einen Mast konnte sie greifen. Sie wankte noch einmal nach Steuerbord, nach Backbord und geriet ins Kippen. Mit atemberaubender Langsamkeit stürzte sie wie ein gefällter Baum der Länge nach über die Reling ins Meer – nur dass ein Baumstamm zehnmal schneller gefallen wäre. Sie schwebte den Wellen entgegen wie ein Schleier aus dünner Seide und verursachte befremdlicherweise keinerlei Geräusch, als sie auf dem Wasser auftraf.
Ich beugte mich gefährlich weit über die Reling, um das spektakuläre Schauspiel nicht zu verpassen. Das strampelnde und zappelnde Wolkenmonstrum in den schäumenden Wellen war ein faszinierender und beglückender, allerdings auch ein ausgesprochen flüchtiger Anblick. Denn es wurde im Handumdrehen von den ruppigen Brechern in Fetzen gerissen, ein Bein hier, ein Tentakel dort, ein Rumpfstück da. Dabei gab das Untier ein letztes schauriges Donnergurgeln von sich, das beinahe mitleiderregend war. Hier und da zuckte noch ein blauer Blitz, zischende und pfeifende Geräusche begleiteten den Zerfall. Bald sah ich nur noch dunkelgraue Blasen und Schleimpfützen, die schließlich von den Wellen verwirbelt wurden. So ging die Wolkenspinne dorthin, wo sie ursprünglich hergekommen war, in die Tiefen des Ozeans, aus dem wir alle stammen.
Tefrint und Bohann kümmerten sich um die dampfenden Hageleier des Monstrums und erledigten das, was ihr Bruder nicht mehr geschafft hatte. Sie nahmen zwei große Schaufeln, hackten die eklige Wolkenspinnenbrut in kleine Stücke und schaufelten sie in den Ozean.
»Wir sind gerettet!«, rief jemand mit deutlicher Erleichterung in der Stimme, und wir alle richteten unsere Aufmerksamkeit wieder auf die Insel. Unser Schiff war inzwischen weit genug von den letzten Wracktrümmern entfernt, so dass keine Wolkenspinne uns mehr erreichen konnte. Insofern waren wir in Sicherheit. Aber die riesige Mutterwolke über Eydernorn war jetzt in noch heftigerer Bewegung als je zuvor. Und es sah aus, als brauchte sie nur einen ihrer langen Wirbelfinger auszustrecken, um uns zu vernichten.
»Gerettet?«, fragte der Doktor höhnisch. »Das glaube ich erst, wenn ich meinen Fuß aufs zamonische Festland gesetzt habe.«
Da konnte ich ihm nur beipflichten. Wir befanden uns immer noch in Inselnähe und hatten einen langen Weg durch gefährliche See vor uns.
Die Ereignisse an Bord der Quoped hatten meine Sinne und Gedanken derart in Anspruch genommen, dass ich darüber das Schicksal von Eydernorn vergessen hatte. Ein Blick auf die Insel genügte, und ich sah, hörte und roch, wie bedrohlich die Situation unterhalb der Wolke war. Nun rumorten nicht nur der Numatsi, sondern alle drei Vulkane ohne Unterlass, der giftige Schwefelgeruch ihrer Rauchsäulen wurde bis zu uns an Bord getragen. Mittlerweile begann die Abenddämmerung, aber die Große Wolke und die Vulkanasche schufen Lichtverhältnisse, die jeder Tageszeit spotteten. Ich hatte noch nie so einen fremdartigen Himmel, solch eine unwirkliche Szenerie gesehen. Nicht einmal in meinen schlimmsten Alpträumen.
»Das Feuerwerk wird gleich losgehen«, sagte der Doktor nervös. »Wir sollten uns beeilen, hier zu verschwinden.«
Aber das war leicht dahingesagt. Die Wolkenspinne hatte bei ihrem Fall ins Meer mehrere Segel zerfetzt, und so blieb uns nicht viel anderes übrig, als darauf zu warten, bis die emsigen Matrosen mit ihren Reparaturarbeiten fertig waren. Solange konnten wir Passagiere nur an der Reling stehen und Richtung Eydernorn starren. Nur einige wenige Privilegierte wie der Kapitän besaßen ein Fernrohr, um die Ereignisse genauer zu betrachten.
