Ein paar Wochen später, am 25. Januar 2021, erschien endlich mein Roman, nachdem der Verlag entschieden hatte, wegen der Corona-Pandemie die Veröffentlichung um ein paar Monate nach hinten zu verschieben. Meine Mutter spielte, wenn auch fiktionalisiert, keine unbedeutende Rolle in dem Buch und ich war mir nicht ganz sicher, wie sie auf einige Passagen reagieren würde. Um zu vermeiden, dass sie mich möglicherweise dazu drängen würde, das ein oder andere etwas abzuschwächen, hatte ich ihr, ebenso wie meinen deutschen Geschwistern, zu denen ich sowieso kaum Kontakt hatte, vorab nichts zu lesen gegeben. Ich wollte meine Geschichte so ungeschönt wie nur möglich erzählen. Alles andere wäre mir wie ein Verrat an meinem Leben und auch an meinem Schreiben vorgekommen.
Erst am Tag der Veröffentlichung schickte ich ihr das gebundene Buch nach Frankfurt. Diesmal ging alles glatt. Das Paket kam am nächsten Tag bei ihr an. Zwei Wochen später telefonierten wir.
Ihre Stimme klang heiter.
»Ich habe alles ganz langsam bis zur letzten Seite gelesen.«
»O. k., und was sagst du dazu?«
»Ich liebe dein Buch. Das hast du wunderschön gemacht.«
»Wirklich? Und das, obwohl du und Dušan nicht so gut dabei wegkommen?«
»Na ja, du hättest nicht so schlecht über Dušan schreiben sollen. Und das mit den Schlägen hättest du auch weglassen können.«
»Nein, Mama, das konnte ich nicht.«
»Ich musste beim Lesen sehr oft weinen.«
»Das kann ich verstehen. Was war denn das Schlimmste für dich?«
»Als ich verstanden habe, dass ich dich damals fast ganz verloren hätte. Die Szene, als Marianne mir damit droht, dich zu adoptieren. Das zu lesen hat mir beinahe mein Herz gebrochen.«
»Das war knapp, Mama. Aber wir sind ja immer noch zusammen.«
»Ja, das sind wir. Ich bin sehr stolz auf dich, mein Sohn. Das ist ein wunderschöner Roman geworden. Und ich schäme mich dafür, dass ich damals, als du Schriftsteller werden wolltest, nicht an dich geglaubt habe.«
»Ach, hör auf, Mama. Das ist doch alles Schnee von gestern. Außerdem hattest du ja recht: Ich war viel zu verkopft und verbissen, wollte den großen Wurf hinlegen, anstatt einfach nur eine gute Geschichte zu erzählen.«
Ich war bewegt davon, dass ihr das Buch so sehr gefiel. Sie war nicht gekränkt, relativierte nichts, ließ alles gelten. Ja mehr noch: In den folgenden Wochen erzählte sie mir, dass sie ihren Freundinnen Vera und Slavica, der Apothekerin Frau Schneiderhahn, deren Wohnung sie vor Corona noch geputzt hatte, ihrer Therapeutin Frau Roth und auch noch einigen anderen Bekannten mein Buch geschenkt hatte. Obwohl Dušan immer noch im Schrank klopfte, schien sie bei unseren Telefonaten gefestigter. Ich hegte sogar die leise Hoffnung, dass ihr die Auseinandersetzung mit dem Buch dabei geholfen hatte, ihre Vergangenheit ein Stück weit zu akzeptieren.
Der Roman, er hieß Das achte Kind, wurde in den Feuilletons sehr positiv besprochen. Darüber freute ich mich natürlich wahnsinnig. Bei den Behrens hingegen stieß er auf wenig Gegenliebe. Einer meiner Brüder warf mir vor, dass ich ein Nestbeschmutzer sei und unseren Vater in meinem Buch schamlos verraten hätte. Und eine meine Schwestern schrieb mir per SMS, dass ich undankbar sei und ohne Marianne und Robert, die mich doch als ausländisches Pflegekind wie ihren eigenen Sohn aufgenommen und großgezogen hatten, auf dem Bau oder in einer Fabrik gelandet wäre. Sie waren gekränkt und wütend. In den vielen Gesprächen, die wir führten, behaupteten sie immer, dass unser Vater nur ein harmloser Mitläufer gewesen sei. Sie blieben taub gegenüber meinen Argumenten, drohten mir gar, mich zu verklagen und gerichtlich gegen den Roman vorzugehen. Ich war mehr als nur enttäuscht von ihnen. Sie verschlossen die Augen vor der Realität und verharmlosten mal wieder alles. Nur von den Enkelkindern erhielt ich einige dankbare Mails. Endlich wussten sie, was ihr Großvater im Krieg getan und auch später noch gedacht hatte.