Es war Sommer und es regnete in Strömen. Wir standen unter einem Vordach. Ein älterer Herr hielt an und fuhr uns, obwohl man zwischen den dichten Regentropfen die Fahrbahn kaum erkennen konnte, mit seinem klapprigen Mercedes immerhin noch bis zur Abzweigung nach Ihlingen. Die Gaststätte unten an der B14 war noch geöffnet. Wir gingen hinein in der Hoffnung, dass sich der Sommerschauer nach einer Weile verziehen oder wenigstens abschwächen würde. Als wir den Gastraum mit unseren patschnassen Schuhen betraten, konnten wir unseren Augen kaum glauben. An einem großen Tisch saßen Wolfgang Kleff, Paul Breitner, Rainer Bonhof, Günter Netzer, Jürgen Grabowski, Jupp Heynckes und Bernd Hölzenbein, nahezu die gesamte Weltmeistermannschaft von 1974. Gut, Gerd Müller, Sepp Maier und Franz Beckenbauer fehlten, aber das war unwichtig. Ferhat und ich nahmen all unseren Mut zusammen und fragten, ob wir uns dazusetzen dürften. Sie machten zwei Plätze frei und erzählten, dass sie in Konstanz ein Benefizspiel zugunsten einer Behinderten-Stiftung gehabt hatten, morgen in Stuttgart kicken würden und hier aufgrund der schlechten Sicht auf den Straßen kurzfristig gestrandet seien.

Die Stimmung war ausgelassen, wir bestellten uns zwei Bier, sprachen mit ihnen über den Sommer 74, über die schmachvolle Niederlage im Auftaktspiel gegen die DDR, die »Nacht von Malente«, als Beckenbauer das Ruder an sich riss, und natürlich auch über das legendäre Endspiel gegen Johan Cruyff und die großartigen Niederländer in München. Hölzenbein versicherte uns augenzwinkernd, dass es ein glasklarer Elfmeter gewesen sei. Kleff, Bonhof, Heynckes und die anderen Jungs waren sichtlich beeindruckt davon, dass ein Türke und ein Jugo, die damals noch in ihre Windeln gekackt hatten, sie für ihre längst vergangenen Heldentaten anhimmelten. Mit Paul Breitner plauderten wir auch noch über die WM 1982 in Spanien, über das atemberaubende Halbfinale gegen Platinis Franzosen und das verlorene Endspiel gegen die Italiener. Über die »Schande von Gijón«, als sie mit den Österreichern einen erbärmlichen »Nichtangriffspakt« geschlossen hatten, schwiegen wir lieber.

Ich hatte mir noch ein Bier bestellt, war redselig und sagte zu Breitner: »Das Halbfinale gegen die Franzosen habe ich in den Schulferien in Jugoslawien gesehen. Ich war acht, im Bergdorf meiner Großeltern gab es nur einen Fernseher, um den sich das halbe Dorf auf der Terrasse eines Nachbarn versammelt hatte. Alle außer mir waren für die Franzosen. Nach dem 1:3 durch Giresse in der Verlängerung schien das Spiel gelaufen zu sein. Ein anderer Kanal wurde eingeschaltet, sie wollten sich jetzt lieber einen Dracula-Film anschauen. Ich war wütend und bestand darauf, dass nach ein paar Minuten nochmal das Spiel eingeschaltet wurde. Unter Protest wurde der Sender gewechselt. Das dauerte eine kleine Ewigkeit: Man musste damals noch wie bei einem Radio an einem Knopf drehen, um den Sender richtig einzustellen. Und dann war das Unglaubliche geschehen: Es stand plötzlich 3:3. Es folgte das Elfmeterschießen, und als Hrubesch schließlich den letzten Elfer verwandelte, sprang ich auf und jubelte lautstark, und die Jugos im Dorf beschimpften mich als scheiß Deutschen, was mich aber überhaupt nicht interessierte. Ich war glücklich.«

Paul Breitner lächelte in seinen Bart hinein, klatschte meine Hand ab: »Ja, ja, das war eines der irrsten Spiele meiner Karriere. Es war unglaublich heiß in Sevilla. Am Ende der Verlängerung ist den Franzosen die Luft ausgegangen und dann standen wir plötzlich im Finale.«

Ich hätte noch die ganze Nacht mit Breitner und all den anderen weiterreden können, aber nach etwa einer Stunde ließ der Regen nach. Die Weltmeister von 1974 machten sich auf den Weg nach Stuttgart. Ferhat und ich waren beseelt, liefen berauscht zurück nach Rexingen und träumten in dieser Nacht ganz bestimmt von wagemutigen Fallrückziehern und spielentscheidenden Toren in den größten Stadien der Welt. In der Aufregung hatten wir ganz vergessen, nach Autogrammen zu fragen. Als wir am nächsten Tag am Dorfbrunnen erzählten, dass wir im gottverdammten Ihlingen die Weltmeistermannschaft von 1974 getroffen hatten, glaubte uns natürlich niemand. Das war uns aber auch scheißegal, denn wir wussten ja, dass die Geschichte stimmte.