»Es beginnt«, sagte Bohann fast andächtig, als eine einzelne Feuerwerksrakete in den Himmel stieg und in einer bescheidenen blaugrünen Explosion weit unter der Wolke zerplatzte. Das dazugehörende pfeifende Geräusch erreichte uns nur wenig später. Dies war offensichtlich das Startsignal. Dann begann eines der üblichen Feuerwerke, ganz ähnlich dem, das ich seinerzeit bei meiner Hinfahrt nach Eydernorn vom Meer aus bestaunt hatte. Zuerst sah ich nur vereinzelte Finger aus Licht, die über den von der Wolke verdunkelten Himmel wankten, dann ein paar bescheidene Explosionen, die farbige Staubwölkchen aufblühen ließen. Funkensprühende Raketen, die Lichtkonfetti streuten, dazu gemächlich aufsteigende und knisternde Leuchtkugeln mit ein wenig Theaterdonner, dumpfes Geknalle und schrilles Geheule und Gepfeife – alles wie bei einem ganz gewöhnlichen Feuerwerk.
Alle an Bord, die nicht mit Reparaturarbeiten beschäftigt waren, hielten den Atem an. Niemand sprach auch nur ein einziges Wort. Dann ein paar heftigere Detonationen, wie Kanonenschüsse, die lange übers Meer rollten. Stille. Selbst die Möwen stellten für ein paar Herzschläge ihr Gekreisch ein.
»Ist das alles?«, fragte ich verständnislos. »Ein ganz normales Feuerwerk?«
»Nein«, antwortete der Doktor lächelnd. »Das wird kein normales Feuerwerk. Ganz sicher nicht.«
Plötzlich schossen von mehreren Punkten der Insel orangefarbene Lichtbündel steil nach oben, die aussahen wie flüssige Lava, aber sie stammten garantiert nicht aus einem Vulkan. Von meinem Standpunkt konnte ich nicht ausmachen, von welchen Punkten der Insel sie ausgingen. Sie trafen die Wolke wie Geschosse in ihren mächtigen Bauch an vielleicht einem Dutzend Stellen. Überall, wo sie eindrangen, entstanden große runde Löcher, die sich aber rasch wieder schlossen. So etwas hatte ich noch nie gesehen und wahrscheinlich auch sonst niemand an Bord.
»Sie feuern Lavaraketen!«, flüsterte Tefrint. »Ich wusste nicht, dass sie die schon fertig entwickelt haben.«
Die Wolke zeigte sich davon völlig unbeeindruckt. Ich vernahm nur ein fernes Grollen, wie von einem riesigen Tier, das hinter dem Horizont lungert, hier und da wetterleuchtete es in ihr.
»Das war nur der Auftakt!«, rief Bohann. »Die Ouvertüre!«
Die Antwort der Wolke ließ lange auf sich warten. Kein weiterer Laut, keinerlei Bewegung. Die majestätische Reaktion eines Elefanten, der von einer Mücke belästigt wird. Wir alle verharrten in gespannter Erwartung. Niemand an Bord der Quoped wagte zu sprechen.
Und dann tat es urplötzlich einen Donnerschlag, wie ich noch nie einen gehört hatte – nicht einmal, als ich mich selbst innerhalb der Wolke befunden hatte. Die Schallwelle war so stark, dass die Bullaugen der Quoped barsten. Ich sah Möwen, die vor Schreck tot ins Meer stürzten. Alle an Deck hielten sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zu, und noch lange rollte das Echo dieses einzigen Donnerschlags über das Meer. Wie mochte der sich auf der Insel angehört haben? Sicherlich war dort jede noch intakte Glasscheibe zersplittert.
Der Kapitän überreichte mir sein Fernrohr, vielleicht, weil er nicht mehr hinsehen wollte. Als ich widerwillig hindurchblickte, konnte ich am Strand Unmengen von Wolkenspinnen sehen, die sich überall drängelten. Aus der Wolke mussten in der Zwischenzeit tausende von Eiern herabgehagelt sein, und nun überfluteten die Ungetüme die Insel wie ein Heuschreckenschwarm. Schon jetzt waren sie die neuen Bewohner der Insel, die alles beherrschende Spezies. Nicht auszudenken, was sie dort gerade überall anrichteten.
Angewidert lenkte ich den Blick durchs Fernrohr auf das Geschehen am Himmel. Die Wolke schien sich in einer Veränderungsekstase zu befinden, denn sie wechselte beinahe im Sekundentakt Form und Farbe. Sie knüllte sich zusammen, dehnte sich aus, bebte und verknotete sich, alles zur gleichen Zeit an verschiedenen Stellen ihres Riesenleibs. Waren das Anzeichen von Schwäche oder von Stärke? Sturzbäche aus schwarzem Regen fielen aus ihr herab, gleichzeitig wetterleuchtete es in ihr so hell wie nie zuvor.
»Ich habe sie noch nie so unruhig gesehen«, sagte der Doktor.
