Kaum hatte ich den letzten Satz des vorherigen Briefes geschrieben, mein lieber Hachmed, da geschah genau das, was darin stand: Ich verlor das Bewusstsein. Ob aus totaler Erschöpfung oder übermäßiger Erregung bei der Niederschrift der letzten Ereignisse, weiß ich nicht. Ich konnte jedenfalls gerade noch zu meinem Hotelbett torkeln, hineinstürzen und in einen von Fieberträumen durchsetzten Erschöpfungsschlaf fallen, der ganze drei Tage währte und in dem ich immer wieder von alptraumhaften Szenen heimgesucht wurde: meine kartographische Reise bei Gryphius, mein Leuchtturmmoment auf der Schwarzen Kerze, das Umherirren im Labyrinth der Stadt ohne Türen, der Flug mit dem Sphärentaucher, der Sturz aus der Wolke, die Flucht vor den Wolkenspinnen, der Untergang Eydernorns. Und dazwischen immer wieder glasklare Bilder der Leuchttürme von Eydernorn, so schön und schmerzhaft real, als würden sie ein neues und ewiges Leben in meinen Träumen beginnen.
Als ich schließlich wieder erwachte, konnte ich mich gestärkt aus dem Bett erheben und frühstückte so gierig wie ein Verhungernder. Jetzt kann ich die Niederschrift fortsetzen. Wie knapp ich während dieses Schlafes dem Tod entronnen bin, vermag ich nicht zu sagen. Ich fühle mich jedenfalls wie neugeboren.
Was mich vermutlich vor dem Ertrinkungstod bewahrt hat, sind meine Briefe an dich, mein bester Hachmed! Denn als ich wieder zu mir kam, trieb ich an der Wasseroberfläche, auf dem Rücken liegend. In meinem Genick spürte ich etwas, das meinen Kopf wie ein Rettungskissen über Wasser hielt. Es war der wasserdichte Kapitänsbeutel mit den Briefen und Skizzen auf meinem Rücken, der eine Luftblase enthielt, die mich wahrscheinlich nach dem Einschlag wieder an die Meeresoberfläche zurückgebracht und dort gehalten hatte, während ich ohnmächtig war. Einen dreifachen Toast auf unsere Brieffreundschaft!
Aber was mich erst richtig wieder zurück ins Leben gebracht hat, war – ein gewaltiger Niesanfall. Meine Allergie! Meine körperliche Abneigung gegen das Eydernorner Meerwasser. Ich nieste und prustete, rotzte und schnaufte wie ein auftauchendes Walross, bis es urplötzlich wieder vorbei war. Es klingt absurd, mein bester Hachmed, aber das war es, was mich schließlich klar denken ließ. Nachdem sich meine Nüstern endlich halbwegs wieder beruhigt hatten, sah ich mich schniefend danach um, ob außer mir noch jemand überlebt hatte. Alles, was ich sehen konnte, waren brennende Wrackteile und Segelfetzen, die auf dem Wasser trieben. Ich rief nach Tefrint und Bohann und erhielt keine Antwort, auch von sonst niemandem.
Dort, wo das superheiße Geschoss eingeschlagen war, kochte das Meer, eine Dampfsäule reichte hoch in den Himmel. War ich tatsächlich der Einzige, der den Einschlag überlebt hatte? Als der Brocken in das Schiff gekracht war, stand ich gerade so an Deck, dass mich die berstende Planke unter mir durch bloße Hebelkraft so schnell und so weit vom Schiff weg katapultiert hatte, dass ich nichts von der unbarmherzigen und alles zerstörenden Flammengewalt abbekam, die sicher vielen zum Verhängnis geworden war. Als die Quoped unterging, war ich nicht vom Strudel in die Tiefe gerissen und auch nicht im Wasser gekocht worden. Überall trieben tote Fische und Leichen auf der Meeresoberfläche. Ich war tatsächlich auf mehrfache Weise und schon wieder dem Tod entronnen.
Nach einer weiteren Weile vergeblichen Rufens musste ich befürchten, dass ich tatsächlich der einzige Überlebende war. Ich trieb völlig allein und hilflos in der Eydernorner See, in der schrecklichen Gewissheit, dass kein festes Land in der Nähe mehr existierte, auf das ich mich schwimmend hätte retten können.
