Meine Mutter fand die Wahl meines Studienfachs geradezu hirnrissig. Ihr wäre es viel lieber gewesen, ich hätte etwas Handfestes wie Medizin, Jura oder BWL studiert. Sie fragte mich immer, welchen Beruf man als Soziologe ausüben konnte. Dass es darauf keine eindeutige Antwort gab, enttäuschte sie sehr. Sie hatte sich alles im Leben schwer erkämpfen müssen und konnte nicht nachvollziehen, weshalb ich mich ausgerechnet für ein Studium entschieden hatte, das mir kaum Sicherheit in der Karriereplanung bot. Dennoch war sie natürlich mächtig stolz darauf, dass ihr Sohn an einer Universität studierte, und als ich auch noch das Stipendium für London erhielt, wuchs in ihr — obwohl sie immer noch nicht so recht verstand, was ich da eigentlich machte — zaghaft die Hoffnung, dass man sogar als Soziologe etwas erreichen konnte.
Ich verkaufte die Herdplatte und die Mikrowelle und fuhr im Fernbus mit zwei Koffern nach London. Die Fahrt über den Ärmelkanal dauerte vierundzwanzig Stunden und war in keiner Weise vergleichbar mit Mutters Ausreise vonJugoslawien nach Deutschland. Während sie ohne Sprachkenntnisse in ein unbekanntes Leben mit monotoner Akkordarbeit in einer Würzburger Schokoladenfabrik aufgebrochen war, erwartete mich in England ein geisteswissenschaftliches Studium mit gut sortierten Bibliotheken.
Mein möbliertes Zimmer, keine zehn Quadratmeter groß, befand sich in einem weitläufigen, durch ein schmiedeeisernes Tor abgesicherten Studentencarré im East End, das in Dutzende Vierer-Wohngemeinschaften mit eigener Küche und Bad aufgeteilt war. Meine Mitbewohner waren Cathy, eine durchgeknallte Furie aus Manchester, die sich alle nur erdenklichen Drogen einwarf und im Morgengrauen, nachdem sie die Nacht durchgefeiert hatte, in der Küche mitunter schreiende Tobsuchtsanfälle bekam; Aiko, eine zierliche und introvertierte Japanerin, die kaum ihre vier Wände verließ und ständig an Liebeskummer litt; sowie Rahul, ein Brite mit indischen Wurzeln aus Coventry, der vegan lebte, viel meditierte und mehrmals am Tag einen leuchtenden Schrein mit hinduistischen Göttern anbetete. Cathy und Rahul konnten sich nicht ausstehen und stritten ständig über nicht entfernte Haare im Duschabfluss, dreckiges Geschirr in der Küche oder dröhnende Stereoanlagen zu nachtschlafender Zeit. Mich störte das nicht sonderlich: Ich kaufte mir eine Packung Ohrstöpsel, war viel unterwegs und übernachtete häufig bei Eve, die, damit wir uns häufiger sehen konnten, von Hatfield an die University of North London gewechselt war. Sie wohnte jetzt ungefähr eine Dreiviertelstunde mit dem Bus von mir entfernt in einer kleinen Einzimmerwohnung in der Holloway Road im Norden Londons.
Kurz nach meiner Ankunft fand die Fußballeuropameisterschaft in England statt. Das rot-weiße Georgskreuz war in den Straßen allgegenwärtig, die Pubs waren rappelvoll, die Stimmung euphorisch und der Ohrwurm »Football’s Coming Home« von den Lightning Seeds schallte bei angenehm warmen Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad aus nahezu jedem Lautsprecher. Vor dem Halbfinale England vs. Germany lebte man als Deutscher jedoch gefährlich in London. Die Stimmung war aufgeheizt, die englischen Medien spielten verrückt: »For you Fritz, ze Euro 96 Championship is over!«, titelte der Daily Mirror. Darunter winkte Paul Gascoigne mit einem englischen Stahlhelm aus dem Zweiten Weltkrieg auf dem Kopf. Sicherheitshalber sah ich mir das Spiel bei Eves Familie an.
