Leyla hatte sich ein Jahr zuvor unsterblich in Thomas verliebt. Ihr Vater Ali durfte nichts davon wissen. Beide arbeiteten sie als Krankenpfleger auf der gleichen Station eines Tübinger Krankenhauses. Thomas war groß, schlank, hatte blonde Haare, blaue Augen und war die Ursache dafür, dass Leyla oft erst sehr spät von der Arbeit nach Hause kam. Das hatte Ali überhaupt nicht gefallen. Er beauftragte Ferhat damit, zu überprüfen, ob sie tatsächlich immer so lange arbeitete. Wir fuhren mit dem Zug nach Tübingen, trafen die beiden in einer Kneipe und mochten Thomas, der ein anständiger Kerl zu sein schien, richtig gerne. Zurück in Rexingen berichtete Ferhat seinem Vater, dass alles in Ordnung sei. Ali war beruhigt.
Bis dahin konnte Ferhat seine Schwester decken. Doch jetzt wollten Thomas und sie heiraten, und das war ein verdammt großes Problem. Ali war noch mit den alten Sitten seines anatolischen Dorfes aufgewachsen. Dort entschied allein das Familienoberhaupt, mit wem sich die Tochter verbinden durfte. Zudem war er tief religiös und hätte niemals erlaubt, dass Leyla einen deutschen Christen heiratete. Wir brauchten einen Plan, trafen uns öfter mit Thomas und Leyla abends in Tübingen in einer Bar und beschlossen nach stundenlangem Hin und Her, dass die beiden vorerst untertauchen sollten. Sie nahmen Urlaub, fuhren mit dem Zug nach Freiburg, wo sie niemand kannte, bezogen ein Hotelzimmer und warteten auf Ferhats Anrufe. Es wurde vereinbart, dass er sie jeden Abend gegen 21 Uhr von einer Telefonzelle in Rexingen aus im Hotelzimmer anrufen sollte.
Ferhat bat mich, ihm beim Gespräch mit Ali beizustehen. Natürlich sagte ich zu. An jenem Abend erlebte ich ihn so ängstlich wie noch nie. Seine Hände waren schweißnass, er wippte beim Essen aufgeregt mit den Beinen, bekam kaum einen Happen hinunter. Als Feyza das Geschirr in die Küche brachte, offenbarte er seinem Vater alles. Ali geriet außer Rand und Band, schrie in einem Mischmasch aus Türkisch und gebrochenem Deutsch: »Mein Sohn hat mich verraten. Meine Tochter hat mich verraten. Womit habe ich nur solche Kinder verdient? Ich werde euch beide umbringen.«
Dann schmiss er sein Teeglas gegen die Wand, das in hundert kleine Teilchen zerbrach, ging zur Glasvitrine, holte das alte Jagdgewehr seines Vaters heraus, richtete den Lauf auf ein Fenster, blickte in die Ferne: »Ich werde sie und ihren scheiß Deutschen umbringen. Ich werde sie umbringen.«
Ferhat gab mir mit den Augen ein Zeichen, dann rannten wir beide so schnell wie nur möglich aus dem Zimmer, schnappten uns unsere Schuhe an der Eingangstür und hörten noch unten auf der Straße, während wir auf Socken um die Ecke sprinteten, wie Ali seine Tochter und auch Ferhat wutentbrannt verfluchte.
An diesem Abend schlief Ferhat bei mir. Ich schmuggelte ihn durch das Fenster in mein Zimmer. Wir rauchten einen Joint, hörten Musik, schauten bis spät in die Nacht fern und schliefen schließlich mit unseren Klamotten in meinem Bett ein. Am nächsten Morgen kletterte Ferhat aus dem Fenster. Ich winkte ihm zum Abschied, wünschte ihm noch viel Glück. Wäre ein Passant vorbeigekommen, hätte er uns für ein Liebespaar halten können. Was wohl Marianne und Robert gesagt hätten, wenn sie mich in dieser Nacht mit einem langhaarigen Türken im Bett erwischt hätten? Aber wer weiß, vielleicht hätten sie auch Verständnis gehabt. Na ja, Robert nicht, aber Marianne hatte sich schon immer für die Rechte von Frauen eingesetzt und ja auch Pflegekinder von alleinstehenden türkischen Frauen aufgenommen. Möglicherweise hätte sie sogar versucht, Leyla und uns zu helfen? Aber der türkische Mann in meinem Bett hätte sie natürlich vollkommen entsetzt. Und an Mutter darf ich gar nicht denken. Wahrscheinlich wäre sie auf der Stelle mit einem Herzinfarkt tot umgefallen.