Die Wrackteile, die nicht in die Tiefe gerissen worden waren, standen immer noch in Flammen, waren also völlig ungeeignet, um mich daran festzuklammern. Mir blieb nur der Kapitänsbeutel, der mich notdürftig über Wasser hielt.
Das einzig Tröstliche an diesem tiefsten Punkt meiner bisherigen Existenz war die ungewöhnliche Wärme des mich umgebenden Wassers. Selbst so weit entfernt vom Einschlagsort des Lavabrockens war es so angenehm temperiert wie ein Wannenbad im SAFÜAT . Unter normalen Umständen wäre die Temperatur nahe am Gefrierpunkt gewesen, deshalb würde es sicher nicht mehr lange dauern, bis die Kälte wieder die Oberhand gewann. Ein langsamer und qualvoller Kältetod war mir also sicher.
Dann hörte ich die Strandlöper.
Aber natürlich hörte ich Strandlöper, warum denn auch nicht? Ich befand mich in einem Zustand absoluter nervlicher Zerrüttung, wahrscheinlich längst in einem Wahn – warum sollte ich da nicht auf hoher See das Gezeter dieser flugunfähigen Vögel hören? Das gehörte doch wahrscheinlich zum Standardprogramm des Nervenzusammenbruchs eines Schiffbrüchigen.
Um es kurz zu machen, mein geliebter Hachmed, es waren tatsächlich Strandlöper! Sogar eine ganze Flotte von ihnen, hunderte oder vielleicht sogar tausende, die in nicht allzu großer Entfernung vorbeitrieben, eng aneinander auf den Wellen hockend, schnatternd und zeternd.
Das war der Augenblick, in dem selbst ich Todgeweihter schallend auflachen musste. Selbstverständlich mussten es Strandlöper sein, die zu den wahrscheinlich sehr wenigen Bewohnern von Eydernorn gehören, die diese Katastrophe überlebt haben. Jetzt hatte ich es endlich verstanden: Die Strandlöper waren tatsächlich die klügsten und lebenstüchtigsten Kreaturen der Insel! Sie hatten sich immer schon geweigert zu fliegen, weil sie instinktiv wussten, dass sie sich dadurch in den gefährlichsten Bereichen von Eydernorn bewegt hätten, in der Sphäre dicht unter der Großen Wolke. So etwas Dämliches machten nur Möwen! Die Strandlöper hatten lieber ein Dasein als Schnorrer auf dem Erdboden bevorzugt, als ihr Leben in den Lüften aufs Spiel zu setzen. Das ist eine Intelligenz, die im Tierreich ihresgleichen sucht. Eigentlich sogar Genialität! Deshalb waren sie, außer mir vielleicht, die einzigen lebendigen Zeugen des Untergangs von Eydernorn. Ich hoffte allerdings, dass auch die Hummdudel dazugehörten. Ich sah den Strandlöpern lange hinterher, die zeternd dem Horizont entgegendrifteten, bis ich sie schließlich nicht mehr sehen und hören konnte.
Tatsächlich wurde das Wasser bald wieder etwas kälter, dann frostig und schließlich eisig. Selbst für die Verhältnisse der Eydernorner Gewässer erschien es mir ungewöhnlich kalt. Ich begann zu zittern. Es konnte also nicht mehr lange dauern, bis ich erfror.
Da spürte ich Bewegung im Wasser. Es wurde aufgewühlt und schäumte, aber nicht durch Wind, sondern aus der Tiefe des Ozeans. War das eine weitere Flutwelle, die sich unter Wasser anbahnte? Ein Seebeben? Die Wellen, die meinen Körper umspülten, wurden immer drangvoller, das Wasser um mich herum schäumte immer heftiger. Ich wurde auf und ab und hin und her geworfen wie eine Boje im Sturm. Ein Rauschen und Brausen wie von einem auffliegenden Möwenschwarm erfüllte die Luft, dazu hörte ich das Knirschen und Knacken und Krachen von berstendem Eis. Ich hatte diese Geräusche vor kurzem schon einmal gehört, unter ganz anderen Umständen und mit Boden unter den Füßen, daher wusste ich urplötzlich, was diese Bewegungen des Wassers verursachte.