Der Himmel hatte vergessen, ob Tag oder Nacht war. Blendende Helligkeit wechselte sich hektisch ab mit tiefster Schwärze, und dazwischen immer wieder Lichtexplosionen, die sich entfalteten wie vielfarbige Blüten. Tausende von Blitzen zuckten aus der Wolke herab zur Erde, kreuz und quer, ein Gitternetz aus blendendem Licht, das den ganzen Himmel überspannte.
»Jetzt geht es richtig los!«, sagte Tefrint. »Wir sollten wirklich zusehen, dass wir hier wegkommen.«
Was kurz darauf folgte, ist schwer in Worte oder Bilder zu fassen, mein Freund! Selbst jetzt zittert mir dabei die Feder, und Schweiß tritt auf meine Stirn.
Als nächstes hörte ich ein beunruhigendes Geräusch, das anscheinend weder von der Wolke noch von den Leuchttürmen verursacht wurde. War es die Insel selbst, die in einem verzweifelten unterirdischen Schmerzenslaut aufstöhnte?
»Die Vulkane werden gleich erst richtig ausbrechen!«, rief jemand. »Alle drei. Wir sollten mit dem lossegeln, was wir hissen können.«
Der Kapitän war anderer Meinung. Er versuchte, die Passagiere zu überzeugen, dass es noch nicht so weit sei, dass man besser die Reparatur abwarten solle. »Das Schiff muss ja auch manövrierfähig sein.« Eine heftige Diskussion entbrannte.
Ich fragte mich voller Sorge, wie es um Queekwigg stand. Ob er immer noch dabei war, seine Aufgabe zu erfüllen. Oder ob er vielleicht längst gescheitert war? Hatte er seine Fracht abgeliefert, oder hatten die Blitzquallen seine Mission vereitelt? Alles war möglich. Ich suchte die Wolke mit dem Fernrohr intensiv nach Hinweisen ab, ohne Erfolg.
Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Insel. Ein breiter, gewundener Strom aus vielfarbigem Licht strebte von der Insel himmelwärts, er funkelte und strahlte wie ein gigantischer Irrlichterschwarm. Er kam offensichtlich aus der Gegend des Hölzernen Turms. War das Florestans geheime Insektenarmee, die zur Wolke emporstieg? Wenn ja, was konnten die winzigen Insekten in dem gigantischen Monstrum anrichten? Das Ganze sah aus wie ein Regenbogen, der zu einem mäandernden Fluss geworden ist und von der Erde zum Himmel will.
Die Wolke schien vor diesem Schwarm allerdings gebührend Respekt zu haben, denn sie reagierte umgehend. Sie ließ dort, wo die Leuchtkäfer aufstiegen, ihrerseits Schwärme von schwarzen Nebelquallen herabregnen, die sofort begannen, mit ihren Tentakeln nach den Irrlichtern zu angeln und sie zu verschlingen. Es sah aus wie dunkle Tinte, die sich in einem Aquarium ausbreitet. Dennoch gelang es Unmengen der Irrlichter, in den Wolkenleib einzudringen. Was sie darin anrichteten, konnte ich leider nicht sehen, da half mir auch das Fernrohr nichts.
»Bakterien sind ebenfalls sehr klein«, bemerkte der Doktor in meine Richtung, als habe er meine Gedanken erraten. »Sie können trotzdem einen Körper, der millionenfach größer ist als sie selbst, enorm schwächen und schädigen, ja sogar töten. Florestans speziell gezüchtete Irrlichter können ein Sekret absondern, das praktisch jede Substanz angreift und zerstört. Darf ich mal einen Blick durch das Fernrohr werfen?«
Ich übergab es ihm und betrachtete die Szenerie nur noch mit bloßem Auge. Von der Insel stiegen wieder und wieder Leuchtspuren empor, explodierten auf ihrem Zenit und sprenkelten den gerade dunklen Himmel mit gelben, grünen, roten und blauen Sternen. Das war das traditionelle Feuerwerk, das die Wolke seit je in Schach gehalten hatte. Aber nun machte es den Eindruck, als habe es seine Wirkung eingebüßt. Je heller die Feuerwerkskörper das Firmament erleuchteten, desto größer schien das Ungetüm zu werden. Oder war es nur meine Furcht, die mir diesen Eindruck verschaffte?
»Sehe ich das richtig, dass die Wolke immer tiefer herabsinkt?«, fragte ich besorgt. »Oder bilde ich mir das nur ein?« Ich musste an Nephelenias Frage in unserem ersten Gespräch denken: Sind Sie sicher, dass Wolken niemals zu uns herabkommen können? Damals hatte ich sie für etwas überkandidelt gehalten.
