An einem viel zu kalten Spätsommermorgen rief mich Frau Roth an.

»Guten Tag, Herr Grabovac. Ich müsste dringend etwas mit Ihnen besprechen. Haben Sie kurz Zeit für mich?«

Dieser Anruf konnte nichts Gutes bedeuten. Ich schaltete meinen Rechner aus, nahm einen Schluck Kaffee und atmete tief durch.

»Natürlich. Was ist denn passiert?«

Frau Roths Stimme klang sachlich und einfühlsam zugleich.

»Der Zustand ihrer Mutter hat sich in den vergangenen Wochen erheblich verschlechtert. Das Klopfen im Schrank hat wieder stark zugenommen und auch in der Öffentlichkeit unterhält sie sich manchmal mit Dušan. Kürzlich wollte sie seinen Geist sogar schreiend mit ihrer Handtasche aus einem Kaufhaus vertreiben.«

Ich ließ mich entkräftet im Schreibtischstuhl zurückfallen.

»Es ist also wieder schlimmer geworden. Ich dachte, dass sie Fortschritte macht. Verdammt noch mal. Ich hätte genauer hinschauen sollen und mich mehr um sie kümmern müssen.«

»Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, Herr Grabovac. Sie haben genügend getan. Ich weiß aus den Sitzungen mit Ihrer Mutter, dass Sie ihr ungeachtet der schrecklichen Vorkommnisse in Ihrer Kindheit sehr nahestehen. Deswegen wende ich mich jetzt ja auch an Sie.«

Meine Schultern und mein Nacken begannen sich zu verspannen.

»Na gut, Frau Roth. Wie kann ich helfen? Sie haben mich bestimmt nicht nur angerufen, um mir zu sagen, dass es Mutter schlechter geht.«

»Da haben Sie recht. Hören Sie zu, Herr Grabovac: Ich habe mir von Ihrer Mutter eine Schweigepflichtentbindung unterschreiben lassen, weil ich denke, dass wir unverzüglich handeln müssen. Ich habe Ihre Mutter auch darüber informiert, dass ich Sie kontaktieren werde. Dieses Telefonat findet mit der ausdrücklichen Zustimmung Ihrer Mutter statt.«

»Sie machen mir Angst. Wie schlimm ist es um Mutter bestellt?«

»Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir bekommen das schon hin. Wie bereits erwähnt, hat sich der körperliche und psychische Zustand Ihrer Mutter erheblich verschlechtert. Es gibt da allerdings noch etwas anderes, das mich beunruhigt. In den letzten zwei Sitzungen hat Ihre Mutter angedeutet, einen Exorzisten aufsuchen zu wollen.«

Meine Handflächen begannen zu schwitzen.

»Einen Exorzisten? Das kann nicht sein. So etwas gibt es doch nur noch in Filmen. Das meinen Sie jetzt nicht ernst.«

Frau Roths Stimme blieb ruhig und gefasst.

»Doch, Herr Grabovac. Es scheint sich um einen Exorzisten der katholischen Kirche zu handeln. Ich habe keine Ahnung, wie sie auf diesen Gedanken gekommen ist. Sie sagte jedenfalls, dass ihr die Tabletten und die Therapie nicht mehr helfen würden. Der Exorzist sei ihre letzte Chance auf Heilung. Denn nur dieser könne Dušans Geist aus ihrer Seele vertreiben.«

»Das ist doch verrückt. Gut, ja, sie hat diese spirituellen Anwandlungen und ist auch eine Zeit lang zu diesem Wunderheiler Braco gefahren. Aber das war ja noch harmlos. Ein Exorzist ist doch eine ganz andere Sache. Das kann sie nicht machen.«

»Sie scheint diesen Schritt jedenfalls ernsthaft in Erwägung zu ziehen.«

Ich wippte nervös mit den Beinen.