Und dann tauchte sie vor mir auf, eine gigantische Frostfratte.
Im Wasser war es schwer einzuschätzen, aber dies schien ein Exemplar von einer ähnlichen Größe zu sein wie das, welches die Schiefe Reihe zerstört hatte. Viel mehr Gedanken über die Größenverhältnisse bei Frostfratten konnte ich mir auch gar nicht machen, denn das eisige Ungeheuer war urplötzlich mit Getöse und weit geöffnetem Rachen direkt vor mir aufgetaucht. Dann ging alles sehr schnell. Ich schoss in einer rasanten Fahrt wie auf einem Sturzbach direkt in ihren Schlund hinein, zwischen riesigen Eiszähnen hindurch, und kaum war ich darin, schloss sich das Gebiss aus Eiszapfen hinter mir auch schon wieder mit einem gewaltigen Krachen.
Es hatte nur wenige Augenblicke gedauert, die Frostfratte hatte mich wahrscheinlich überhaupt nicht bemerkt. Für sie besaß ich höchstens die Bedeutung einer winzigen Krabbe, von etwas Krill oder einer der vielen hundert Heringe, die sie im gleichen Augenblick verschlang und mit Hektolitern Meerwasser herunterspülte.
Was ich von nun an erlebte, lieber Hachmed, geschah in absoluter Dunkelheit.
Es gibt kein schrecklicheres Gefühl, als in völliger Finsternis orientierungslos herumgeschleudert zu werden, besonders wenn man sich in einer Frostfratte befindet. Ich hörte ein monströses Gurgeln und fühlte mich gleichzeitig eingeschlossen von einem Schwarm panisch zappelnder Heringe, der abwärts rauschte. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnere. Meine Furcht und Übelkeit waren so überwältigend, dass mich eine gnädige Ohnmacht umnachtete.
Als ich wieder zu mir kam, war ich zunächst am erstauntesten darüber, dass ich noch lebte, erst dann wunderte ich mich, dass ich etwas sehen konnte. Denn es gab Licht, und zwar in ungewöhnlicher farblicher Vielfalt. Licht in den Eingeweiden einer Frostfratte! Denn da musste ich mich ja befinden, wenn ich nicht gestorben und in irgendeine Jenseitswelt gelangt war. Tatsächlich, mein bester Hachmed, lag ich auf einem Berg von toten und halbtoten Meeresbewohnern. Die meisten waren Kleinfische wie Heringe oder Makrelen oder Barsche. Es gab Tintenfische und Quallen, Krebse, Krabben und Muscheln. Ein paar Haie konnte ich erkennen, Rochen und andere gefährliche Raubfische, aber die meisten waren bereits tot oder schnappten nur noch hilflos nach Luft.
Dazwischen befanden sich auch zahlreiche Tiefseefische von der Art, die in Eydergard in konservierter Form die Straßenbeleuchtung besorgt hatten. Ihr Licht leuchtete und pulsierte in allen Farben des Spektrums und tauchte die Wände des uns umgebenden Verdauungsorgans in ein märchenhaftes Licht, das besser zur Schatzkammer eines größenwahnsinnigen Monarchen gepasst hätte. Dieser Magen – oder das, was eine Frostfratte anstelle eines Magens besitzt – war so groß wie ein Festsaal und beleuchtet wie ein abendliches Straßenfest in Eydergard. Was für eine Ironie des Schicksals! Ich war dem Gehirn der Großen Wolke entronnen, um im Verdauungstrakt einer Frostfratte zu enden!
Mein eigener Zustand war kaum besser als der meiner Mitgefangenen. Ich hatte literweise Meerwasser geschluckt, mir war schwindlig und kotzübel. Es war unmöglich, mich aus eigener Kraft zu erheben oder sonst irgendetwas zu tun. Die Luft war von den Fäulnisgasen und Verdauungssäften derart verpestet, dass ich es kaum aushalten konnte. Wie sehnte ich mich nach der frischen Luft von Eydernorn. Schon nach kurzer Zeit schwanden mir wieder die Sinne. Wie viel lieber wäre ich in der Großen Wolke an der Seite von Queekwigg draufgegangen, mit den anderen vom Lavabrocken zerschmettert oder draußen im Meer erfroren, als unter derart unwürdigen Umständen zu verenden. Langsam verließ mich meine Sehkraft.