»Ich befürchte, Sie haben das richtig beobachtet«, antwortete Tefrint. »Sie gehorcht nun überhaupt keinen Naturgesetzen mehr.«
»Was würde geschehen, wenn die Wolke die Insel tatsächlich berührt?«, fragte ich.
»Wollen Sie das wirklich wissen? Vermutlich öffnen sich dann die Schleusen der Unterwelt. Mit allen Konsequenzen. Wir können von Glück sagen, dass wir nicht mehr auf der Insel sind.«
Da, plötzlich ein gewaltiger Knall! Er schien von der Nordspitze der Insel auszugehen, wo ein blendend weißer Lichtball aufflammte, um den sich eine graue Rauchwolke ausbreitete. Aus dem Kern der Explosion stieg etwas empor, das auf den ersten Blick aussah wie eine übergroße Feuerwerksrakete – und auf den zweiten wie etwas, das ich sehr gut kannte! Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da sah – und entriss in meiner Aufregung Tefrint das Fernrohr und hielt es mit zitternder Klaue an mein Auge.
Ich hatte mich nicht geirrt, mein bester Hachmed, auch wenn es buchstäblich unfassbar war! Es war der Weiße Turm der Schreckse, ihr riesiges Monument aus Möwenkot, das dort donnernd und dröhnend in die Höhe stieg und eine gewaltige Dampf- und Qualmwolke hinter sich herzog.
»Sie hat es tatsächlich getan!«, rief Tefrint begeistert, während er mit vier Fäusten auf die Reling hämmerte. »Die Leuchtturmrakete! Sie hat es wirklich geschafft!«
»Ja!«, schrie Bohann. »Ja! Izanea hat es vollbracht!«
Das war es also, was die Schreckse in ihrem Keller getrieben hatte, sie hatte den Antrieb für die gewaltigste Rakete der Eydernorner Pharologischen Gesellschaft entwickelt – und soeben gezündet. Sie hatte ein gigantisches Geschoss in den Himmel gejagt, das zum Bersten gefüllt war mit hochexplosivem Möwenkot! Der Weiße Turm, der nun ein riesiger Flugkörper war, stieg fauchend und dröhnend höher und höher und ließ eine Skulptur aus wucherndem Qualm von unvergleichlicher Schönheit hinter sich. Schon bald hatte der Raketenturm der Schreckse den Zenit des übrigen Feuerwerks überstiegen und drang in die Sphäre vor, die zum Hoheitsbereich der Großen Wolke gehörte. Dort angelangt, erfolgte zu unser aller Überraschung eine zweite ohrenbetäubende Detonation, und das untere Drittel der Schrecksenrakete zerbarst in einer gewaltigen weißen Staubwolke. Die Spitze und der verbliebene Rest des Turmes stießen nach dieser gewaltigen Zündung mit noch mehr Schub in den Bauch des Ungetüms hinein. Und schließlich, als von dem Geschoss nichts mehr zu sehen war, erfolgte eine dritte Detonation, welche die Riesenwolke von innen strahlend hell aufglühen ließ.
Alle an Bord brachen in Begeisterungsrufe aus, Applaus brandete auf. Es sah aus, als sei in der Wolke eine Sonne aufgegangen.
»Seht nur!«, rief Bohann begeistert und deutete nach oben. »Das Monstrum ist verletzt!«
Er hatte recht! Im Bauch der Wolke klaffte dort, wo die Turmrakete eingedrungen war, ein riesiges Loch, das einen Einblick ins Innere des Monsters gewährte. Erstaunlicherweise schloss sich die Öffnung nicht wieder, sondern schien immer weiter aufzureißen.
»Sie kann die Wunde nicht schließen«, staunte der Doktor. »Vielleicht besitzt sie nicht mehr die Kraft, sich selbst zu heilen.«
Fetter, brauner Qualm drang aus dem Loch.
»Die Schreckse hat die Wolke in Brand gesetzt!«, rief Tefrint. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie brennen kann.«
Vielleicht, dachte ich, sind es die Kreaturen in der Halle allen Lebens, die sich entzündet haben. Womöglich war es auch eine Gasexplosion tief in den Gedärmen der Wolke. Aber das spielte jetzt alles keine Rolle. Entscheidend war, dass es der Schreckse gelungen war, etwas in der Wolke empfindlich zu verletzen.
An den Rändern der klaffenden Wunde tauchten nun zahllose bunte und tanzende Lichter auf, die sich dort festsetzten. Zuerst sah es aus wie Funkenflug, aber dann erinnerten mich die Lichterscheinungen an das, was aus Florestans Turm aufgestiegen war. Waren das etwa Schwärme von Leuchtkäfern?