Harry und Lilly lebten mit ihren beiden Söhnen Charlie und James noch im alten Elternhaus von Eve in Leigh-on-Sea, einem kleinen malerischen Fischerdorf, das vierzig Meilen östlich von London in der Grafschaft Essex lag. Ich war schon öfter bei ihnen gewesen und verstand mich sehr gut mit allen. Sie waren eine klassische englische Mittelstandsfamilie: Der Vater entwarf Prototypen für Spielautos, die Mutter arbeitete halbtags als Verkäuferin in einem Modegeschäft, die beiden Söhne gingen noch zur Schule, auf der High Street, der Hauptgeschäftsstraße, blieb man bei nahezu jedem Passanten für einen kurzen Plausch stehen, die Hypothek für das mehrstöckige viktorianische Haus mit steilen Innentreppen und Erkerzimmer zur Straße hin würde in dreißig Jahren abbezahlt sein, die Großmutter trug exzentrische Hüte und trank am Wochenende gerne ein Glas Sekt zu viel, zum Frühstück gab es Bohnen mit Speck und Spiegeleiern und am Abend Gravy, eine dünnflüssige Bratensoße mit Kartoffeln, Fleisch und zu lange gegartem Gemüse, die — was viel über den kulinarischen Zustand auf der Insel verriet — ein Highlight in der britischen Küche zu sein schien.
Während Lilly und Eve, die sich beide nichts aus Fußball machten, ins Kino gegangen waren, schaute ich mir das Spiel mit den Jungs im Wohnzimmer an. Es war an Spannung kaum zu überbieten. Nach der Verlängerung stand es immer noch unentschieden. Das Elfmeterschießen musste entscheiden. Gareth Southgate verschoss. Und als Andreas Möller schließlich den entscheidenden Elfer verwandelte, sanken Harry und seine beiden Söhne von einer Sekunde auf die andere maßlos enttäuscht in sich zusammen. Um meine Zukunft in dieser Familie nicht zu gefährden, lief ich durch die Küche in den kleinen umzäunten Hintergarten und schrie erst dort: »Yes, yes, yes!«
Neben mir stand Eves schwarzer Kater George. George hatte eine Verhaltensstörung und rannte mitunter wie ein durchgeknallter Stier vom Garten aus gegen die Küchentür. Bei meinem letzten »Yes« sprintete er wieder los.
Das Finale sah ich mir in einem Pub mit ein paar Bekannten aus dem Studentenwohnheim im East End an. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren war, aber als Oliver Bierhoff im Mutterland des Fußballs das Golden Goal gegen Tschechien schoss, sprang ich von meinem Sitz, ballte die Faust und schrie: »The trophy is coming home!«
Es wurde mucksmäuschenstill um mich herum. Ich blickte in viele grimmige Gesichter und hatte Glück, dass ich nicht verprügelt wurde.
Im Osten Londons war man als Deutscher immer noch verhasst. Die flächendeckenden Bombardierungen der Luftwaffe während des Zweiten Weltkriegs auf die Wohnhäuser des East End waren nicht vergessen, und wenn ich mich in einem Pub als Deutscher outete, kam es nicht selten vor, dass man mich im tiefsten Cockney als »Fucking Nazi« beschimpfte. In Deutschland war ich der scheiß Ausländer, hier der verfickte Nazi. Ich kam damit zurecht und konnte ihre Wut und ihren Hass durchaus nachempfinden. Manchmal hatte ich aber auch keine Lust auf ihr dummes Nazigequatsche und sagte, dass ich halber Kroate und Bosnier sei, was ja auch stimmte. Dann wurde ich sofort, wahrscheinlich wegen der schrecklichen Bilder aus dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, mit Anteilnahme und Liebe überschüttet. Ich nahm es mit Galgenhumor und wechselte meine Identität je nach Belieben.
Das Studium an der Guildhall University war verschulter, pragmatischer und nicht darauf ausgerichtet, aus jedem Studenten einen intellektuellen Akademiker zu machen. Nach ein paar Monaten stellte ich fest, dass ich hier sogar, anders als ich gedacht hatte, den Abschluss schaffen könnte. In Deutschland betrug die Regelstudienzeit bis zum Diplom neun Semester, in England hingegen konnte man bereits nach drei Jahren den Bachelor erwerben. Ich sprach mit einigen Professoren, ließ mir meine Scheine aus den ersten zwei Jahren in München anerkennen, wurde ins dritte Jahr hochgestuft und bekam somit die Möglichkeit, am Ende des Studienjahres einen britischen Universitätsabschluss in den Händen zu halten.
Das Viertel, in dem ich wohnte, war von bengalischen Einwanderern geprägt, die Frauen trugen Kopftücher, die Männer lange Bärte, mittags wurden die Geschäfte für das Gebet in der Moschee geschlossen und die Straßenschilder waren mit englischen und bengalischen Schriftzeichen bedruckt. Das fand ich großartig: Während die Regierung unter Helmut Kohl den türkischen Gastarbeitern in Deutschland eine Rückkehrprämie angeboten hatte, um sie loszuwerden, scheuten sich die Briten nicht davor, ihre Straßenschilder auch in bengalischer Schrift auszuzeichnen.