Als ich die Augen zum letzten Mal schließen wollte, hörte ich ein fernes Brausen, dann ein Gurgeln, das ich beim unfreiwilligen Entree in diesen Verdauungstrakt bereits vernommen hatte, und schließlich ergoss sich aus einem dunklen und schleimigen Loch ein neuer Schwall von Wasser und zahllosen Meeresbewohnern in diese Grotte.
Tiefseefische waren keine darunter, erkennen konnte ich Heringe, Krabben, Tintenfische, Quallen, Sardinen und Thunfische, alles Tiere aus den oberen Schichten des Meeres, welche die Frostfratte momentan anscheinend durchkreuzte. Ich lag apathisch da und starrte auf den großen Haufen Neuzugänge. Die meisten lebten noch und zappelten, krabbelten, japsten oder zuckten, daher war ich auch nicht erstaunt über eine heftige Bewegung in der Mitte des Fischbergs. Dort schien sich, begraben von vielerlei Getier, eine größere Kreatur zu befinden, vielleicht ein mächtiger Hai oder ein kleinerer Wal, wie ich aus der Art der Bewegungen schlussfolgerte. Ich sah, wie sich ein dicker Tentakel da, eine große Flosse dort und eine gewaltige Klaue hier aus der Masse lösten. Wollten sich etwa mehrere größere Tiere an die verpestete Oberfläche durcharbeiten? Aber auch das war ein Trugschluss. Denn schließlich war es nur ein einziges monströses Geschöpf, das sich dort freischaufelte. Als ich endlich erkannte, worum es sich handelte, war ich im gleichen Augenblick fest davon überzeugt, dass sich endlich auch mein Verstand von mir verabschiedet hatte: Es war das Quaquappa in all seiner monströsen biologischen Vielfalt.
Ich befand mich mittlerweile so dicht am Rande der Ohnmacht, dass ich alles, was nun geschah, nur noch wie in einem Traum erlebte.
Das Quaquappa robbte sich wie eine riesige Echse bäuchlings zu mir heran und hob sein schauriges Antlitz dicht an meines. Es blickte mich lange an und betastete mich mit seinen Tentakeln, wie ein besorgter Arzt seinen Patienten. Dann vernahm ich seine Stimme, obwohl sein Maul geschlossen blieb und sich nicht bewegte. Sie erklang auf dieselbe Art in meinem Kopf, so wie du, mein bester Hachmed, schon gelegentlich mit mir kommuniziert hast, nämlich auf telepathische Weise.
Das Quaquappa sprach nur einen einzigen Satz zu mir: »Fürchte dich nicht – du bist nicht allein.«
Dann packte es mich mit mehreren Tentakeln und Scheren und schleppte mich davon.
Von dem, was von nun an geschah, besitze ich keine richtige Erinnerung mehr, nur eine wirre Folge aus Traumfetzen, tiefen Ohnmachten und Halbschlaferlebnissen, die ich keiner Realität zuzuordnen wage. Ich sehe eine Kette von aufscheinenden und wieder verlöschenden Bildern und kurzen Szenen, immer wieder unterbrochen von tiefem Schwarz – wie ein Theaterstück, in dem mehrmals der Vorhang fällt und wieder hochgezogen wird.
Ich spürte noch, wie das Quaquappa mich in den hinteren Bereich zu einem Teil der Magengrotte schleppte, wo sich ein großes, dunkles, schleimiges und abstoßend organisch pulsierendes Loch befand, in das es sich kurzerhand mit mir zusammen hineinwarf.
Ohnmacht. Schwärze.
Dann kam ich kurz zu Bewusstsein. In totaler Dunkelheit vernahm ich noch einmal die fremdartige Stimme des Quaquappa in meinem Kopf: »Hier müssen wir warten.«
Ohnmacht. Schwärze.
Ich erwachte erneut. Gurgeln und Gluckern. Immer noch völlige Finsternis. Dann ein anschwellendes Brausen und Rauschen. Dazu die Stimme des Quaquappa: »Gleich ist es so weit. Versuch, die Luft anzuhalten!«
Gehorsamst holte ich tief Luft.
»Jetzt!«, rief die Stimme in meinem Kopf.