»Florestans Bakterien sind an ihrem Ziel angekommen. Sie verteilen ihr zersetzendes Sekret. Und es zeigt Wirkung«, diagnostizierte der Doktor mit vernehmbarer Genugtuung. »Das sieht mir nach einem veritablen Wundbrand aus.«
Was auch immer die Irrlichter dort anrichteten, der Wolke schien es gar nicht zu behagen. Sie wölbte und blähte sich rund um das Loch wie unter heftigen Krämpfen, und ihr permanentes Gedonner klang nicht mehr wütend und gefährlich, sondern kläglich und erbärmlich.
Und da! Ein blendend weißer und schnurgerader Lichtstrahl schoss von der Insel hoch wie ein Blitz, der in die falsche Richtung fährt. Ich hatte diesen Strahl schon einmal gesehen, als ich den Chronosturm besichtigt hatte! Und von dort schien er auch diesmal auszugehen. Er fuhr mitten in den wabernden Wolkenleib hinein und erzeugte da, wo er auftraf, Unmengen von kochendem Dampf, der in alle Richtungen wallte.
»Ein linearer Blitz!«, rief Tefrint. »Der Wärter des Chronosturms hat lange damit experimentiert. Eydernorner Elektrizität trifft Leuchtturmwärtergenialität! Er ist zigtausendmal stärker als ein herkömmlicher Blitz. Nun bekommt die Wolke etwas von ihrer eigenen Medizin zu schmecken!«
Die Wolke krümmte sich rumpelnd und blitzend unter diesem neuen Angriff, der eine weitere große Wunde in sie hineinfräste. Ganze Bereiche ihres wattigen Leibes verdampften zischend. Darauf reagierte sie aber diesmal unvermittelt. Ein Wolkenwirbel löste sich aus ihrer Bauchdecke, peitschte mehrmals hin und her, straffte sich und fuhr genau auf die Stelle Eydernorns herab, von welcher der Lichtstrahl ausgegangen war. Der lineare Blitz verlöschte augenblicklich.
»Sie hat den Chronosturm zerstört«, bemerkte Tefrint düster. »Aber er hat zuvor noch genügend Schaden angerichtet. Seht nur, die Wolke regnet ihr schwarzes Blut! Vielleicht hat er eine Arterie getroffen.«
Tatsächlich sprudelte an der Stelle, wo der Lichtstrahl eingedrungen war, eine dunkle Flüssigkeit aus der Wolke, die auf dem Weg zur Insel bald zerstäubte und als feiner, grauer Regen niederging.
»Nephelenia hat mit fast all ihren wolkenphysiologischen Spekulationen recht behalten«, bemerkte Tefrint. »Die Wolke ist ein lebendiges Wesen. Sie blutet, wenn man sie sticht. Sie ist wie ein Raubtier, das man verletzen kann. Ein sehr großes, fremdartiges Raubtier, aber eben kein unsterblicher Dämon.«
Wie zur Antwort geriet das Wolkenungetüm auf einmal in eine wahrlich beängstigende Bewegung. Während sie tiefer und tiefer auf Eydernorn hinabsank, wuchsen aus ihrem geblähten und verwundeten Bauch zunächst nur einige wenige, dann immer mehr und mehr Tentakelwirbel, die sich rasch in Länge und Breite ausdehnten und der Insel gierig entgegenstreckten. Schon bald hatten einige von ihnen den Boden erreicht und wirbelten schwarze Lavabrocken und Dünensand in die Luft. Die anderen folgten rasch, zwischen den zahlreichen Wirbelstürmen entluden sich immer mehr Blitze. Das Monstrum sah auf seinen Sturmbeinen bald selber aus wie eine gigantische Wolkenspinne, wie die Königin aller Königinnen, die sich brutal am Inselkorpus festsaugte, um ihn nie wieder loszulassen. Die Große Wolke war auf Eydernorn gelandet! Die Insel der tausend Leuchttürme und die Wolke der tausend Wirbelstürme – schließlich hatten sie zueinandergefunden.
»Das ist das Ende!«, rief jemand.
»Oh nein«, entgegnete Doktor De Bong. »Das ist erst der Anfang.«
Das immer lauter werdende Dröhnen der zahllosen Wirbelstürme wurde vom Wind zu uns herübergetragen und gab mir einen akustischen Eindruck davon, was sie auf der Insel anrichteten. Ein einziger der Tornados hätte sicherlich vollkommen genügt, um Eydergard auszuradieren – aber es waren bereits hunderte. Ich sah, wie in der Ferne Scheunen, Dächer und ganze Häuser in die Luft gewirbelt wurden. Der Anblick war so schwer zu ertragen, dass ich das Fernrohr entmutigt sinken ließ. Wie die Wolke schließlich doch noch triumphierte, wollte ich nicht mehr mit ansehen.
