Ich brauchte nicht lange, um mich in der Stadt einzuleben. Durch die Vorlesungen, die in überfüllten Hörsälen im Hauptgebäude an der Ludwigstraße abgehalten wurden, und den etwas übersichtlicheren Seminaren im Schwabinger Institutsgebäude ergaben sich schnell vielfältige Bekanntschaften. Und auch das Studium erwies sich als Glücksgriff. Ich war fasziniert davon, wie präzise und tiefgründig man unterschiedliche Gesellschaftsformationen analysieren konnte. Kapitelweise verschlang ich die soziologischen Klassiker von Auguste Comte, Karl Marx, Émile Durkheim, Georg Simmel, George Herbert Mead und Ferdinand Tönnies bis hin zu Max Weber, beschäftigte mich mal mehr und mal weniger eingehend mit Adornos Dialektik der Aufklärung, den funktional ausdifferenzierten Systemen von Niklas Luhmann, Erving Goffmans Analyse der sozialen Rollen, Michel Foucaults Wirkungsweisen der Macht, Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, Pierre Bourdieus feinen Unterschieden im Lebensstil und Habitus sozialer Milieus und dem Werk von Ulrich Beck, der an unserem Institut lehrte und dessen Risikogesellschaft, in der er die Konturen einer neuen individualisierten Moderne herausgearbeitet hatte, ein weltweiter Bestseller geworden war.
Ich verbrachte viel Zeit in der Bibliothek, lernte die methodischen Standards für die Erhebung empirischer Studien und schrieb Seminararbeiten über steigende Selbstmordraten in Zeiten des sozialen Wandels, die massenmediale Erfindung von Nationen im 18. Jahrhundert durch die Ausdehnung des Buch- und Druckmarktes, den Kampf um Anerkennung und kulturelles Kapital anhand der historischen Entwicklungsgeschichte des Essverhaltens in aufstrebenden sozialen Klassen und die soziokulturelle Diskriminierung von Minderheiten im Bildungswesen. Mehr und mehr begriff ich, wie ungleich die Lebenschancen, auch und gerade für uns Gastarbeiterkinder, in der Gesellschaft verteilt waren.
Um das Studium zu finanzieren, musste ich mir mit Studentenjobs ungefähr fünfhundert D-Mark im Monat hinzuverdienen. Ich erledigte Gartenarbeiten im Bogenhausener Villenviertel, wurde Kabelträger in den Bavaria Filmstudios, schuftete als Laufbursche in den Weinkellern von Fünfsternehotels am Stachus und verpackte in den Lagerhallen der Luxusmarke MCM am Leuchtenbergring hochpreisige Handtaschen und Koffer für deren neureiche Kundschaft aus aller Welt. In der Geschäftsstelle von MCM, in der uns morgens die Bestellscheine ausgehändigt wurden, hing eine rot leuchtende Anzeigentafel, die im Minutentakt den exorbitant steigenden Umsatz der Firma anzeigte. Mehr Blasiertheit war kaum möglich. München war mitunter eine unglaublich snobistische und kleinkarierte Stadt, aber die Jobs waren gut bezahlt und ließen mir genügend Freiraum für das Studium und andere Freizeitaktivitäten.
Ich genoss mein neues Studentenleben in vollen Zügen, spielte die Rolle eines jungen Intellektuellen, um dadurch in diese hineinzuwachsen. Morgens las ich bei einer Tasse Espresso die frei ausliegenden in- und ausländischen Zeitungen im lichtdurchfluteten Stadtcafé in der Nähe des Marienplatzes, schlenderte danach über den nach frischem Obst und Gewürzen riechenden Viktualienmarkt, rauchte hin und wieder, von Musik und hübschen Frauen umgeben, einen Joint auf dem Monopteros-Hügel im Englischen Garten, debattierte abends mit Kommilitonen in den Bars und Kneipen rund um die Leopoldstraße über Derrida und Lacan und trieb mich nahezu jedes Wochenende auf irgendeiner Studentenparty herum. Manchmal war ich danach so betrunken, dass ich auf der Rückfahrt meine S-Bahn-Station verschlief und erst wieder am Flughafen aufwachte. Dann schlenderte ich zum Abflugterminal, trank eine Tasse Kaffee, ließ mich von dem ganz eigenen Raum aus Geschäftigkeit, Nervosität, Aufbruchsstimmung, Flugangst, Vorfreude und den letzten Aufrufen für Algier, Bangkok, New York oder Buenos Aires hinwegtreiben, erinnerte mich an das Gefühl der Freiheit auf den Straßen Amerikas, träumte von Reisen in ferne Länder, rauchte eine Zigarette in einer Lounge, flog nirgendwo hin, kaufte mir die Abendzeitung, weil sie mit ihren bunten Bildern und kurzen Texten meinen immer noch alkoholisierten Geisteszustand nicht allzu sehr belastete, fuhr zurück nach Daglfing und schlief in aller Ruhe meinen Rausch aus.