Schockierende Kälte, die meinen Körper in der Dunkelheit ergriff. Eisiges Wasser, das mich umstrudelte, gleichzeitig das Gefühl, als würde ich von allen Seiten mit Steinen beworfen. Die seltsame Empfindung, wie durch einen Schacht brutal und rasant nach oben getrieben zu werden.
Und dann Helligkeit, blendendes Licht. Atemluft!
Ich riss die Augen so weit auf wie möglich – und sah unter mir den glitzernden Ozean, mit der Frostfratte darin direkt unter mir.
Denn ich flog! Ich flog hoch in der Luft auf einem dichten Strahl aus funkelnden Eispartikeln, welche die Frostfratte laut prustend aus sich herausblies. Um meine Brust spürte ich immer noch die Tentakel des Quaquappa.
Dann stürzten wir ab, aus großer Höhe. Und erneut landete ich schmerzhaft im Meer – zum dritten Mal an diesem Tag.
Ohnmacht. Schwärze.
Als ich endlich wieder zu mir kam, trieb ich rücklings auf dem Meer, so wie nach dem Einschlag auf der Quoped , erneut getragen von meinem Kapitänsbeutel. Wieder war ich völlig allein. War in der Zwischenzeit überhaupt irgendetwas geschehen? War das alles nur ein Traum gewesen, ein letztes Gaukelspiel meines zermürbten Gehirns kurz vor dem sicheren Erschöpfungstod?
Da, ein Geräusch hinter mir, wie von einem großen auftauchenden Fisch. Ich empfand in diesem Augenblick gar nichts mehr, all meine Furcht war aufgebraucht. Ich sah mich fast gleichgültig um, durchaus darauf vorbereitet, einem riesigen Hai in die erbarmungslosen Raubfischaugen zu schauen. Aber was da hinter mir aufgetaucht war, war kein Lebewesen. Es war ein Stein.
»Ein Stein, der aus dem Meer auftaucht, ist entweder eine Naturunmöglichkeit oder eine Wahnvorstellung«, höre ich dich einwerfen, mein bester Hachmed.
Aber nach all dem, was in den letzten Wochen geschehen war, erschreckte mich diese kuriose Erscheinung überhaupt nicht mehr – sie verblüffte mich nur. Außerdem – und das verblüffte mich am meisten – war mir dieser Stein vertraut. Es war einer von den Sprechenden Grabmalen, von denen ich auf Eydernorn schon mehrere gesehen hatte. Aber es war keiner von den Steinen auf dem Inselfriedhof oder im Museum, sondern jenes Exemplar, das ich in der unheimlichen, bewohnten Grotte der Stadt ohne Türen entdeckt hatte. Dass es schwimmfähig war, verwunderte mich überhaupt nicht, denn ich wusste ja längst, dass diese Skulpturen aus Bimsstein bestanden, aus dem auf Eydernorn die Küstengnome sogar ihre kleinen Stehboote herstellten. Der Stein stand aufrecht im Meer wie eine Boje und war groß genug, um eine gewichtige Person wie mich über Wasser zu halten. Wie war er den weiten Weg von der Stadt ohne Türen hierhergekommen?
Trapezoeder
Als ich zu dem Stein hinüberschwimmen wollte, berührte etwas mein Bein. Das ist mitten im Ozean nie ein angenehmes Gefühl. Aber seltsam, auch diese Berührung erschreckte mich nicht, sondern kam mir vertraut vor. Sie erinnerte mich an das Ereignis in der Stadt ohne Türen, als ich von Belphegatoren gejagt worden war und unerwartete Hilfe bekommen hatte. Daher war es eher eine hoffnungsvolle Ahnung als Furcht, die mich wagen ließ, den Kopf unter Wasser zu stecken und hinabzublicken.
Vielleicht war es eine Sinnestäuschung. Vielleicht war es nur ein riesiger Fisch oder ein Oktopus, den ich durch die Verzerrungen des Salzwassers falsch identifizierte. Aber in diesem Augenblick hätte ich schwören können, dass es niemand anderes war als das Quaquappa. Es schwebte nur einige Armlängen unter mir im Ozean und blickte zu mir herauf. Der Meeresdämon selbst war es, der diesen Stein geschaffen hat, davon bin ich mittlerweile überzeugt. Wenn irgendjemand in der Lage war, ihn hierherzubringen, dann er. Das Quaquappa war nicht allein. Es war begleitet von einem Schwarm kleiner Meerestiere, die ich auf Anhieb klassifizieren konnte, denn es waren Hummdudel. Ob es die aus meinen Terrarien oder andere waren, konnte ich unter diesen Umständen unmöglich feststellen. Aber allein der Anblick dieser vertrauten Amphibien erquickte mein Herz.