»Sie sollten das alles bis zum Ende durchhalten«, empfahl mir Tefrint.
»Warum?«, fragte ich verständnislos. »Was soll daran sehenswert sein, wie die Wirbel die Insel zerfetzen?«
»Weil der Triumph sich vielleicht doch noch auf unsere Seite neigt. Auch wenn es ein bitterer Sieg wird.«
Ich wusste zwar nicht, wovon er da redete, hob das Fernrohr aber wieder ans Auge. Welchen Triumph meinte er? Ich konnte nur kolossale Wirbel erblicken, die alles zermalmten, was ihnen im Weg stand. Ich sah die wütend wogende Riesenwolke darüber, welche die Trümmer gierig in sich hineinsog. Ich sah nur Tod und Zerstörung.
Aber dann – ein mächtiger Knall! Ich lenkte instinktiv das Fernrohr in die Richtung des Geräusches und sah an der mittleren Südküste eine graue Qualmwolke aufquellen, die sich rasch ausdehnte.
»Es geht los«, riefen Tefrint und Bohann wie aus einem Mund.
»Was war das?«, fragte ich verdutzt. »Eine Vulkaneruption?«
»Noch nicht. Das war nur die Sprengung des ersten Leuchtturmes«, antwortete Tefrint. »Von nun an wird alles sehr schnell gehen. Schlag auf Schlag.«
»Es wird viele solcher Explosionen geben«, ergänzte Bohann. »Hoffentlich über hundert.«
»Über hundert? Was soll das heißen?«, fragte ich verwirrt. »Dass sämtliche Leuchttürme gesprengt werden?«
Tefrint und Bohann nickten. »So ist es. Die Leuchtturmwärter sprengen nun ihre Türme«, kündigte der Doktor an. »Und zwar einen nach dem anderen. Es wird wie ein Lauffeuer rings um die Insel gehen. Das letzte Feuerwerk! Aber es sind nicht nur die Türme. Alle haben ihre unterirdischen Vulkanhöhlen mit Sprengstoffen jeder Art vollgestopft. Das ergibt eine Kettenreaktion von katastrophalem Ausmaß. Sie werden den Lavasockel Eydernorns zerstören und damit die Insel versenken. Der daraus entstehende Wirbel und sein Sog werden die Wolke mit sich in die Tiefe zerren. Dann wird sich der riesige Krater mit Meerwasser füllen, und mit der Wolke wird es endgültig vorbei sein. Das ist jedenfalls der Plan. Jetzt muss er nur noch aufgehen. Bisher war alles nur die Ouvertüre.«
»Dann werden alle sterben!«, rief ich entsetzt.
»Ja«, sagte Tefrint. »Das ist ihr unabwendbares Schicksal. Eigentlich war es so geplant, dass sich nur die Leuchtturmwärter selber opfern. Und einige ihrer Helfer, die fast alle Küstengnome sind. Aber in der letzten Zeit haben sich die Ereignisse derart überschlagen, dass wir die Insel nicht mehr so evakuieren konnten, wie es geplant war. Es begann mit dem großen Orkan, der sämtliche Schiffe beschädigt und manövrierunfähig gemacht hat, setzte sich mit den Erdbeben fort und endete mit den vulkanischen Eruptionen. Die große Flutwelle und die Frostfratte vollendeten das Zerstörungswerk an den Schiffen, nur die Quoped blieb durch ein gnädiges Schicksal verschont. Es ist beinahe so, als wollte die Insel sich selber opfern. Gryphius’ kartographische Reise in die Wolke hat uns das letzte Signal gegeben: Wir wussten seitdem, dass die Invasion der Wolke kurz bevorstand. Dass es nicht mehr nur fünf vor zwölf war, sondern längst zwölf geschlagen hatte.« Tefrint hatte Tränen in den Augen. »Aber diesmal«, ergänzte er mit bebender Stimme, »werden unsere einhundertundelf Leuchttürme wirklich aussehen wie tausend, wenn sie ihr letztes Feuer entfachen.«
Wir sahen uns noch einmal lange in die Augen und blickten dann zur Insel. Für das, was dort als nächstes geschah, benötigte ich kein Fernrohr mehr.
Schon erfolgte die nächste Explosion. Und die nächste. Und noch eine. Und noch eine. An unterschiedlichen Stellen der Insel stiegen schwarze Rauchsäulen empor. Dann begann eine Kette von mächtigen Explosionen, die kurz aufeinanderfolgten und nicht mehr aufhören wollten – die Leuchtturmwärter von Eydernorn hatten ihre letzte und fürchterlichste Waffe gezündet. Irgendwo bei fünfzig hörte ich auf, die Detonationen zu zählen. Es sollten noch viele mehr werden.