»Das war bestimmt die Idee von diesem verfluchten katholischen Priester aus der kroatischen Gemeinde, der ihre Wohnung für einen Haufen Geld schon zweimal gesegnet hat. Die Kirche saugt die Menschen aus, anstatt ihnen zu helfen. Will dieser Mistkerl Mutter jetzt schreiend mit einem Kreuz ans Bett fesseln?«

»Ganz ruhig, Herr Grabovac. Sie müssen nicht gleich die gesamte Kirche verdammen. Der Glaube an Gott kann durchaus, zum Beispiel im Gefühl der Geborgenheit beim gemeinsamen Gebet, eine stabilisierende und mitunter auch heilsame Wirkung entwickeln. Ebenso halte ich es für unwahrscheinlich, dass man in der katholischen Kirche die Menschen noch wie im Mittelalter ans Bett fesselt. Dennoch halte ich absolut nichts von einer vermeintlichen Teufelsaustreibung und denke, dass wir Ihrer Mutter diese traumatische Erfahrung ersparen sollten. Ich schlage Ihnen deshalb vor, Ihre Mutter stationär in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Ich spreche hier nicht von einer geschlossenen Abteilung. Dazu besteht noch keine Veranlassung. Allerdings erreiche ich Ihre Mutter kaum mehr. Sie ist überzeugt davon, dass das Klopfen im Schrank real ist. Sie leidet inzwischen täglich unter ihren Wahnvorstellungen und sucht deshalb nach fragwürdigen Auswegen.«

Mir wurde ein wenig schwindelig.

»Dass es so weit kommen musste. Wir haben doch alles versucht. Nichts hat geholfen und jetzt denkt sie auch noch an einen Exorzisten. So kann es auf keinen Fall mehr weitergehen. Wahrscheinlich bleibt uns nichts anderes übrig. Ja, Frau Roth, ich denke auch, dass wir sie vor sich selbst schützen müssen.«

»Dann sollten wir das jetzt zügig in Angriff nehmen. Ich bin mir durchaus im Klaren darüber, wie schwer es Ihnen fallen muss, diesen Schritt mitzutragen. Aber es ist die einzig richtige Entscheidung. Ihre Mutter benötigt in ihrem aktuellen Zustand eine umfangreiche Behandlung, die weder ihr Hausarzt noch ich ihr bieten können. Allerdings gibt es da noch ein Problem. Ihre Mutter hat mir gesagt, dass sie unter keinen Umständen in eine Klinik möchte. Versuchen Sie bitte, sie davon zu überzeugen, dass es nichts Verwerfliches ist, Hilfe in einer psychiatrischen Einrichtung in Anspruch zu nehmen. Reden Sie mit ihr, nehmen Sie ihr die Angst davor, was sie in der Klinik erwarten wird, schauen Sie sich gegebenenfalls im Internet einige Erfahrungsberichte von Patienten an und sagen Sie ihr, dass sie jederzeit, falls sie das wünscht, wieder nach Hause gehen kann. Es ist wichtig, dass sie einsieht, dass man sie dort weder manipulieren noch mit Medikamenten ruhigstellen möchte. Sie braucht ganz einfach einen Ort der Erholung und professionelle Hilfe, um wieder zu sich zu kommen.«

»Ja, natürlich. Ich werde es jedenfalls versuchen. Wie lange müsste sie denn, falls sie zustimmt, auf einen Platz in der Klinik warten?«

»Bei akuten Wahnvorstellungen können wir das innerhalb weniger Tage ermöglichen. Ich habe einen ganz guten Kontakt zu einer Klinik im Taunus, die man von Frankfurt aus mit der U-Bahn erreichen kann. Die Klinik heißt Hohe Mark. Im Internet können Sie sich, vielleicht sogar schon gemeinsam mit Ihrer Mutter, die dortigen Behandlungsansätze und Therapieangebote in aller Ruhe durchlesen und besprechen. Die Klinik hat einen sehr guten Ruf. Falls Sie das möchten, könnte ich dort schon mal anfragen, ob sie noch freie Plätze haben.«

»Machen Sie das bitte, Frau Roth. Ich muss hier noch ein paar Dinge erledigen, denke aber, dass ich noch heute Abend zu Mutter nach Frankfurt fahren kann. Mal schauen, wie sie auf all das reagieren wird. Sobald ich mehr weiß, rufe ich Sie an.«

»Tun Sie das, Herr Grabovac.«