Und erstmals fand ich das Quaquappa nicht furchterregend oder hässlich, sondern ehrfurchtgebietend und schön. Es hatte jede Bedrohlichkeit für mich verloren.
Ich musste kurz den Kopf aus dem Wasser heben, um Luft zu holen, tauchte ihn aber sofort wieder ein – doch die Erscheinung war verschwunden. Wo sie gewesen war, tanzten nur noch Schwärme von Luftblasen.
Ich paddelte zu dem schwimmenden Trapezoeder und schlug meine Krallen fest hinein, so wie ich einst die Krallen in die Reling der Quoped geschlagen hatte, in der Absicht, nie wieder loszulassen. Das Wasser besaß hier eine Temperatur, die ich gerade noch ertragen konnte, ohne an Unterkühlung zu sterben, woraus ich schlussfolgerte, dass die Frostfratte mich ein geraumes Stück von den eisigen Gewässern Eydernorns wegtransportiert hatte. Oder war es das Quaquappa?
So trieb ich noch eine ganze Weile durchs Meer. Meine einzige Ablenkung während dieser ungewissen Seereise waren die Schriftzeichen auf dem Stein, die ich wieder und wieder betrachtete. Aber ihr Sinn erschloss sich mir auch durch dieses intensive Studium nicht. Wieso ereilten mich eigentlich keine Niesanfälle mehr, seitdem ich der Frostfratte entronnen war? Natürlich: Ich befand mich längst nicht mehr in den Gewässern rings um die Insel Eydernorn mit ihren ganz eigenen Naturgesetzen! Gegen dieses normale Meerwasser war ich nicht allergisch. Das war für mich der letzte Beweis, dass ich dem Bannkreis der Wolke entronnen war.
Schließlich ging die Sonne auf spektakuläre Weise unter, der Himmel hatte seine ungewöhnlichen Farben sicherlich der vorhergegangenen Katastrophe zu verdanken. Die Nacht kam und mit ihr vielleicht auch mein Ende, denn Land oder Rettung war nicht in Sicht. Als die letzten roten und orangefarbenen Sonnenstrahlen auf die Oberfläche des Trapezoeders trafen, kam es mir plötzlich so vor, als würden die eingravierten Zeichen sich bewegen. Als würden sie zu tanzen beginnen – so ähnlich wie ich es damals im Museum erlebt hatte. Eine kolossale Ruhe überkam mich, während ich ihr Spiel betrachtete. Ich dachte daran, dass ich ein gutes, reiches und erfülltes Dasein voller wunderbarer Ereignisse gelebt hatte.
Und in diesem Augenblick, in dem ich mit allem meinen Frieden machte und genauso bereit war zum Weiterleben wie zum Sterben, da war mir plötzlich, als ob ich endlich die Inschrift auf dem Sprechenden Grabmal entziffern konnte: Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Mir war, als ob der Stein endlich zu mir sprach.
Dies ist die Botschaft, die er mir mitteilte:
Ich weiß nicht, ob dies tatsächlich die Worte und Sätze sind, die auf dem Trapezoeder standen. Waren es wirklich die in Stein gemeißelten Gedanken des Quaquappa, des gefürchteten Meeresdämonen und Abgesandten der Großen Wolke, der in Ungnade gefallen war, weil er seine Liebe zur Insel Eydernorn und zu dieser Welt entdeckt hatte? Oder gaukelte mir mein von den zermürbenden Ereignissen und erbarmungslosen Naturkräften gemartertes und zerrüttetes Hirn nur vor, diese Zeichen lesen zu können? Dann waren es vielleicht nur meine eigenen Gedanken. Aber was macht das eigentlich für einen Unterschied, mein bester Freund?