Als die letzte Detonation verklungen war, wurde es für einen sehr langen und unheimlichen Zeitraum völlig still. Niemand an Bord sprach ein Wort, selbst die Wolke hatte mit ihrem anhaltenden Donnern und Rumpeln ausgesetzt. Nur der Eydernorner Wind pfiff durch die Wanten und ließ die jetzt gehissten Segel knattern.
Schließlich vernahm ich ein anschwellendes Bersten und Krachen und Knirschen – es klang wie ein Lawinenabgang und ein Dammbruch zugleich, ein vielfältiges, ungeheuerliches Gurgeln und Rauschen wie von tausend Sturzbächen und Wasserfällen. Jeder an Bord wusste, was diese Geräusche verursachte: Der Lavasockel von Eydernorn war an vielen Stellen zerbrochen, und nun rauschte das Meerwasser in gigantischen Mengen in die poröse Unterwelt der Insel und sprengte sie Stück für Stück weiter auseinander. Aber dies war, wie Tefrint vorausgesagt hatte, tatsächlich nur der Anfang. Denn erst, als die eiskalten Wassermassen auf die flüssige Lava unterhalb der Insel trafen, brach das Inferno aus. Kochend heiße Dampfsäulen schossen schnurgerade aus der Inselmitte in die wogende Wolke, sie führten riesige schwarze und rotglühende Lavabrocken mit sich. Massen von gelb und rot glühender Magma brachen an der Küstenlinie aus den schwarzen Felsen hervor und wälzten sich laut zischend ins brodelnde Meer. Dampf, Rauch, Qualm und Nebel in allen Abstufungen von Weiß bis Schwarz hüllten die Insel ein wie ein verwunschenes Märchenland.
Wenn das Firmament herabsinkt, öffnen sich die Schleusen der Unterwelt! Es wird ein rotgoldener Strudel sein, der Eydernorn verschlingt! Und der Himmel wird vergessen, ob Tag oder Nacht ist, wenn rote Feuerschlangen mit schwarzen Nebelquallen ringen um das Ende vom Ende! Alles wird vergehen in Schwefelschlünden aus fließendem Licht. Das ist der Tag, wenn Erde, Feuer, Wasser und Luft eins werden, um das zu vernichten, was das Ende allen Lebens sein wollte.
So hatte die Schreckse Izanea Anazazi diese Ereignisse vorhergesagt – jetzt erst begriff ich ihre hellseherischen Worte. Aber was wirklich geschah, mein bester Hachmed, lässt sich mit unserem unzulänglichen Vokabular nicht zureichend ausdrücken.
Der Bereich zwischen Wolke und Insel war zu einem einzigen Schlachtfeld geworden. Gelbe und rote Feuerteufel tanzten wild durcheinander in wulstigem braunem Schwefelqualm, Lichtschwerter kreuzten sich mit Flammenlanzen, vielfarbige Explosionen überall.
Die Wolke faltete sich an einer Stelle zusammen wie ein Akkordeon, um sich an einer anderen Stelle aufzublähen wie ein Ballon. Sie verzerrte und entzerrte sich wieder, quoll auseinander und zog sich wieder zusammen wie ein Schwamm, der von einer Riesenfaust gequetscht wird. Ihre akustischen Hervorbringungen erreichten ein Ausmaß, das nichts mehr mit weltlichen Geräuschen gemeinsam hatte. Es war ein schrilles und dissonantes Kreischen, wie von Chören gequälter Geister und Dämonen, die ihre eigene Furcht übertönen wollten, im Rhythmus von immer schneller aufeinanderfolgenden Donnerschlägen. Ich und alle anderen an Bord hielten sich entsetzt die Ohren zu.
»Das ist kein Triumphgesang!«, brüllte Tefrint, und in diesem Augenblick wusste ich, dass Queekwigg seine Mission erfüllt hatte! Das war der Padparadschasaphir, der nun endlich seine vernichtende Wirkung im Hirn der Wolke entfaltete. Sie befand sich in Agonie, weil ihr Innerstes zerrissen worden war.
Einem sterbenden Eisberg ähnlich rutschte ein Teil der Insel nach dem anderen krachend ins Meer, was gigantische Wellen auslöste, deren Ausläufer uns sicher bald erreichen würden.