In der Brick Lane, der bekanntesten Straße des Viertels, reihte sich ein bengalisches Curryrestaurant an das andere. Die preiswerten Samosas, mit Reis, Kartoffeln, Gemüse oder Fleisch frittierte Teigtaschen, wurden ebenso wie das Chicken Tikka Masala, ein erschwingliches Curryreisgericht aus gegrilltem mariniertem Hähnchenfleisch in einer würzigen Tomatensoße, zu zwei meiner Lieblingsspeisen. Am nördlichen Ende der Brick Lane stach eine Bäckerei inmitten all der bengalischen Restaurants hervor, die noch aus der Zeit stammte, als hier jüdische Immigranten wohnten. Die Beigel Bakery — jiddisch geschrieben — war vierundzwanzig Stunden an sieben Tagen die Woche geöffnet und hatte wie die Curryrestaurants weit über die Grenzen des East End hinaus einen Kultstatus. Die Preise für einen ofenfrischen Bagel waren für Londoner Verhältnisse unschlagbar. Auf dem Weg zur Uni kaufte ich mir jeden Morgen zum Frühstück den Cream Cheese Bagel with Salad für 65 Pence, und manchmal, wenn ich mit Eve und ein paar Freunden aus dem Wohnheim am Wochenende spät von einem Club nach Hause kam, gönnte ich mir — neben Polizisten, Rettungsdienstlern, Kleinkriminellen, Prostituierten und anderen Nachtschwärmern, die sich hier um vier Uhr morgens, wie es sich für Briten gehörte, gesittet in die lange Warteschlange einreihten — einen Salt Beef Bagel mit Senf und saurer Gurke für 1,45 Pfund. Es gab nichts Schöneres, als sich nach einer durchzechten Nacht das zarte Rindfleisch im Mund zergehen zu lassen.
Nach und nach erkundete ich die anderen Stadtteile, besuchte die legendären Jamsessions in den Clubs von Camden Town, staunte auf dem Brixton Market über das reichhaltige Angebot an karibischen Lebensmitteln, hörte mir im Speakers’ Corner am nordöstlichen Ende des Hyde Park die apokalyptischen Verschwörungstheorien einiger Spinner an, drängte mich in den Pubs von Soho an die Theke, stöberte bis spätnachts in den eleganten Buchläden auf der Charing Cross Road nach unbekannten Romanen, kaufte mir in Chinatown ein paar Glückskekse, spazierte sonntags mit Eve durch die Hügellandschaften des Hampstead Heath Parks und besuchte natürlich alle altehrwürdigen Stadien der Stadt, war an der White Heart Lane in Tottenham, bei Arsenal im Highbury, im Upton Park bei West Ham und an der Stamford Bridge in Chelsea. Die Stadien der Spurs und von Arsenal lagen, wie der Hampstead Heath Park, in der Nähe von Eves Wohnung. Wenn ich für ein Spiel oder über Nacht mit dem roten Doppeldeckerbus zu ihr fuhr, verwandelten sich die Moscheen vom East End allmählich in die Synagogen von Hackney. Vom oberen Busfenster aus sah ich, oft durch hinabrinnende Regentropfen getrübt, die orthodox-chassidischen Juden des Viertels mit ihren schwarzen Mänteln, großen dunklen Hüten, langen Bärten und Schläfenlocken unten auf der Straße von Geschäft zu Geschäft eilen. Ich erinnerte mich an die jüdischen Besucher vor unserem Haus in Rexingen. Bei der Fahrt durch Hackney schnürte mir der Gedanke daran, dass mein Vater ein Nazi gewesen war, die Kehle zu. Robert hätte London mit seinen vielen verschiedenen Religionen, Kulturen, Hautfarben und sexuellen Ausrichtungen wahrscheinlich gehasst. Ich hingegen verliebte mich Tag für Tag immer mehr in diesen urbanen Kosmos, in dem nahezu alles möglich zu sein schien.
Auch an der Uni lief es gut. Ich machte meine Scheine und wurde zum Abschluss zugelassen. Meine Bachelorarbeit schrieb ich über Amartya Sens vergleichende Analyse unterschiedlicher politischer Systeme am Beispiel der Bekämpfung von Hungerkatastrophen im demokratischen Indien und kommunistischen China. Ich schrammte knapp an der Bestnote vorbei und schloss mein Studium an der Guildhall University mit einem Upper Second Class Honours Degree ab.