Schließlich wurde ich müde, so müde wie noch nie in meinem Leben. Und das war in Anbetracht der letzten Ereignisse wirklich kein Wunder. Die allerletzten Kräfte, die mir nach all den Anstrengungen noch zur Verfügung standen, verließen meinen Körper und sanken hinab in den Ozean. Ich schlief ein, mein bester Hachmed, und es war gut so. Mein Geist wollte nur noch ruhen und hinabsinken auf den Grund des Meeres. Die Augen fielen mir ganz langsam zu, und meine Krallen lösten sich aus dem weichen Gestein des Trapezoeders. Salzwasser umfing meinen Kopf und drang in meinen bereitwillig geöffneten Rachen. Als ich mit dem Wasser zu gurgeln begann und die ersten salzigen Schlucke die Kehle herabrinnen ließ, vernahm ich einen vertrauten Gesang. Es war ein vielstimmiges Flöten und Dudeln, Summen und Brummen, das mich in der Vergangenheit schon mehrfach erfolgreich um den Schlaf gebracht hatte. Dies war der Gesang der Hummdudel! Er weckte mich schlagartig aus meinem todessehnsüchtigen Schlummer und ließ mich das salzige Meerwasser ausspeien. Ich schlug meine Krallen wieder in den Stein und klammerte mich erneut daran fest. Ich war wieder hellwach, erhob meinen Kopf aus dem Wasser und sah mich um. Ich war umgeben von einem Schwarm von Hummdudel, die laut flötend auf der Meeresoberfläche drifteten. Während ich gierig Luft einsaugte und mich noch fester in den Stein krallte, sank ihr alarmierender Gesang zu einem beruhigenden Gedudel herab. Ich kann es nicht wirklich beschwören, mein bester Hachmed, aber in diesem Augenblick glaubte ich tatsächlich Junghumm, Jungdumm und Jungdudel in dem Schwarm zu erkennen. Die Amphibien umkreisten mich noch eine Weile, als ob sie sich vergewissern wollten, dass sie wirklich meinen Lebenswillen wieder geweckt hatten, und schwammen dann leise flötend in Richtung Horizont.
Die Laute, die ich kurz darauf vernahm, stammten offensichtlich von einer anderen Spezies. Es war das gierige Gekreisch von Möwen. Das ist auf See eigentlich immer ein Zeichen dafür, dass sich entweder Land oder ein Schiff in der Nähe befindet. Und tatsächlich, es war ein zamonisches Handelsschiff auf dem Weg nach Eydernorn. Die Besatzung hatte keinerlei Ahnung davon, dass die Insel, zu der sie übersetzen wollte, demnächst von allen Seekarten getilgt werden musste. Meine verzweifelten Rufe wurden an Bord gehört, und man sandte ein Rettungsboot, um mich aus dem Meer zu fischen, halb erfroren und beinahe besinnungslos. Den schwimmenden Stein, den die Matrosen für bedeutungslos hielten, ließen sie leider davontreiben.
Der Kapitän des Schiffes war ein verständiger Seemann, der die Zeichen in der Atmosphäre, die durch den Vulkanstaub verfärbte Sonne und die ungewöhnlichen Strömungen des Meeres richtig zu deuten wusste. Er schenkte mir Glauben, als ich ihm vom Untergang Eydernorns Bericht erstattete. Drei Tage kreuzten wir noch in der Gegend, um nach Überlebenden zu suchen, dann änderte der Kapitän den Kurs in Richtung Festland.
So landete ich nach vielen ereignisreichen Tagen und Nächten einer Reise, die mir eigentlich Ruhe, Erholung und Gesundheit hätte verschaffen sollen, wieder auf dem zamonischen Festland. Ich verweile nun seit einigen Tagen in Alt-Werfting, um mich wieder komplett zu rehabilitieren, diesen letzten Brief an dich zu schreiben und ein paar Skizzen anzufertigen, solange die Ereignisse noch so frisch in meiner Erinnerung sind.
Morgen mache ich mich endlich auf den Weg in die Heimat, wobei der Boden unter meinen Füßen sicher noch lange schwanken wird – wie die Planken eines Schiffes auf großer Fahrt.
Ich danke dir, mein bester Freund, für diese Brieffreundschaft. Denn solange ich diese Briefe an dich schreiben darf, ist mir eines gewiss:
Ich bin nicht allein.
Dein