»Eydernorn stirbt«, riefen die De Bongs gleichzeitig. Die Insel versank mit allem, was sich auf ihr, über ihr, um sie herum und in ihren Küstengewässern befand: Eydergard und Klein-Hafing, die Sturmhöhen und die Nordklippen, der Haferstrand und die Orkanmühlen, alle Strände und Dünen, Norning und die Stadt ohne Türen, die Orkanmühlen, das Museum, die Schiefe Reihe und das Sanatorium.
Ein gigantischer Strudel aus Magma, Steinen, Wasser, Qualm und Dampf war entstanden, und darüber tobte verzweifelt die Wolke, die ihrem unabänderlichen Schicksal immer noch trotzen wollte. Aber sie war schon viel zu tief herabgesunken in ihrer Gier nach Zerstörung und hatte sich so unauflöslich mit dem Inselkörper verkuppelt, dass es kein Entrinnen mehr für sie gab. Eydernorn zerrte sie mit sich hinab in den Strudel, es waren ihre eigenen Tentakel, die sich an vielen Ecken und Enden der Insel festgesaugt hatten, die ihr nun zum Verhängnis wurden.
Eine riesige kreisrunde Woge aus schwarzem Schaum entstand rings um das qualmende Loch im Meer, das einmal Eydernorn gewesen war. Zuerst war die Woge flach, dann wuchs sie, während sie sich nach allen Seiten ausbreitete, immer höher und höher. Die zahllosen Möwen, die mit ihr zu uns herflatterten, kreischten wie von Sinnen.
Der Meeresspiegel hob sich um die mehrfache Höhe der Quoped, unser Schiff wurde wie von einer Riesenfaust ergriffen und mitgetragen. Der alte Kahn ächzte nur in den Wanten, aber mich und alle anderen riss es von den Beinen, Fässer und Kisten kollerten und rutschten auf Deck herum. Wir wurden kilometerweit ins Meer hinaus verfrachtet, dann war die unfreiwillige Fahrt schon wieder vorbei. Rasch rappelten wir uns auf und drängelten uns wieder an der Reling, um zu sehen, was geblieben war.
Wo einst Eydernorn gelegen hatte, stieg nun eine riesige Säule aus weißem Dampf empor. Es war, als teilte sie den Himmel in zwei Teile, als habe der Horizont einen gewaltigen Riss. Die Insel Eydernorn und ihr böser Geist, die beide vor Millionen von Jahren emporgestiegen waren, waren nun gemeinsam wieder dorthin zurückgekehrt, woher sie stammten – auf den Grund des Meeres.
So bitter und verlustreich für beide Seiten, mein bester Hachmed, endete die letzte Schlacht um Eydernorn, mir fehlen noch immer die Worte, um meiner Trauer Ausdruck zu verleihen.
Niemand sprach ein Wort. Um irgendetwas zu tun, verteilten wir uns an Bord des Schiffes und suchten nach Aufgaben, die unserer bevorstehenden Reise zum Festland dienlich sein konnten. Die Matrosen kletterten in die Wanten, um die reparierten Segel zu setzen, Passagiere räumten das Deck auf. Ich selbst irrte ziellos herum und begann schließlich, ein herumliegendes Tau aufzurollen.
Es war das Kreischen der Seevögel, das mich alarmierte. Dann vernahm ich ein heftiges Brausen in der Luft, wie von einem unvermittelt hereinbrechenden Sturm. Wir alle blickten erschrocken nach oben in der schrecklichen Erwartung, dass die Wolke vielleicht doch noch einen allerletzten Tentakel zu uns hatte ausstrecken können, um uns mit ins Verderben zu reißen.
Aber was wir dort am Firmament sahen, war kein Wolkenphänomen. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Meteor aus dem Weltall, der vom Himmel fiel, schwarzfleckig und glühend orange, und eine lange, graue Rauchfahne hinter sich ließ. Aber der Rauch beschrieb eine Parabel zur versunkenen Insel Eydernorn, woraus ich schloss, dass es ein Lavabrocken sein musste. Vielleicht der letzte, den der Supervulkan ausgespien hatte.
Dann ging alles sehr, sehr schnell: Zuerst wurde die Luft nur etwas wärmer, dann glühend heiß, die Welt um mich herum wurde in orangenes Licht getaucht – und schon schlug das glühende Geschoss, so groß wie ein Haus, mitten in der Quoped ein. Mit einem Schlag war wohl mindestens die Hälfte der Besatzung ausgelöscht. Das Schiff brach in zwei Hälften, und ich wurde hoch, sehr hoch in die Luft geschleudert und beschrieb nun selber eine Parabel, die mich zuerst gen Himmel sandte und schließlich weit entfernt im Meer einschlagen ließ. Ich verlor das Bewusstsein.