An nächsten Abend traf ich Ferhat am Dorfbrunnen.
»Mann, wie ist es gelaufen?«
»Ach, am Anfang setzte es ein paar Ohrfeigen und er hat mich als Lügner, Mistkerl und weiß der Teufel noch was beschimpft. Dann hat er mir Prügel angedroht, falls ich ihm nicht verraten würde, wo sich Leyla versteckt. Es hagelte noch ein paar Ohrfeigen. Aber ich bin standhaft geblieben. Er hat kein Wort aus mir herausbekommen. Danach hat er nur noch wie ein Geistesgestörter in den Fernseher gestarrt.«
»Scheiße, Mann, das tut mir leid.«
»Ist schon o. k. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Und das mit Leyla biege ich auch noch hin. Mein Vater ist kein schlechter Mensch. Er wird schon noch nachgeben. Außerdem liebt er Leyla mehr alles andere auf der Welt. Komm, lass uns nach Horb trampen und im Na und …? ein paar Biere kippen.«
In den darauffolgenden Tagen führten wir ein Gespräch nach dem anderen mit seinem Vater. Ali bestand darauf, dass Leyla einen Türken aus gutem Hause heiraten solle. Er hatte auch schon ein paar Kandidaten parat. Der Kenan, der in einem Autohaus in Calw arbeitete, oder der Burak, der in Freudenstadt einen Gemüseladen führte, seien doch perfekt. Weshalb, fragte er aufbrausend, kämen denn diese Männer nicht infrage? Von der Liebe wollte er nichts hören. Die Liebe, meinte er, komme automatisch mit den Jahren. Außerdem sehe man ja bei den Deutschen, dass dieses moderne Hirngespinst der freien Liebe am Ende nur zu Hass und Scheidung führen würde. Das wolle er seiner Tochter ersparen. Außerdem sei sie doch noch viel zu jung, um das alles zu begreifen. Und überhaupt würden die Türken und die Deutschen, die ganz andere Werte und Glaubensbekenntnisse vertraten, nicht zueinanderpassen. Ferhat und ich und inzwischen sogar manchmal auch Ferhats Mutter Feyza, die neuerdings im Wohnzimmer mitdiskutierte und sich überraschenderweise auf unsere Seite geschlagen hatte, redeten unermüdlich auf ihn ein. Wir versuchten ihm zu erklären, dass die Liebe sehr wohl wichtig sei, Thomas es ernst mit Leyla meine, gut für sie sorgen würde, Leyla ihre Herkunft nie verleugnen würde und er doch auch wolle, dass seine Tochter glücklich werde.
Ali war gekränkt, war ein harter Brocken, ließ sich nur schwer überzeugen. Aber er begriff, dass sein Widerstand nur Unglück über die Familie bringen würde. Er wurde zusehends nachgiebiger, telefonierte mit Thomas’ Eltern, vermisste seine geliebte kleine Tochter schmerzhaft und verkündete nach zehn Tagen, dass er eine Entscheidung getroffen habe. Noch vor dem Abendessen erhob er sich, schaute aus dem Fenster, sprach mit dem Rücken zu uns: »Na gut, wenn ihr meint, dass dieser Thomas der richtige Mann für Leyla ist, dann soll es so sein. Ich habe immer noch meine Bedenken, stimme aber dem Herzen meiner Tochter und der Hochzeit zu.«
Als Ferhat Leyla und Thomas an diesem Abend wieder von der Telefonzelle aus anrief und ihnen Alis endgültige Entscheidung mitteilte, meinte ich die Jubelschreie am anderen Ende der Leitung durch die dicken Scheiben hindurch draußen hören zu können. Am nächsten Tag kam Leyla nach Rexingen zurück. Überglücklich fiel sie ihrem Vater in die Arme. Ali drückte seine Tochter an die Brust und wischte sich so unauffällig wie nur möglich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.