Abgesehen vom Flughafen wachte ich auch ab und zu nach einer Party in einem fremden Bett auf, hatte kurze Affären und kein Interesse an längeren Beziehungen. Das änderte sich erst, als ich nach etwa einem Jahr Eve auf der Geburtstagsfeier eines Freundes in Haidhausen traf. Eve war Engländerin, studierte in Hatfield, etwa zwanzig Meilen nördlich von London, an der University of Hertfordshire Kulturwissenschaften und war ein Jahr jünger als ich. Sie hatte schulterlange brünette Haare und kastanienbraune Augen, trug schrille bunte Klamotten, war ein Fan von Cyndi Lauper und für eine Woche zu Besuch bei ihrer Freundin Ruby in München. Wir begegneten uns in der aus allen Nähten platzenden WG-Küche, tranken ein Bier nach dem anderen, redeten ohne Unterlass, hatten nur noch Augen für uns, bekamen nichts mehr von der Party mit, fuhren irgendwann mit der S-Bahn zu mir und schliefen noch im Morgengrauen miteinander. Die folgenden zwei Tage verbrachten wir nahezu ausschließlich im Bett. Danach schrieben wir uns Briefe, telefonierten täglich, besuchten uns immer öfter, trampten manchmal am Wochenende über den Brenner an den Gardasee, fuhren oft mit dem Zug von Hatfield nach London und liebten uns schließlich so sehr, wie sich zwei Menschen nur lieben können.
Sechs Wochen nachdem Eve und ich uns kennengelernt hatten, rief mich Marianne eines Morgens schluchzend an: »Ich muss dir etwas sehr Trauriges mitteilen. Robert ist gestern Nacht an einem Herzinfarkt gestorben. Ich kann es immer noch nicht fassen. Er war doch erst dreiundsiebzig. Ach, Alemchen.«
Ich war wie gelähmt, wusste nicht, was ich ihr antworten sollte, stammelte irgendetwas in den Hörer, legte auf, packte schnell eine Tasche und fuhr mit dem Zug nach Rexingen.
Erinnerungen an Robert rauschten am Zugfenster an mir vorüber. Einmal hatte er mich mit einer weinroten Honda Gold Wing, die einen Sechszylinder-Viertakt-Boxermotor und einen Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen besaß, von Lido di Jesolo in Italien, wo die Behrens und später auch ich immer den Sommerurlaub verbrachten, über traumhaft kurvige Küstenstraßen hinweg in das kroatische Bergdorf zu Oma und Opa gefahren. Und in meiner Kindheit brachte er mir morgens frische Brötchen vom Bäcker mit. Das Brot war noch warm, es roch nach Wurst, Käse, Marmelade und Kaffee, während er am Frühstückstisch die Frankfurter Allgemeine Zeitung las, mir geduldig die Weltlage erklärte und danach in seinem Büro verschwand, um Artikel über Motorräder zu schreiben. Ich fühlte mich in seiner selbstsicheren Gegenwart geborgen. Aber seine Kriegsverletzung, das große Loch in seiner Schulter, erinnerte mich auch ständig daran, dass es innerhalb eines Charakters vielfältige Schattierungen und Widersprüche geben konnte. Weder seine Bildung noch seine Herzlichkeit hatten ihn vor der nationalsozialistischen Ideologie bewahrt.
Zu seiner Beerdigung waren alle meine sieben Geschwister angereist. Bert, Hatto, Petra, Frauke, Maxi, Volker, Heike und ich erzählten uns beim gemeinsamen Leichenschmaus — es gab sein Lieblingsessen Rinderroulade mit Kartoffelklößen und Rotkohl — unzählige Geschichten und Anekdoten über ihn. Es wurde viel gelacht, viel geweint und einiges verschwiegen. Trotzdem war es tröstlich, mit dem Schmerz, den sein Verlust ausgelöst hatte, nicht allein zu sein. Denn ungeachtet all unserer teilweise heftig geführten Auseinandersetzungen über seine rechtsnationalen Überzeugungen war und blieb er über den Tod hinaus mein Vater, der mich uneigennützig aufgenommen und aufrichtig geliebt hatte.
Ich fuhr zurück nach München, versuchte nicht allzu viel an seinen Tod zu denken, kniete mich noch tiefer als zuvor in das Studium, bestand mein Vordiplom mit Bestleistung, bewarb mich für Stipendien an englischen Universitäten, wurde an der Guildhall University mit einem gut dotierten Jahresstipendium angenommen und zog im Sommer 1996, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, nach London.